Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Selma LagerlöfЧитать онлайн книгу.
er das für eine große Ehre hielt, verursachte es ihm doch viel Angst, denn Herr Ermenrich war ein Meister im Fliegen und flog mit ganz andrer Eile davon als die Wildgänse. Während Akka mit gleichmäßigen Flügelschlägen immer geradeaus flog, vergnügte sich der Storch mit einer Menge Flugkünste. Bald lag er in unermeßlicher Höhe ganz still da und schwebte durch die Luft, ohne die Flügel zu bewegen, bald ließ er sich mit solcher Eile hinabsinken, daß es aussah, als stürze er hilflos wie ein Stein auf die Erde hinunter, bald flog er zu seinem Vergnügen in großen und kleinen Kreisen wie ein Wirbelwind um Akka herum. Der Junge hatte noch nie so etwas erlebt, und obgleich er beständig von Angst erfüllt war, mußte er im stillen doch anerkennen, daß er früher nicht gewußt hatte, was man gut fliegen heißt.
Nur ein einziges Mal wurde während der Reise angehalten, das war, als Akka sich mit ihren Reisegefährten am Vombsee vereinigte und ihnen zurief, daß die grauen Ratten besiegt worden seien. Dann flogen alle miteinander geraden Wegs nach dem Kullaberg.
Hier ließen sie sich oben auf dem Hügel nieder, der den Wildgänsen aufgehoben war; und als jetzt der Junge die Blicke von Hügel zu Hügel wandern ließ, sah er, daß auf dem einen das vielzackige Geweih der Edelhirsche und auf einem andern die Nackenbüsche der grauen Habichte aufragten. Ein Hügel war rot von Füchsen, ein andrer schwarz und weiß von Seevögeln, einer grau von Ratten. Einer war mit schwarzen Raben besetzt, die unaufhörlich schrieen, einer mit Lerchen, die nicht imstande waren, sich ruhig zu verhalten, sondern immer wieder in die Luft hinaufstiegen und vor Freude jubilierten.
Wie es von jeher Sitte auf dem Kullaberg ist, begannen die Krähen die Spiele und Vorstellungen des Tages mit einem Flugtanz. Sie teilten sich in zwei Scharen, die aufeinander zuflogen, sich trafen, dann umwendeten und aufs neue begannen. Dieser Tanz hatte viele Runden und kam den Zuschauern, wenn sie die Tanzregeln nicht kannten, etwas zu einförmig vor. Die Krähen waren sehr stolz auf ihren Tanz, aber alle andern Tiere waren froh, als er zu Ende war. Er kam ihnen ebenso düster und sinnlos vor, wie das Spiel des Wintersturmes mit den Schneeflocken. Sie wurden schon vom Ansehen ganz niedergedrückt und warteten eifrig auf etwas, das sie ein bißchen froh stimmen würde.
Sie brauchten auch nicht vergeblich zu warten, denn sobald die Krähen fertig waren, kamen die Hasen dahergesprungen. In einer langen Reihe, ohne besondre Ordnung strömten sie herbei. Dazwischen kam einer ganz allein, dann wieder drei oder vier in einer Reihe. Alle hatten sich auf die Hinterläufe aufgerichtet, und sie stürmten so schnell vorwärts, daß ihre langen Ohren nach allen Seiten schwankten. Während des Springens drehten sie sich im Kreise herum, machten hohe Sätze und schlugen sich mit den Vorderpfoten gegen die Rippen, daß es knallte. Einige schlugen viele Purzelbäume hintereinander, andre kugelten sich zusammen und rollten wie Räder vorwärts, einer stand auf einem Lauf und schwang sich im Kreise, ein andrer ging auf den Vorderpfoten. Es war durchaus keine Ordnung da, aber es war viel Aufregung bei diesem Spiel der Hasen, und die vielen Tiere, die zusahen, begannen schneller zu atmen. Jetzt war es Frühling. Lust und Freude waren im Anzug. Der Winter war vorüber, der Sommer nahte. Bald war das Leben nur noch ein Spiel!
Als die Hasen ausgetobt hatten, war die Reihe des Auftretens an den großen Vögeln des Waldes. Hunderte von Auerhähnen in glänzend schwarzem Staat und mit hellroten Augenbrauen warfen sich auf eine große Eiche, die mitten auf dem Spielplatz stand. Der Auerhahn, der auf dem obersten Zweig saß, blies die Federn auf, ließ die Flügel hängen und streckte den Schwanz in die Höhe, so daß die weißen Deckfedern sichtbar wurden. Hierauf streckte er den Hals vor und stieß ein paar Töne aus dem verdickten Hals heraus. „Tjäck, tjäck, tjäck!“ klang es. Mehr konnte er nicht herausbringen, es gluckste nur mehrere Male tief drunten in seiner Kehle. Dann schloß er die Augen und flüsterte: „Sis, sis, sis – hört wie schön! Sis, sis, sis!“ Und zugleich verfiel er in solche Verzückung, daß er nicht mehr wußte, was rings um ihn her geschah.
Während der erste Auerhahn noch mit seinem sis, sis fortfuhr, fingen die drei, die am nächsten unter ihm saßen, zu balzen an, und ehe sie die ganze Weise durchgebalzt hatten, begannen die zehn, die etwas weiter unten saßen; und so ging es von Zweig zu Zweig, bis alle die Hunderte von Auerhähnen balzten und glucksten und sisisten. Sie fielen alle in dieselbe Verzückung während ihres Gesanges, und gerade das wirkte auf die andern Tiere wie ein ansteckender Rausch. Das Blut war ihnen vorhin lustig und leicht durch die Adern geflossen, jetzt begann es schwer und heiß zu wallen. „Ja, es ist sicherlich Frühling,“ dachten die vielen Tiervölker. „Die Winterkälte ist verschwunden, das Feuer des Frühlings ist auf der Erde angezündet.“
Als die Birkhühner merkten, daß die Auerhähne so großen Erfolg hatten, konnten sie sich nicht mehr still verhalten. Da kein Baum da war, wo sie Platz gehabt hätten, stürmten sie auf den Spielplatz hinunter, wo das Heidekraut so hoch stand, daß nur ihre schön geschwungenen Schwanzfedern und ihre dicken Schnäbel hervorsahen, und begannen zu singen: „Orr, orr, orr!“
Gerade als die Birkhühner mit den Auerhähnen zu wetteifern begannen, geschah etwas Unerhörtes. Während alle Tiere an nichts andres dachten als an das Spiel der Auerhähne, schlich sich ein Fuchs ganz leise an den Hügel der Wildgänse heran. Er ging sehr vorsichtig und kam weit auf den Hügel hinauf, bevor ihn jemand bemerkte. Plötzlich entdeckte ihn doch eine Gans, und da sie sich nicht denken konnte, daß sich der Fuchs in guter Absicht zwischen die Gänse hineingeschlichen hätte, rief sie schnell: „Wildgänse, nehmt euch in acht! Nehmt euch in acht!“ Der Fuchs packte sie am Halse, vielleicht hauptsächlich um sie zum Schweigen zu bringen, aber die Wildgänse hatten den Ruf schon vernommen und hoben sich in die Luft empor. Und als sie aufgeflogen waren, sahen alle Tiere den Fuchs Smirre mit einer toten Gans im Maule auf dem Hügel der wilden Gänse stehen.
Aber weil er also den Frieden des Spieltages gebrochen hatte, wurde schwere Strafe über Smirre verhängt, so daß er sein ganzes Leben lang bereuen mußte, daß er seine Rachgier nicht hatte unterdrücken können, sondern es versucht hatte, auf diese Weise Akka und ihrer Schar zu nahe zu kommen. Schnell wurde er von einer Schar Füchse umringt und alter Sitte gemäß verurteilt. Der Urteilsspruch aber lautet: „Wer immer den Frieden des großen Spieltages bricht, wird des Landes verwiesen.“ Kein Fuchs wollte das Urteil mildern, denn sie wußten alle, sobald sie etwas derartiges versuchten, würden sie in demselben Augenblick vom Spielplatz verjagt und ihnen nicht erlaubt werden, ihn je wieder zu betreten. Also wurde das Verbannungsurteil ohne Widerspruch Smirre kundgetan. Es wurde ihm untersagt, in Schonen zu verbleiben. Er wurde von seiner Frau und von seinen Verwandten geschieden, von Jagdrevier, Wohnung und von den Schlupfwinkeln, die er bisher zu eigen gehabt hatte, und mußte sein Glück in der Fremde versuchen. Und damit alle Füchse in Schonen wissen sollten, daß Smirre in dieser Landschaft vogelfrei war, biß ihm der älteste von den Füchsen die Spitze seines rechten Ohrs ab. Sobald dies getan war, begannen die jungen Füchse blutdürstig zu heulen und sich auf Smirre zu werfen. Es blieb ihm nichts andres übrig, als die Flucht zu ergreifen, und mit allen jungen Füchsen an den Fersen rannte er vom Kullaberg fort.
Alles das geschah, während die Birkhühner und die Auerhähne miteinander wetteiferten. Aber diese Vögel vertiefen sich in solchem Grade in ihren Gesang, daß sie weder hören noch sehen, und sie hätten sich auch gar nicht stören lassen.
Kaum war der Wettstreit der Waldvögel beendet, als die Edelhirsche von Häckeberga vortraten, ihr Kampfspiel zu zeigen. Mehrere Paare Edelhirsche kämpften zu gleicher Zeit. Sie stürzten mit großer Kraft aufeinander los, schlugen donnernd mit den Geweihen zusammen, so daß sich deren Stangen ineinander flochten, und einer versuchte den andern zurückzudrängen. Heidekrautbüschel flogen unter ihren Hufen auf, der Atem stand ihnen wie Rauch vor dem Maule, aus ihrer Kehle drang unheimliches Gebrüll, und der Schaum floß ihnen am Bug hinunter.
Ringsum auf den Hügeln herrschte atemlose Stille, während die streitkundigen Hirsche im Treffen waren, und bei allen Tieren regten sich neue Gefühle. Alle und jedes einzelne fühlten sich mutig und stark, voll wiederkehrender Kraft, vom Frühling neu geboren, hurtig zu jeder Art Abenteuer bereit. Sie fühlten keinen Zorn gegeneinander, doch hoben sich überall Flügel, Nackenfedern sträubten sich und Krallen wurden gewetzt. Wenn die Hirsche von Häckeberga noch einen Augenblick weitergekämpft hätten, würde auf allen Hügeln ein wilder Kampf entbrannt sein, weil bei allen Tieren ein brennender Eifer um sich gegriffen hatte, zu zeigen,