Giganten. Ernst HofackerЧитать онлайн книгу.
Am Ende des Jahres, das international durch das allmählich einsetzende Tauwetter von Gorbatschows Glasnost und hierzulande durch die unrühmliche Barschel-Affäre geprägt wurde, hat Bob Dylan in der Tat »fertig«: Hinter ihm liegen eine 18 Monate währende Welttournee mit Tom Petty & The Heartbreakers sowie eine Konzertreise, die er mit den Althippies von Grateful Dead absolviert hat. Auch dem wohlwollendsten Fan dürfte bei dieser nur sechs Konzerte umfassenden Dead-Tour aufgefallen sein, wie lustlos, geradezu apathisch Dylan sich phasenweise durch die Sets geleiert hat – dokumentiert auf dem wenig aufregenden Album Dylan & The Dead (1989). Nicht viel besser hat er sich auf der Petty-Tournee präsentiert. Zumindest empfand dies ein Großteil des Publikums. Bei gedimmtem Licht bot er irritierende, mitunter fast wie absichtlich vermurkst klingende Interpretationen seiner Klassiker – und verlor bei all diesen Konzerten zwischen den Songs nicht ein einziges Wort. Die ihn begleitenden Heartbreakers konnten da kaum etwas retten. Die vielerorts enttäuscht abwandernden Zuschauer hatten den Eindruck, dass hier einer nicht wirklich mit Freude dabei war – Dylan, der Miesepeter.
Auch seine Alben leiden nach Infidels (1983) unter, gelinde gesagt, schwankender Qualität. Kann Empire Burlesque (1985) noch überzeugen – jedenfalls mit Abstrichen –, so enttäuscht Knocked Out Loaded (1987) mit schwachen Ideen und einer eigenwilligen Songauswahl, die Material aus verschiedensten Sessions versammelt. Dazu schielt die Produktion halbherzig auf den Zeitgeist und sucht mangelnde Substanz unter Plüsch und Plunder zu verbergen. Auch das im Frühling 1988 eingespielte Down In The Groove macht keine Ausnahme. Mit nur vier Eigenkompositionen zählt es zu den schwächsten Arbeiten in Dylans langer Karriere.
Er selbst sieht das ganz genau so. In seiner Autobiografie berichtet er: »Ich fühlte mich erledigt, war ein ausgebranntes Wrack. In meinem Kopf rauschte es zu laut, und ich konnte es nicht abstellen. Wo ich auch hingehe, bin ich ein Troubadour der Sechziger, ein Folkrock-Relikt, ein Verseschmied aus vergangenen Tagen, ein fiktives Staatsoberhaupt aus einem Land, das keiner kennt.« Dieser Bob Dylan, sein Mythos, sein Ruhm, seine Legende haben den Künstler Robert A. Zimmerman offenbar unter sich begraben. Und dem ist lange schon klar, dass dies seinen Fans ziemlich wurscht ist. Schon 1974, als er zum ersten Mal nach den Heldentaten der Sechzigerjahre mit The Band auf Tournee ging, haben sie ihn gescholten, weil er nicht brav den romantischen Bänkelsänger der Folk-Ära respektive den rebellischen Bilderstürmer der Blonde-On-Blonde-Jahre mimte. Gab es nicht schon damals vereinzelte Buhrufe, weil er seine Klassiker rücksichtslos zu entstauben wagte, statt die eigene Legende feierlich in nostalgische Sepia-Farben zu tauchen? Spätestens seit diesem denkwürdigen Jahr hatte sich zu Dylan-Konzerten immer eine Menschenmasse eingefunden, die lieber in der eigenen Vergangenheit schwelgen wollte, als dem Sänger das Recht einzuräumen, sein Werk neu zu deuten.
Dabei war er doch nur ein »song and dance man«, wie er es bei einer Pressekonferenz schon in den Sechzigern verkündet hatte, eher Hofnarr jenes Aufbruchs als dessen Spiritus Rector. Vordergründig mochte das scherzhaft geklungen haben, und doch war es die Wahrheit. Seine jedenfalls. Verstanden hatte das damals keiner. Und auch später nur die Wenigsten.
Nun, in den Achtzigern, ahnt er, dass mehr nötig sein würde als nur ein neuerlicher Haken, mit dem er Markt, Medien und Publikum verwirren könnte. Er muss sich selbst, den Robert Zimmerman aus Hibbing, Minnesota, ein für allemal abkoppeln vom Mythos Bob Dylan, den er ohnehin nur noch mit ungesunden Mengen Alkohol erträgt. Er muss den Messias der längst sakrosankten Pop-Revolution exorzieren. Und er muss sich ein gänzlich neues Publikum suchen. Dazu erklärt er in Chronicles: »Ich brauchte ein neues Publikum, weil mein damaliges mehr oder weniger mit meinen Platten aufgewachsen war und mich nicht mehr als neuen Musiker akzeptieren konnte, was verständlich war. In vieler Hinsicht hatte dieses Publikum seinen Zenit überschritten, und seine Reflexe waren hinüber. Sie wollten nicht teilnehmen, sondern zuschauen. Das war okay, aber das Publikum, das mich entdecken sollte, musste eines sein, das nichts von gestern wusste.«
Er zieht die Konsequenzen: Schluss mit der ewigen Mühle aus mehr oder weniger zeitgemäßen Albumproduktionen, anschließender Promotionarbeit mit Interviews und darauffolgender, aufwändiger Tournee. Nichts davon. Statt dessen: alles eine Nummer kleiner. Kein Zeitdruck mehr, Tourneen lieber in Clubs und Hallen, mit kleiner Bandbesetzung sowie auf das Nötigste beschränkter Produktion. Und: keine Interviews mehr! Warum sich offenbaren, wenn das Werk den Künstler doch auf der Bühne hinreichend erklärt? In Sachen Publikum hat er schnell einen Masterplan: »Ich rechnete mit drei Jahren, weil ich dachte, dass sich nach dem ersten Jahr viele ältere Leute ausklinken, aber jüngere Fans im zweiten Jahr ihre Freunde mitbringen würden, so dass es unterm Strich gleich viele bleiben«, so spekulierte er. »Und die würden im dritten Jahr wiederum ihre Freunde mitbringen und gemeinsam die Keimzelle meines zukünftigen Publikums bilden.«
Wobei Dylan nach durchwachsenen Alben und durchaus angeschlagener Reputation auch seinen Marktwert in den Achtzigern realistisch einschätzt: »In Wirklichkeit war ich gerade gut genug für Club-Konzerte. Ich konnte kaum kleinere Hallen füllen.« In der Tat, bei allem Ruhm der überlebensgroßen Legende – das Rock- und Pop-Publikum der Achtzigerjahre verehrt längst andere Helden als den inzwischen 46-jährigen Schöpfer von Like A Rolling Stone. Im Frühling 1988, kurz nach den Aufnahmen zum launigen Allstar-Treffen Traveling Wilburys (1989, mit Tom Petty, George Harrison, Jeff Lynne und Roy Orbison), beginnt Dylan in New York mit den Proben zur sogenannten Interstate 88-Tour, die ihn anlässlich der Veröffentlichung von Down In The Groove bis Ende des Jahres kreuz und quer durch die USA führen soll. Die angeheuerte Tourband ist tatsächlich so klein wie noch nie, sie besteht aus nur drei Musikern: G. E. Smith an der Gitarre, Marshall Crenshaw, in den Achtzigern selbst erfolgreicher Songwriter und Solokünstler, am Bass sowie Schlagzeuger Christopher Parker. Zusammengestellt hat die Band nicht Dylan selbst, sondern sein alter Weggefährte Elliott Roberts. Kurz vor dem Tourstart wird Crenshaw durch Kenny Aaronsson ersetzt. Am 7. Juni ist es soweit: Als Dylan mit seinem Trio die Bühne des Concord Pavillon in Concord, Kalifornien, betritt und mit dem Opener Subterranean Homesick Blues den ersten von 13 Songs dieses Abends spielt, ist das der Beginn von etwas, das bis heute nicht endete.
Schon die Setlist jenes denkwürdigen Konzerts in Concord spricht Bände: Kein einziger Song des (zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten) neuen Albums Down In The Groove wird gespielt. Lediglich Drifting Too Far From Shore ist im Programm, ein Albumtrack von Knocked Out Loaded und auf der B-Seite der just erschienenen Single Silvio veröffentlicht. Der Rest: ausnahmslos Klassiker, darunter Masters Of War, Like A Rolling Stone, Maggie’s Farm und Boots Of Spanish Leather. Das Material wird in strammen Arrangements präsentiert, ohne Backgroundsängerinnen und ohne zusätzliche Instrumentalisten (lediglich Neil Young steuert als Gast bei zwei Songs seine einzigartige Gitarre bei). Dylan macht Ernst, stellt sich seinen Songs und verzichtet auf die lustlose Verhunzung des eigenen Mythos. Stattdessen greift er beherzt in seine riesige Repertoire-Kiste und förderte daraus zutage, was ihm gerade in den Sinn kommt. Er nimmt die Songs, die eigentlich unantastbaren, wirft sie sich selbst und seinen Begleitern zum Fraß vor und lässt bewusst offen, was daraus werden würde. Kein Wunder also, dass bei den insgesamt 71 Konzerten dieser ersten Etappe der Never Ending Tour 92 Titel zu Live-Ehren kommen.
Bei den ersten Gigs spielt sich die Band frei, rockt rau und hemdsärmelig und verpasst den Stücken eine kräftige Energie-Dosis. In der Regel verlaufen die Abende nach folgendem Muster: ein halbes Dutzend Stücke mit Band, dann ein kurzer, zwei bis drei Songs umfassendes Akustikset, bei dem sich Dylan von G. E. Smith begleiten lässt, und abschließend ein elektrisches Finale mit noch einmal vier bis fünf Songs.
Das Projekt lässt sich gut an. Der Altmeister scheint zufrieden, er hat sich offenbar am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Wie wichtig es Dylan mit dem Entschluss ist, kontinuierlich über das ganze Jahr hinweg Konzerte zu geben, lässt sich aus einem Detail in den Verträgen seiner Begleitmusiker ersehen: Darin ist geregelt, dass der Unterzeichner an mindestens 280 Tagen im Jahr für Konzerte zur Verfügung stehen muss. Zum Vergleich: Ein Kalenderjahr hat durchschnittlich 250 Arbeitstage – minus Urlaubsanspruch.
Für 1989 nimmt sich Dylan denn auch jede Menge vor. Im Frühling tourt er durch Europa und setzt das Ganze im Sommer in den USA fort, wo er mit nur kurzen Unterbrechungen bis Mitte November unterwegs ist. Die Jahresbilanz umfasst 99 Shows. Damit nicht genug, auch auf dem Plattenmarkt