Aristoteles: Nikomachische Ethik. AristotelesЧитать онлайн книгу.
das Zielgut der Staatskunst bezeichnen muß, und welches im Gebiete des Handelns das höchste Gut ist. Im Namen stimmen hier wohl die meisten überein: Glückseligkeit11 nennen es die Menge und die feineren Köpfe, und dabei gilt ihnen gut leben und sich gut gehaben12 mit glückselig sein als eins. Was aber die Glückseligkeit sein soll, darüber entzweit man sich, und die Menge erklärt sie ganz anders als die Weisen. Die einen erklären sie für etwas Greifbares und Sichtbares wie Lust, Reichtum und Ehre, andere für etwas anderes, mitunter auch dieselben Leute bald für dies bald für das: der Kranke für Gesundheit, der Notleidende für Reichtum, und wer seine Unwissenheit fühlt, bewundert solche, die große, seine Fassungskraft übersteigende Dinge vortragen. Einige dagegen meinten, daß neben den vielen sichtbaren Gütern ein Gut an sich bestehe, das auch für alle diesseitigen Güter die Ursache ihrer Güte sei.
Alle diese Meinungen zu prüfen dürfte der Mühe nicht verlohnen; es wird genügen, wenn wir uns auf die gangbarsten und diejenigen, die einigermaßen begründet erscheinen, beschränken.
Wir müssen hierbei vor Augen halten, daß ein grosser Unterschied ist zwischen den Erörterungen, die von den Principien ausgehen, und denen, die zu ihnen aufsteigen. Das war ja die Frage, welche auch Plato13 mit Recht aufwarf und untersuchte, ob der Weg von den Principien aus- oder zu ihnen hingehe, ähnlich wie man in der (1095b) Rennbahn von den Preisrichtern nach dem Ziele läuft oder umgekehrt. Man muß also ohne Zweifel mit dem Bekannten anfangen; dieses ist aber zweifach: es gibt ein Bekanntes für uns und ein Bekanntes schlechthin. Wir nun werden wohl mit dem für uns Bekannten anfangen müssen. Deshalb muß man eine gute Charakterbildung bereits mitbringen, um die Vorträge über das sittlich Gute und das Gerechte, überhaupt über die das staatliche Leben betreffenden Dinge, in ersprießlicher Weise zu hören. Denn wir gehen hier von dem »Daß« aus, und ist dieses hinreichend erklärt, so bedarf es keines »Darum« mehr. Wer nun so geartet ist, der kennt entweder die Principien schon oder kann sie doch leicht erlernen14. Bei wem aber weder das eine noch das andere gilt, der höre, was Hesiod15 sagt:
Der ist von allen der Beste, der selber jegliches findet.
Aber auch jener ist tüchtig, der guter Lehre Gehör gibt.
Wer aber selbst nichts erkennt, noch fremden Zuspruch bedächtig
Bei sich erwägt, der ist wohl unnütz unter den Menschen.
Drittes Kapitel.
Wir aber wollen den Punkt erörtern, von dem wir abgeschweift sind.
Nimmt man die verschiedenen Lebensweisen in Betracht, so scheint es einmal nicht grundlos, wenn die Menge, die rohen Naturen, das höchste Gut und das wahre Glück in die Lust setzen und darum auch dem Genußleben fröhnen. Drei Lebensweisen sind es nämlich besonders, die vor den anderen hervortreten: das Leben, das wir eben genannt haben, dann das politische Leben und endlich das Leben der philosophischen Betrachtung. Die Menge nun zeigt sich ganz knechtisch gesinnt, indem sie dem Leben des Viehes den Vorzug gibt, und doch kann sie zu einiger Rechtfertigung anführen, daß viele von den Hochmögenden die Geschmacksrichtung des Sardanapal teilen.
Die edeln und tatenfrohen Naturen ziehen die Ehre vor, die man ja wohl als das Ziel des öffentlichen Lebens bezeichnen darf. Indessen möchte die Ehre doch etwas zu oberflächliches sein, als daß sie für das gesuchte höchste Gut des Menschen gelten könnte. Scheint sie doch mehr in den Ehrenden als in dem Geehrten zu sein. Vom höchsten Gute aber machen wir uns die Vorstellung, daß es dem Menschen innerlich eigen ist und nicht so leicht verloren geht. Auch scheint man die Ehre zu suchen, um sich selbst für gut halten zu können. Denn man sucht seitens der Einsichtigen und derer, die einen kennen, geehrt zu werden, und zwar um der Tugend willen. So muß denn, falls ein solches Verhalten etwas beweist, die Tugend das Bessere sein. Nun könnte man ja vielmehr diese für das Ziel des Lebens in der staatlichen Gemeinschaft ansehen. Aber auch sie erscheint als ungenügend. Man kann scheints auch schlafen, während man die Tugend besitzt, oder sein Leben lang keine Tätigkeit ausüben und dazu noch die größten (1096a) Übel und Mißgeschicke zu erdulden haben, und wem ein solches Lebenslos beschieden ist, den wird niemand glücklich nennen, außer um eben nur seine Behauptung zu retten. Doch genug hiervon; diese Sache ist ja bereits in den encyklischen Schriften16 hinreichend besprochen worden.
Die dritte Lebensweise ist die theoretische oder die betrachtende; sie wird uns in einem späteren Abschnitte beschäftigen.
Das auf Gelderwerb gerichtete Leben hat etwas Unnatürliches und Gezwungenes an sich, und der Reichtum ist das gesuchte Gut offenbar nicht. Denn er ist nur für die Verwendung da und nur Mittel zum Zweck. Eher könnte man sich deshalb für die vorhin genannten Ziele entscheiden, da sie wegen ihrer selbst geschätzt werden. Aber auch sie scheinen nicht das rechte zu sein, so viel man auch schon zu ihren Gunsten gesagt hat. So sei denn diese Frage verabschiedet.
Viertes Kapitel.
Besser ist es vielleicht auf das Universelle das Augenmerk zu richten und die Frage zu erörtern, wie dasselbe gemeint ist. Freilich fällt uns diese Untersuchung schwer, da befreundete Männer die Ideen eingeführt haben. Es dürfte aber vielleicht besser, ja Pflicht zu sein scheinen, zur Rettung der Wahrheit auch der eigenen Meinungen nicht zu schonen, zumal da wir Philosophen sind. Denn da beide uns lieb sind, ist es doch heilige Pflicht, die Wahrheit höher zu achten17.
Diejenigen nun, welche diese Lehre aufgebracht haben, haben überall da keine Ideen angenommen, wo sie von einem Früher und Später redeten, daher sie auch für die Gesamtheit der Zahlen keine Idee aufgestellt haben. Nun steht aber das Gute sowohl in der Kategorie der Wesenheit als in der der Qualität und der Relation. Das »An-sich« aber und die Wesenheit ist von Natur früher als die Relation. Denn diese gleicht einem Nebenschößling und einem Zubehör des Seienden. Folglich kann für diese Kategorien eine gemeinsame Idee nicht bestehen.
Da ferner das Gute in gleich vielen Bedeutungen mit dem Seienden ausgesagt wird (denn es steht in der Kategorie der Substanz, z. B. Gott, Verstand, in der der Qualität: die Tugenden, der Quantität: das rechte Maß, der Relation: das Brauchbare, der Zeit: der rechte Moment, des Ortes: der Erholungsaufenthalt u. s. w.), so gibt es offenbar kein Allgemeines, das gemeinsam und eines wäre. Denn dann würde man von ihm nicht in allen Kategorien, sondern nur in einer sprechen.
Ferner, da es von dem zu einer Idee Gehörigen auch nur eine Wissenschaft gibt, so wäre auch nur eine Wissenschaft von allem Guten. Nun aber sind ihrer viele, selbst von dem unter einer Kategorie Stehenden. So ist die Wissenschaft des rechten Moments im Kriege die Feldherrnkunst, in der Krankheit die Heilkunst, und die Wissenschaft des rechten Maßes bei der Nahrung die Heilkunst, bei den leiblichen Anstrengungen die Gymnastik.
Man könnte aber auch fragen, was sie mit jenem »An-sich«, das sie zu allem hinzusetzen, eigentlich meinen, da (1096b) doch in dem Menschen an sich und dem Menschen ein und derselbe Begriff wiederkehrt, der des Menschen. Insofern beide Mensch sind, können sie nicht unterschieden sein. Dann gilt aber das gleiche für das Gute an sich und das Gute. Auch wird jenes Gute an sich nicht etwa darum in höherem Sinne gut sein, weil es ewig ist. Ist doch auch, was lange besteht, deshalb nicht weißer, als was nur einen Tag besteht.
Annehmbarer erscheint hier die Theorie der Pythagoreer, die das Eins in die Reihe der Güter stellen. Ihnen mag auch Speusipp gefolgt sein. Doch hiervon muß anderswo gehandelt werden.
Gegen das Gesagte könnte aber ein Bedenken laut werden, als ob nämlich jene Theorie nicht von allem Guten gelten solle, sondern ihr zufolge nur das seiner selbst wegen Erstrebte und Geliebte nach einer Idee benannt werde, während das, wodurch es hergestellt oder erhalten oder sein Gegenteil verhindert wird, seinetwegen und in anderem Sinne gut hieße. Das Gute hätte also dann zweierlei Bedeutungen: das eine wäre gut an sich, das andere gut durch jenes. Trennen wir denn das an sich Gute von dem Nützlichen und sehen wir, ob es nach einer