Cranford. Элизабет ГаскеллЧитать онлайн книгу.
schuldig seien«. Kaum eine Stunde später brachte sie Miss Jessie eine Schale voll delikat zubereitete Pfeilwurzeln und stand wie ein Dragoner vor ihr, bis der letzte Löffel davon verzehrt war, worauf sie verschwand. Miss Jessie begann mir noch etwas mehr von den Plänen zu erzählen, mit denen sie sich beschäftigte, und unwillkürlich kam sie dabei auf alte längst vergangene Zeiten zu sprechen, was mich so interessierte, dass ich darüber ganz vergaß, wie die Zeit verging. Wir schreckten beide auf, als Miss Jenkyns wieder erschien und uns in Tränen fand. Ich fürchtete, sie sei ärgerlich auf mich, da sie oft sagte, dass Weinen die Verdauung störe, und ich wusste, dass sie hoffte, Miss Jessie würde wieder kräftiger werden; aber statt dessen sah sie aufgeregt und verwirrt aus und wirtschaftete um uns herum, ohne ein Wort zu sagen. Endlich fing sie an zu sprechen. »Ich habe soeben einen großen Schreck gehabt – nein, keinen Schreck –, hören Sie nicht auf mich, liebe Miss Jessie – ich war nur sehr überrascht – denn, kurz und gut, ich hatte eben einen Besuch, einen Herrn, den Sie früher kannten, meine liebe Miss Jessie …«
Miss Jessie wurde erst kreidebleich und dann feuerrot und blickte erregt zu Miss Jenkyns auf.
»Ein Herr, meine Liebe, der wissen möchte, ob Sie ihn sehen wollen.«
»Es ist? Es ist doch nicht –«, stammelte Miss Jessie und kam nicht weiter.
»Hier ist seine Karte«, sagte Miss Jenkyns und gab sie ihr. Während Miss Jessie sich darüberbeugte, machte Miss Jenkyns mir die sonderbarsten Zeichen und suchte sich mir durch ein lebhaftes Spiel der Lippen verständlich zu machen, aus dem ich natürlich nichts entnehmen konnte.
»Darf er heraufkommen?«, fragte sie dann endlich.
»O ja, gewiss!«, sagte Miss Jessie, als ob sie damit ausdrücken wollte: ›Dies ist Ihr Haus, und Sie können jeden Besucher nach Ihrem Ermessen einlassen.‹ Dann nahm sie ein Strickzeug von Miss Matty in die Hand und fing an, eifrig zu stricken, aber ich konnte sehen, dass sie am ganzen Körper zitterte.
Miss Jenkyns klingelte und sagte dem Mädchen, sie möchte Major Gordon heraufführen; gleich darauf trat ein großer stattlicher Mann ein, mit offenem, freimütigem Gesicht, etwas über vierzig Jahre alt. Er schüttelte Miss Jessie die Hand, konnte ihr aber nicht in die Augen sehen, da sie den Blick fest auf den Boden gerichtet hielt. Miss Jenkyns fragte mich, ob ich ihr nicht helfen wollte, die Einmachgläser in der Vorratskammer zuzubinden, und obgleich Miss Jessie mich am Rock zupfte und mich sogar flehenden Auges ansah, wagte ich doch nicht, Miss Jenkyns’ Aufforderung abzulehnen. Statt aber Einmachgläser in der Vorratskammer zuzubinden, gingen wir in das Speisezimmer, um zu plaudern; dort erzählte mir Miss Jenkyns, was Major Gordon ihr eben gesagt hatte; dass er im selben Regiment mit Hauptmann Brown gedient und Miss Jessie als reizendes blühendes Mädchen von achtzehn Jahren kennen gelernt; wie die Bekanntschaft sich seinerseits in Liebe verwandelt, obgleich Jahre verstrichen, ehe er sich aussprechen konnte; wie er dann, als er von einem Onkel einen hübschen Besitz in Schottland geerbt, seinen Antrag gemacht hatte und abgewiesen worden sei, aber mit so viel Aufregung und augenscheinlicher Betrübnis, dass er überzeugt war, ihr nicht gleichgültig gewesen zu sein; und wie er dann herausgefunden hatte, dass das Hindernis in dem schweren Leiden lag, das schon damals ihre Schwester bedrohte. Sie hatte erwähnt, dass die Ärzte große Schmerzen voraussagten, und es war niemand da, der ihre arme Mary pflegen und den Vater während der Krankheitszeit trösten und aufheitern konnte. Sie hatten lange Unterredungen darüber gehabt, und als sie ihm nicht versprechen wollte, seine Frau zu werden, wenn alles vorüber sein würde, war er böse geworden, hatte alles abgebrochen und war ins Ausland gegangen, da er sie für eine kaltherzige Person hielt und zu dem Schluss kam, dass es das beste sei, sich die ganze Sache aus dem Kopfe zu schlagen. Er war im Orient gereist und gerade auf der Heimfahrt, als er zufällig in Rom Major Browns Todesnachricht im »Galignani« las.
In diesem Augenblick stürzte Miss Matty, die den ganzen Vormittag ausgewesen und soeben nach Hause gekommen war, mit allen Zeichen des Schreckens und des verletzten Schicklichkeitsgefühls zu uns herein.
»O du meine Güte!«, rief sie aus. »Deborah, im Salon sitzt ein Herr und hat den Arm um Miss Jessies Taille geschlungen!« Miss Mattys Augen sahen ganz groß aus vor Entsetzen.
Miss Jenkyns schleuderte ihr sofort die Worte entgegen: »Der passendste Platz auf der Welt für seinen Arm. Geh nur hinaus, Mathilde, und bekümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!« Dies von ihrer Schwester zu hören, die stets ein Muster weiblichen Dekorums für sie gewesen, war ein harter Schlag für die arme Miss Matty, und doppelt erschreckt verließ sie das Zimmer.
Das letzte Mal, als ich die arme Miss Jenkyns wieder sah, war viele Jahre später. Mrs. Gordon hatte warme und herzliche Beziehungen zu allen in Cranford aufrechterhalten. Miss Jenkyns, Miss Matty und Miss Pole waren zu Besuch bei ihr gewesen und kamen mit wunderbaren Berichten über ihr Haus, ihren Gatten, ihre Kleidung und ihr Aussehen zurück. Denn mit dem Glück war auch etwas von ihrer ehemaligen blühenden Jugendlichkeit zurückgekehrt; sie war tatsächlich ein paar Jahre jünger, als wir angenommen hatten. Ihre Augen waren immer sehr schön gewesen, und für Mrs. Gordon waren auch die Grübchen nicht mehr unpassend. Zu der erwähnten Zeit, als ich Miss Jenkyns zum letzten Mal sah, war diese Dame alt und schwach und hatte etwas von ihrer Energie verloren. Die kleine Flora Gordon war bei den Schwestern Jenkyns, und als ich kam, las sie gerade Miss Jenkyns etwas vor, die schwach und sehr verändert auf dem Sofa lag. Flora legte den »Rambler« hin, als ich eintrat.
»Ach«, sagte Miss Jenkyns, »Sie finden mich sehr verändert, meine Liebe. Ich kann nicht mehr so gut sehen wie früher. Wenn Flora nicht hier wäre, um mir vorzulesen, dann wüsste ich kaum, wie ich den Tag herumbringen sollte. Haben Sie jemals den ›Rambler‹ gelesen? Es ist etwas ganz Wundervolles und das Beste und Lehrreichste, was Flora lesen kann« – was es auch vielleicht gewesen wäre, wenn sie die Hälfte der Worte ohne Buchstabieren hätte lesen können und den Sinn jedes dritten Wortes verstanden hätte –, »besser als das sonderbare alte Buch mit dem kuriosen Namen, durch dessen Lektüre der arme Hauptmann Brown getötet wurde – das Buch von Mister Boz, Sie wissen doch – ›Old Poz‹; als ich ein junges Mädchen war, aber das ist lange, lange her – da spielte ich die Rolle der ›Lucy‹ im ›Old Poz‹.« – Sie plapperte genügend lange weiter, dass Flora sich ein gutes Stück in die »Christmas Carol« hineinbuchstabieren konnte, die Miss Matty auf dem Tische liegengelassen hatte.
Drittes Kapitel
Eine Liebesgeschichte aus alter Zeit
Ich glaubte, dass meine Beziehungen zu Cranford nach Miss Jenkyns’ Tode aufhören oder sich doch wenigstens auf Korrespondenz beschränken würden, die ungefähr in demselben Verhältnis zu persönlichem Verkehr steht wie die Bücher mit getrockneten Pflanzen, die ich mitunter sehe (»Hortus siccus«, so nennen sie, glaube ich, ein solches Ding), zu den lebendigen und frischen Blumen in Feld und Wiese. Ich war daher sehr angenehm überrascht, als ich einen Brief von Miss Pole erhielt (die sich stets darum bemüht hatte, dass ich nach meinem alljährlichen Besuch bei Miss Jenkyns noch eine weitere Woche bei ihr blieb), in dem sie mir vorschlug, für einige Zeit zu ihr zu kommen. Wenige Tage nach meiner Zusage kam ein Briefchen von Miss Matty, in dem sie sehr umständlich und bescheiden aussprach, welche große Freude ich ihr machen würde, wenn ich vor oder nach meinem Besuch bei Miss Pole eine oder zwei Wochen bei ihr zubringen möchte; »denn«, sagte sie, »ich bin mir ja ganz klar, dass ich seit dem Tode meiner lieben Schwester nichts besonders Anziehendes mehr zu bieten habe; ich kann es nur der Güte meiner Freundinnen danken, wenn sie mir ihre Gesellschaft schenken«.
Natürlich versprach ich, zu der lieben Miss Matty zu kommen, sobald mein Besuch bei Miss Pole beendet sei; und am Tage nach meiner Ankunft in Cranford ging ich zu ihr, neugierig, wie es im Hause ohne Miss Jenkyns wohl sein würde; ja, ich fürchtete mich förmlich vor der Veränderung. Miss Matty fing an zu weinen, sobald sie mich sah. Sie war sichtlich aufgeregt durch die Erwartung meines Besuches. Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, und fand, dass der beste Trost in dem ehrlichen Lobe bestand, mit dem ich der Verstorbenen gedachte. Miss Matty schüttelte still den Kopf bei jeder Tugend, die ich als Attribut ihrer Schwester aufzählte, und endlich konnte sie sich der Tränen nicht mehr erwehren, sie verbarg ihr Gesicht im Taschentuch