Das Haus der Freude. Edith WhartonЧитать онлайн книгу.
zurückziehen und vorgehen, als ob ich einen komplizierten Tanz auszuführen hätte, bei dem ein falscher Schritt mich hoffnungslos aus dem Takt brächte.«
Als die beiden näher kamen, entdeckte sie sonderbarerweise plötzlich eine Art Familienähnlichkeit zwischen Miss Van Osburgh und Percy Gryce. Sie hatten keine Ähnlichkeit im Aussehen. Gryce war gutaussehend auf eine gewisse schulmeisterliche Art – er vermittelte den Eindruck einer gelungenen Schülerzeichnung von einem Gipsabguss –, während Gwens Physiognomie nicht mehr Ausformung aufwies als ein Gesicht, das auf einen Spielzeugballon aufgemalt war. Aber die tiefere Verwandtschaft war unübersehbar: sie hatten beide dieselben Vorurteile und Ideale und dieselbe Fähigkeit, anderer Leute Maßstäbe zunichte zu machen, indem sie einfach nicht wahrnahmen, dass es solche Maßstäbe gab. Diese Eigenschaft hatten sie mit den meisten in Lilys Kreis gemein, sie verfügten über eine Kraft der Negation, die alles, was sich jenseits ihrer eigenen Erkenntnis befand, auszumerzen imstande war. Kurz und gut, Gryce und Miss Van Osburgh waren durch jedes erdenkliche Gesetz geistiger und physischer Übereinstimmung wie füreinander gemacht. »Und doch beachten sie einander nicht«, überlegte Lily, »sie sehen sich nicht einmal an. Jedes möchte ein Wesen von einer anderen Art, von Jacks Art und meiner, mit allen möglichen Eingebungen und Gefühlen und Wahrnehmungen, deren Existenz sie nicht einmal erahnen. Und sie bekommen immer, was sie wollen.«
Sie gesellte sich ein wenig zu ihrem Cousin und Miss Van Osburgh, um sich mit ihnen zu unterhalten, bis ein leichtes Stirnrunzeln bei Letzterer sie warnte, dass sogar die Artigkeiten einer Cousine Verdacht erregten, und Miss Bart, die immer darauf bedacht war, an diesem entscheidenden Punkt in ihrem Vorhaben keine Feindseligkeiten zu erregen, wandte sich ab, während das glückliche Paar zum Teetisch weiterging.
Lily setzte sich auf die oberste Stufe der Terrasse und lehnte ihren Kopf gegen das Geißblatt, das sich um die Balustrade rankte. Der Duft der letzten Blüten erschien ihr wie das Sichverströmen der friedlichen Szenerie, einer Landschaft, die bis zum äußersten auf ländliche Eleganz hin gestaltet war. Im Vordergrund glühten die warmen Farben der Gärten. Jenseits des Rasens, mit den Pyramiden des blass-goldenen Ahorns und der samtenen Tannen, breiteten sich Wiesen aus, auf denen da und dort Vieh wie hingetupft zu erkennen war, und durch eine Lichtung schien der Fluss im silbrigen Septemberlicht weit wie ein See. Lily wollte sich nicht zu dem Kreis um den Teetisch gesellen. Er stand für die Zukunft, die sie gewählt hatte, und sie war zufrieden damit, hatte aber keine Eile, ihren Freuden vorzugreifen. Die Gewissheit, dass sie Percy Gryce heiraten konnte, wenn es ihr gefiel, hatte sie von einer schweren Last befreit, und ihre Geldsorgen waren noch zu frisch in ihrem Bewusstsein, als dass ihre Beseitigung nicht ein Gefühl der Erlösung hervorgerufen hätte, das eine weniger klare Intelligenz für Glück hätte halten können. Ihre niederen Sorgen waren nun zu Ende. Sie würde sich ihr Leben so einrichten können, wie es ihr gefiel, würde in jenen höchsten Himmel entschweben, in den Gläubiger nicht gelangen konnten. Sie würde elegantere Kleider als Judy Trenor und viel, viel mehr Juwelen als Bertha Dorset besitzen. Sie würde für immer von den Ausflüchten, den Berechnungen, den Erniedrigungen der relativ Unbegüterten befreit sein. Statt schmeicheln zu müssen, würde ihr geschmeichelt werden, statt dankbar zu sein, würde sie Dank entgegennehmen. Es gab alte Rechnungen, die sie würde begleichen können, ebenso wie Gefälligkeiten, die sie nun erwidern können würde. Und sie machte sich keine falschen Vorstellungen über das Ausmaß ihrer Macht. Sie wusste, dass Mr. Gryce zu dem kleinlich sparsamen Menschentyp gehörte, der für Impulsivität und Gefühle am wenigsten zugänglich ist. Er hatte die Art von Charakter, bei der Vorsicht ein Laster und guter Rat die allergefährlichste Nahrung ist. Aber Lily war dieser Spezies schon früher begegnet; sie war sich darüber im Klaren, dass solch eine bedachtsame Natur wenigstens ein wichtiges Ventil für ihren Egoismus finden musste, und sie war fest entschlossen, ihm das zu sein, was seine Amerikana ihm bisher gewesen waren: das eine Besitztum, auf das er stolz genug war, Geld dafür auszugeben. Sie wusste, dass eine derartige Großzügigkeit sich selbst gegenüber eine Form von Niederträchtigkeit war, und sie beschloss, sich zu einem solchen Grad mit der Eitelkeit ihres Ehegatten zu identifizieren, dass das Erfüllen ihrer Wünsche für ihn die vollkommenste Form der Genusssucht sein würde. Es war gut möglich, dass dieses System zu Anfang die Zuflucht zu eben den Ausflüchten und Berechnungen nötig machen würde, von denen es sie doch ihren Plänen nach befreien sollte; aber sie war sich sicher, dass sie in kurzer Zeit das Spiel nach ihren Regeln würde spielen können. Wie hätte sie ihren Möglichkeiten misstrauen sollen? Ihre Schönheit selbst war ja nicht der kurzlebige Besitz, der sie in unerfahrenen Händen gewesen wäre; ihre geschickte Art, sie zur Geltung zu bringen, die Sorgfalt, mit der sie sie pflegte, der Nutzen, den sie aus ihr zog, schienen ihr eine Art von Dauerhaftigkeit zu geben. Sie hatte das Gefühl, als könne sie darauf vertrauen, dass ihre Schönheit sie nicht im Stich lassen würde, bis sie ihr Ziel erreicht hätte.
Und das Ziel lohnte sich alles in allem. Das Leben war nicht mehr der Hohn, für den sie es vor drei Tagen noch gehalten hatte. Es gab schließlich doch einen Platz für sie in der überfüllten, selbstsüchtigen Welt des Vergnügens, aus der vor noch so kurzer Zeit ihre Armut sie auszuschließen schien. Die Leute, über die sie sich lustig gemacht und die sie doch beneidet hatte, freuten sich, ihr in dem Zauberkreis, um den ihr ganzes Verlangen sich drehte, einen Platz einräumen zu können. Sie waren nicht so brutal und selbstbezogen, wie sie angenommen hatte –, oder vielmehr, weil es nicht weiter notwendig sein würde, ihnen zu schmeicheln und sich ihnen anzupassen, wurde diese Seite ihres Wesens weniger auffallend. Die Gesellschaft ist ein sich drehender Himmelskörper, der wahrscheinlich nach seinem Standort im Himmel des jeweiligen Betrachters beurteilt wird, und zurzeit wandte er Lily gerade seine Lichtseite zu.
Im rosigen Schein, der von ihm ausging, schienen ihre Gefährten voll angenehmer Eigenschaften zu sein. Sie mochte ihre Eleganz, ihre Anmut, ihren Mangel an Nachdruck; sogar ihre Selbstsicherheit, die manchmal so sehr einer gewissen Beschränktheit glich, erschien ihr jetzt als ein natürliches Zeichen ihrer gesellschaftlichen Vorrangstellung. Sie waren die Herren der einzigen Welt, die ihr wichtig war, und sie waren bereit, sie in ihren Rang aufzunehmen und diese Welt mitbeherrschen zu lassen. Schon fühlte sie in sich eine verstohlene Loyalität ihren Maßstäben gegenüber, merkte, wie sie Beschränkungen zu akzeptieren bereit war, die Dinge, an die sie nicht glaubten, nicht mehr glauben wollte, und die Menschen, die nicht so leben konnten, wie sie es taten, verachtete und bemitleidete.
Die letzten Sonnenstrahlen fielen schräg auf den Park. Durch die Zweige der langen Allee jenseits der Gärten konnte sie für einen Augenblick blitzende Räder erkennen, und sie erriet, dass weitere Besucher zum Haus kamen. Dann gab es eine Bewegung hinter ihr, sich zerstreuende Schritte und Stimmen: Offenbar löste sich die gesellige Runde um den Teetisch gerade auf. Kurz darauf hörte sie Schritte hinter sich auf der Terrasse. Sie nahm an, dass Mr. Gryce endlich einen Weg gefunden hatte, um aus seiner misslichen Lage zu entkommen, und sie lächelte über die Bedeutsamkeit der Tatsache, dass er gekommen war, ihr Gesellschaft zu leisten, anstatt sofort an den Kamin zu flüchten.
Sie wandte sich um, ihn willkommen zu heißen, wie es solche Galanterie verdiente, aber ihr Gruß wandelte sich zu einem erstaunten Erröten, denn der Mann, der sich ihr näherte, war Lawrence Selden.
»Sie sehen, ich bin schließlich doch noch gekommen«, sagte er, aber bevor sie Zeit fand zu antworten, war Mrs. Dorset, sich von einer wenig lebendigen Unterhaltung mit ihrer Gastgeberin losreißend, mit einer besitzergreifenden kleinen Geste zwischen sie getreten.
V
Der Sonntagspflicht wurde auf Bellomont vor allem durch das pünktliche Erscheinen des eleganten Pferdewagens Genüge getan, der dazu bestimmt war, die Gesellschaft zu der kleinen Kirche vor den Toren des Anwesens zu befördern. Ob jemand ihn bestieg oder nicht, war weniger wichtig, denn allein dadurch, dass er bereitstand, legte er nicht nur Zeugnis für die orthodoxen Absichten der Familie ab, sondern vermittelte Mrs. Trenor, wenn sie ihn schließlich abfahren hörte, außerdem das Gefühl, sie hätte ihn auf irgendeine stellvertretende Weise auch benutzt.
Es war Mrs. Trenors feste Überzeugung, dass ihre Töchter wirklich jeden Sonntag zur Kirche gingen; aber weil die Konfession ihrer französischen Erzieherin diese in die rivalisierende Kirche rief, und die Mühsal der Woche die Mutter der Mädchen bis zum Mittag in ihrem Zimmer bleiben ließ, war selten jemand