Das Haus der Freude. Edith WhartonЧитать онлайн книгу.
»Wenn Sie damit meinen, dass ein Mädchen, das niemanden hat, der für es denkt, das wohl oder übel selber tun muss, bin ich durchaus bereit, Ihren Vorwurf anzuerkennen. Aber Sie müssen mich ja für eine grässliche Person halten, wenn Sie glauben, ich würde nie einem spontanen Einfall nachgeben.«
»Ach, aber das glaube ich doch gar nicht; habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Ihr Genie gerade darin liegt, Impulse zu Intentionen zu machen?«
»Mein Genie?«, wiederholte sie mit einem plötzlichen Anflug von Traurigkeit. »Gibt es überhaupt einen endgültigen Beweis für Genie außer den Erfolg? Und ich habe mit Sicherheit bisher keinen gehabt.«
Selden schob seinen Hut zurück und blickte sie von der Seite her an. »Erfolg – was ist Erfolg? Ich wäre sehr daran interessiert, Ihre Definition zu hören.«
»Erfolg?« Sie zögerte. »Nun, so viel wie möglich aus dem Leben herauszuholen, nehme ich an. Schließlich und endlich ist das eine relative Angelegenheit. Entspricht das nicht Ihrer Vorstellung von Erfolg?«
»Meiner Vorstellung? Um Himmels willen, nein!« Er setzte sich plötzlich voll Energie auf, lehnte seinen Ellbogen auf die Knie und starrte auf die weichen Linien der Felder. »Meine Vorstellung von Erfolg«, sagte er, »heißt persönliche Unabhängigkeit.«
»Unabhängigkeit? Unabhängigkeit von Sorgen?«
»Von allem – von Geld, von Armut, von Luxus und Bedrängnis, von allen materiellen Zufällen. Sich eine Art Republik des Geistes zu erhalten – das nenne ich Erfolg.«
Sie beugte sich vor und antwortete ihm mit plötzlichem Erkennen. »Ich weiß – ich weiß – es ist sonderbar, aber das ist genau das, was ich heute empfunden habe.«
Er sah ihr in die Augen, und sie entdeckte die verhaltene Freundlichkeit in den seinen. »Haben Sie das Gefühl so selten?«, sagte er.
Sie errötete ein wenig unter seinem Blick. »Sie halten mich für ein schrecklich minderwertiges Geschöpf, nicht wahr? Aber vielleicht liegt es eher daran, dass ich nie die Wahl hatte. Es gab niemanden, meine ich, der mir von der Republik des Geistes erzählt hätte.«
»Das gibt es nie – sie ist ein Land, zu dem man nur selbst den Weg finden kann.
»Aber ich hätte den Weg dorthin nie gefunden, wenn Sie ihn mir nicht gezeigt hätten.«
»Ja, es gibt schon Wegweiser – aber man muss sie lesen können.«
»Nun, ich habe es gewusst, ich habe es gewusst!«, rief sie glühend vor Begeisterung. »Immer wenn ich Sie sehe, merke ich, wie ich einen Buchstaben dieses Wegweisers entziffere – und gestern – gestern Abend beim Dinner – sah ich plötzlich einen kleinen Weg in Ihre Republik.«
Selden sah sie noch immer an, aber mit anderen Augen. Bisher hatte er in ihrer Gegenwart und in der Unterhaltung mit ihr das ästhetische Vergnügen empfunden, das ein Mann, dem Gedankliches wichtig ist, gern im unbekümmerten Umgang mit hübschen Frauen sucht. Seine Haltung war die des bewundernden Zuschauers gewesen, und es hätte ihm geradezu leidgetan, an ihr eine gefühlsmäßige Schwäche zu entdecken, die sie daran gehindert hätte, ihre Ziele zu erreichen. Aber jetzt war die Andeutung eben dieser Schwäche zum interessantesten Zug an ihr geworden. Er hatte sie an jenem Morgen in einem Moment der Unordnung angetroffen, ihr Gesicht war bleich und verändert gewesen, und die Einschränkung ihrer Schönheit hatte ihr einen ergreifenden Zauber verliehen. So sieht sie aus, wenn sie allein ist! war sein erster Gedanke gewesen, und der zweite hatte die Veränderung in ihr verfolgt, die sein Kommen auslöste. Der Gefahrenpunkt in ihrem Verhältnis zueinander war, dass er an der Spontaneität ihrer Zuneigung nicht zweifeln konnte. Von welchem Blickwinkel aus er ihre langsam wachsende Vertrautheit auch betrachtete, er konnte sie nicht als Teil ihrer Lebenspläne sehen, und das unvorhergesehene Element in einem so exakt geplanten Leben zu sein, war sogar für einen Mann anregend, der Experimente im Bereich der Gefühle aufgegeben hatte.
»Nun und«, sagte er, »hat es Sie dazu gebracht, dass Sie mehr sehen wollen? Werden Sie bald eine von uns sein?«
Er hatte seine Zigaretten aus der Tasche gezogen, während er sprach, und sie streckte ihre Hand nach dem Etui aus.
»Oh, bitte, geben Sie mir eine – ich habe seit Tagen nicht geraucht!«
»Warum diese unnatürliche Abstinenzhaltung? Auf Bellomont raucht doch jeder.«
»Ja – aber es gilt nicht als schicklich für une jeune fille à marier10; und das bin ich im Moment, une jeune fille à marier.«
»Ah, dann fürchte ich, können wir Ihnen keinen Zutritt zu unserer Republik gewähren.«
»Warum nicht? Handelt es sich dabei um eine zölibatäre Vereinigung?«
»Nicht im Geringsten, obwohl ich leider sagen muss, dass es dort nicht sehr viele verheiratete Leute gibt. Aber Sie werden jemanden heiraten, der sehr reich ist, und für Reiche ist der Zugang ebenso schwierig wie der zum himmlischen Königreich.«
»Das ist ungerecht, finde ich, denn, wenn ich richtig verstanden habe, ist doch eine Bedingung, um die Staatsangehörigkeit zu erwerben, sich nicht zu viele Gedanken über Geld zu machen, und die einzige Möglichkeit, nicht mehr an Geld denken zu müssen, ist es, eine schöne große Menge davon zu haben.«
»Sie könnten mit dem gleichen Recht sagen, die einzige Möglichkeit, nicht an die Luft denken zu müssen, ist es, genug zum Atmen zu haben. Das stimmt zwar in gewissem Sinne, aber Ihre Lungen denken an die Luft, wenn Sie es nicht tun. Und genau so ist es mit Ihren reichen Leuten – sie mögen zwar nicht an Geld denken, aber sie atmen es ständig ein. Versetzen Sie sie in ein anderes Element, und Sie werden sehen, wie sie sich winden und nach Luft schnappen!«
Lily blickte geistesabwesend durch die blauen Ringe ihres Zigarettenrauchs.
»Es scheint mir aber«, sagte sie schließlich, »dass Sie einen beachtlichen Teil Ihrer Zeit in dem Element zubringen, das Sie so sehr ablehnen.«
Selden nahm diesen Vorwurf ungerührt hin. »Ja, aber ich habe versucht, ein Amphibienwesen zu bleiben; es macht nichts, solange die Lungen noch in anderer Luft atmen können. Die wahre Alchemie besteht darin, Gold wieder in etwas anderes zu verwandeln, und das ist das Geheimnis, das die meisten Ihrer Freunde verloren haben.«
Lily dachte nach. »Meinen Sie nicht«, gab sie einen Augenblick später zurück, »dass die Leute, die an der Gesellschaft etwas auszusetzen haben, zu sehr dazu neigen, sie als Selbstzweck anzusehen statt als ein Mittel zu etwas anderem, genauso wie die Leute, die Geld verachten, darüber sprechen, als wäre es nur dazu da, in Säcken aufbewahrt zu werden, damit man sich daran ergötzen kann? Ist es nicht gerechter, beides als Chance anzusehen, die man entweder dumm vertun oder klug nutzen kann, je nachdem, wie begabt derjenige ist, dem diese Chance gegeben wurde?«
»Das ist sicher ein vernünftiger Standpunkt, aber das Sonderbare an der Gesellschaft ist, dass die Leute, die sie als Selbstzweck ansehen, auch diejenigen sind, die dazugehören, und nicht die Kritiker am Zaun. Mit den meisten Schauspielen ist es genau andersherum – die Zuschauer mögen sich der Illusion hingeben, aber die Schauspieler wissen, dass das wirkliche Leben sich auf der anderen Seite der Rampenlichter abspielt. Die Leute, welche die Gesellschaft als Gelegenheit ansehen, sich nach der Arbeit zu unterhalten, haben die richtige Einstellung dazu, aber wenn die Gesellschaft zu dem wird, wofür man arbeitet, werden die Verhältnisse im Leben völlig verdreht.« Selden richtete sich auf und stützte sich auf seinen Ellbogen.
»Du lieber Himmel!«, erklärte er weiter. »Ich unterschätze die dekorative Seite des Lebens durchaus nicht. Mir scheint sich der Sinn für Pracht und Luxus durch das zu rechtfertigen, was mit seiner Hilfe entstanden ist. Das Schlimme ist nur, dass so viel menschliche Natur in diesem Prozess verbraucht wird. Wenn wir alle das Rohmaterial für kosmische Effekte sind, wäre man doch lieber das Feuer, das ein Schwert härtet, als der Fisch, der dazu dient, einen Purpurmantel einzufärben. Und eine Gesellschaft wie die unsere verschwendet so gutes Material, um ihr kleines Fleckchen Purpur herzustellen! Sehen Sie sich einen Jungen wie Ned Silverton an – er ist wirklich zu schade, um