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Grundbegriffe der Ethik. Gerhard SchweppenhäuserЧитать онлайн книгу.

Grundbegriffe der Ethik - Gerhard Schweppenhäuser


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ethischer Hinsicht hochproblematisch sind (z. B. deshalb, weil sie unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert werden oder weil ihre Herstellung und Verwendung der belebten und unbelebten Natur schwere Schäden zufügen), ist nicht auf Gedankenlosigkeit oder moralische Verkommenheit der Akteure (insonderheit: der Konsument*innen) zurückzuführen. Sie ist ein Bestandteil der Produktion, also jener Wirtschaftsweise, die ›unseren westlichen Werten‹ zugrunde liegt.

      All das hat nur auf den zweiten Blick etwas mit ethischen Fragen zu tun. Doch es zeigt sich: Werte stehen für etwas, auf das man zu verzichten bereit ist, damit man etwas anderes besitzen oder genießen kann. Im Gegenzug stellt man das, über das man nicht verfügt, als den entsprechenden Wert dar. Von Werten spricht man also dann, wenn es darum geht, dass man etwas per se nicht hat, aber über einen Gegenwert verfügt.

      Im 19. Jahrhundert wurde der Wertbegriff von Rudolf Hermann Lotze in die philosophische Terminologie aufgenommen, um mit seiner Hilfe die Sphäre der Geltung von der Sphäre des Seienden zu unterscheiden (Lotze 1841, 1882). Seine große Karriere machte »der vom [21]Neukantianismus philosophisch in Umlauf gebrachte Name der Werte« (Habermas 1970, 150) aber bei Friedrich Nietzsche. Seine »Umwertung aller Werte« stellte den Wertbegriff ins Rampenlicht der Ethik. Er exponierte und kritisierte dabei mit einem Schlag dessen Problematik. Darauf werden wir noch zurückkommen.

      Wenn Moralphilosophen von Werten sprechen und dabei an etwas dezidiert nicht Tauschbares denken, dann kommt mitunter Seltsames dabei heraus. Vor über einem Jahrhundert vertrat etwa Max Scheler die Auffassung, es gebe einen Kosmos der Werte, der ganz unabhängig von den Menschen existiere. Das Wertreich sei in sich selbst gegründet und nach objektiven Kriterien geordnet; Werte wie »mutig«, »edel« oder »vornehm« stünden ganz oben, während »gemein« ganz unten rangiere (Scheler 1921, S. 9 ff.). Er vertrat tatsächlich die Auffassung, dass Werte nicht das Ergebnis unserer Bewertung von etwas seien, sondern dass es sich genau umgekehrt verhalte: Wir würden Menschen, Handlungsweisen, Dinge und Sachverhalte gemäß den Wertkriterien bewerten, die sie objektiv enthalten – vorausgesetzt freilich, dass wir in der Lage sind, uns zu einer angemessenen Schau der Werte aufzuschwingen, was naturgemäß nur wenigen gegeben sei.

      Heute vertreten die meisten Philosoph*innen den Standpunkt, dass Werte handlungsleitende Orientierungsmaßstäbe sind, nicht Eigenschaften von Sachverhalten oder Handlungen. Werte werden nicht mehr als substantielle Entitäten gedacht, sondern als Produkte menschlicher Setzung. Damit geht oft die Position des Wertrelativismus einher: Dass Werten transkulturelle, zeit- und ortsübergreifende Geltungsansprüche zukommen können, wird dann [22]bezweifelt. Dieser Zweifel muss aber nicht das letzte Wort haben.

      Schon Heinrich Rickert hat um die Wende zum 20. Jahrhundert versucht, den unauflösbaren Widersprüchen bzw. Aporien des Wertobjektivismus und gleichzeitig den Aporien seines Gegenstücks, des reinen Subjektivismus der Werte, zu entgehen. Für Rickert sind Werte zwar keine ontologischen Wesenheiten, aber mehr als bloß subjektiv-beliebige Setzungen. Alles Werten finde stets in kulturellen Zusammenhängen statt, und Kultur ist eine »wertbehaftete Wirklichkeit«. Die Wirklichkeit der Werte ist, so Rickert, eine geistige Wirklichkeit der Bewertung und der Anerkennung von Geltungsansprüchen, mit denen sich eine Kulturwissenschaft zu beschäftigen habe, die »Sinndeutung« betreibt (Rickert 1899, Prechtl 1999). Als Max Weber nach dem Ersten Weltkrieg die Frage nach dem »Wert« der Wissenschaft stellte, fragte er nach dem »Sinn«, den organisierte, fortschreitende Forschung für die Interessen der Menschheit hat, und er meinte damit einen »über das Technische hinausreichenden Sinn« (Weber 1919a, 20). Der Sinn moderner, arbeitsteiliger Wissenschaft sei nicht etwa die Prätention, dass man veraltete Fragen nach dem »›Sinn‹ der Welt« (24) beantworten könne. Weber bezeichnet den – nicht bloß instrumentellen – Sinn von Wissenschaft als Wert. Dies impliziert Folgendes: Die Bedeutung des entbehrungsreichen und gefahrvollen Prozesses der Naturbeherrschung durch Arbeit, Technik und Wissenschaft besteht darin, dass er der Menschheit etwas verheißen kann, für das sich Mühe, Hingabe und Opfer lohnen. Was ist »wissenswert« (26)? Wofür lohnt sich der geistige, physisch-zeitliche und finanzielle Aufwand methodisch [23]kontrollierter, logisch und technisch überprüfter Forschungsprozesse? Weber, der sich an dieser Stelle auf Nietzsche beruft, meinte nicht, dass Wissenschaft und Technik Glück zu versprechen hätten – aber doch immerhin die »Beherrschung des Lebens« (25), im gesellschaftlichen wie im naturhaften Sinne.

      2.1.2 Werte-Lamento

      Die Klage über einen ›Werteverfall‹ gehört zum Markenkern rechtsgerichteten politischen Denkens. Eine sogenannte »Werteunion« beispielsweise, die sich 2017 innerhalb der CDU/CSU als Widerstandsgruppe gegen Bundeskanzlerin Merkel formiert hatte, bezeichnet sich selbst als »Zusammenschluss wertkonservativer und wirtschaftsliberaler Unionsmitglieder« (Werteunion 2020). Eines ihrer Hauptanliegen besteht im Kampf gegen die Zuwanderung von Fliehenden nach Europa. Zu den Anführern der »Werteunion« gehört Hans Georg Maaßen, der wegen seiner Nähe zur nationalistisch-völkischen Partei AfD 2018 als Chef des bundesdeutschen Geheimdienstes zurücktreten musste. In einer Zeit, da rassistische und antisemitische Attacken auf offener Straße in der Bundesrepublik immer häufiger und brutaler stattfinden, propagiert die »Werteunion« eine sogenannte ›europäisch-deutsche Leitkultur‹ und »warnt vor Gefahr von links« (Werteunion 2020).

      Die Klage über den ›Werteverfall‹ ist auch fester Bestandteil im Repertoire der Moral- und Kulturkritik. Dafür nun ein älteres und ein neueres Beispiel, denn ebenso wie die Sprache der Politik weist auch die Sprache der Moral- und [24]Kulturkritik aufschlussreiche Indikatoren für einen Bereich auf, den man als praktische Philosophie des Alltags bezeichnen kann.

      »Die Salzburger Festspiele mit Appell an neue Werte eröffnet«, lautete eine Schlagzeile in der Frankfurter Neuen Presse vom 25. Juli 1998. Der österreichische Bundespräsident, so war zu lesen, hatte die Gelegenheit genutzt, seinen Zukunftssorgen Luft zu machen und zugleich seiner Hoffnung auf die versittlichende Kraft der Musik Ausdruck zu verleihen:

      »An der Wende in ein neues Jahrtausend erleben wir die Gleichzeitigkeit eines immensen Werteverlusts und eines enormen Bedarfs nach ethischen Normen, die Menschen, Völker und Kontinente dauerhaft verbinden können«, sagte Klestil. Dabei komme den Künsten und der Religion eine entscheidende Rolle zu, da sie einen »unmittelbaren Zugang zu Herzen und Seelen finden«.

      Im Salzburger Festspielprogramm fand sich an prominenter Stelle Peter Zadeks Inszenierung der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Dort hat Bertolt Brecht zwar nicht den Satz »Erst kommt das Fressen, dann die Moral« untergebracht (dieser Befund, den er seinen Protagonisten als Zynismus in den Mund legte und gleichzeitig selbst leider wahr fand, stammt aus der Dreigroschenoper). Aber in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wird eine nicht minder ätzende Kritik bürgerlicher Doppelmoral der Markt- und Konkurrenzgesellschaft formuliert (Brecht 1930). Mahagonny ist eine Karikatur der bürgerlichen Marktgesellschaft, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel als das »System [25]der Bedürfnisse« und als »Kampfplatz« bezeichnet hatte. Im Kampf der Interessen kann jedes zahlungskräftige Bedürfnis befriedigt werden. In Brechts Stadt darf man alles; dort ist eigentlich alles erlaubt, nur eines nicht: Zahlungsunfähigkeit. Die Konstellation der Festspiele, die mit Beschwörungen von Werten und Europa eröffnet, aber mit Brecht vollzogen wurden (der sich nach dem Zweiten Weltkrieg Chancen ausgerechnet hatte, Leiter der Salzburger Festspiele zu werden, was ihm erspart hätte, in die DDR gehen zu müssen, um angemessene Bedingungen für seine Theaterarbeit zu haben), ist im Rückblick entlarvend. Sie liefert vielleicht ein Indiz dafür, dass Kunst tatsächlich ein moralisches Potential besitzt, allerdings ein größeres, als es ihr moralisierende Festredner zusprechen. Der Verzicht auf eine philosophische (und das heißt: kritisch-rationale) Reflexion des Wertproblems, der die zitierten Wertebekundungen geradezu programmatisch kennzeichnet, erweist sich als belanglose polit-religiöse Rhetorik.

      Ähnliches lässt sich in einem neueren Beispiel für moralkritische Klagen über den ›Verfall der Werte‹ beobachten, das aus einem Zeitungsartikel über Probleme der Polizei stammt. Der Autor zitiert den Chef der Gewerkschaft der Polizei in Nordrhein-Westfalen:

      »Werteverfall, steigende Brutalität und eine sinkende Hemmschwelle gehören zu unserem Alltagsgeschäft«. Als Beispiel


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