Nirvana. Michael AzerradЧитать онлайн книгу.
fünf Söhne und eine Tochter, und so war es keine Schwierigkeit, noch jemanden durchzufüttern. Im Endeffekt blieb Kurt ab dem Spätwinter 1985 acht Monate dort und verrichtete wie alle anderen seinen Teil der Hausarbeit.
Eric spielte auch Gitarre, und Steve Shillinger schwor, dass Eric und Kurt mit ihren Gitarren gemeinsam eine besonders markante Stelle von Iron Maidens „Rhyme of the Ancient Mariner“ über die Stereoanlage gespielt hätten. Sowohl Eric als auch Kurt bestritten das entschieden, aber Shillinger meinte: „Leute verleugnen oft ihre Vergangenheit.“
Die Shillingers hatten schon öfters „Herumstreuner“ aufgenommen, und normalerweise tauchte einen oder zwei Tage später ein besorgter Elternteil auf und fragte nach, ob ihr Kind da wäre. Diesmal nicht. Lamont Shillinger sagt: „Wir hörten nicht ein Wort von Kurts Mutter, solange er hier war.“
Im darauffolgenden Sommer intensivierte Kurt seine Laufbahn als Graffiti-Macher. Er war ein Vandale, seit er im siebten Jahrgang zu saufen begonnen hatte, aber das Werk dieses Sommers war, wie Kurt sagt, „das ultimative Statement“. Er zog sich tagsüber das Rock for Light-Album von den Bad Brains hinein, und am Abend betrank er sich und warf Acid-Trips – so ging das den ganzen Sommer lang. Er, Osborne, Steve Shillinger und andere begannen, mit Markerstiften bewaffnet, die Seitenstraßen von Aberdeen zu durchstreifen. Dabei schrieben sie Provokationen wie ABORT CHRIST oder GOD IS GAY auf die Wände oder besprühten Allrad-Jeeps (vor allem die mit Gewehrhalterungen) mit dem Wort QUEER (Schwuler), um die Rednecks zur Weißglut zu bringen. Oder sie schmierten, einfach um die Leute zum Narren zu halten, absichtlichen Nonsens irgendwohin.
Eines Abends entdeckten sie ein riesiges, reich verziertes Pink-Floyd-Graffito, das jemand mit großer Hingabe verfertigt haben musste. Dessen Minuten waren gezählt. „Wir waren überzeugte Punks“, erklärte Shillinger, „und wir hatten Spraydosen.“
Kurt hatte eine in Silber und Shillinger eine in Schwarz. Shillinger sprayte „Black“ über „Pink“, und Kurt sprayte „Flag“ über „Floyd“. „Die Hippies waren den ganzen restlichen Sommer hinter uns her“, sagte Shillinger voller Schadenfreude. „Wir waren wie gejagte Untergrund-Helden.“
Einmal war Kurt mit Osborne und Chris, der gerade HOMO SEX RULES auf die Wand einer Bank geschrieben hatte, auf einer Spraytour, als plötzlich aus dem Nichts heraus ein Polizeiauto auftauchte und Kurt im Scheinwerferkegel hatte. Chris und Osborne liefen weg und versteckten sich in einer Mülltonne, aber Kurt wurde erwischt und auf der Polizeistation verhört. Das Protokoll zählte den Inhalt seiner Taschen auf: ein Gitarrenplektrum, ein Schlüssel, eine Dose Bier, ein Ring und eine Kassette der militanten Punk-Band Millions of Dead Cops. Er bekam eine Geldstrafe von 180 Dollar und dreißig Tage auf Bewährung.
Vandalismus war nichts Neues für Kurt. Schon in der Highschool waren Kurt und seine Freunde hinter leerstehenden oder halbbewohnten Häusern her, brachen dort ein und zerstörten alles, was sie finden konnten. Kurt hatte schon lange ein bestimmtes Haus mieten wollen, das ihm als idealer Probenraum erschienen war, weil es abgeschieden mitten in einem Feld stand, aber der Besitzer hatte sich stets geweigert und an jemand anders vermietet. Eines Abends ging Kurt mit einem Freund von einer Party nach Hause, und sie bemerkten, dass das Haus wieder einmal leerstand. Sie brachen ein und wurden zu Berserkern, rissen alles heraus, zerbrachen jedes einzelne Fenster und zertrümmerten alles, was es sonst noch gab, mit herumliegenden Hantelscheiben. „Ich habe meine Revanche bekommen“, sagte Kurt.
Schließlich nahm Kurt eine Stelle als Hausarbeiter beim YMCA an, nur etwa einen Block entfernt von Shillingers Haus – vor allem, weil er sich einiges an Musikausrüstung kaufen wollte, falls er doch eine Band finden würde. Morgens spazierte er zur Arbeit, meldete sich bei seinem Boss und ging dann wieder nach Hause, um den ganzen Tag herumzusitzen, fernzusehen und zu trinken, bis die Arbeitszeit vorbei war. Manchmal musste er die Graffiti entfernen, die er selbst in der vorhergehenden Nacht angebracht hatte. Kurze Zeit später bekam Kurt den einzigen Job, den er wirklich geliebt hat: als Schwimmlehrer für Kinder im Alter zwischen drei und sieben.
Kurts erster Live-Auftritt fand zusammen mit Dale Crover am Schlagzeug und Buzz Osborne am Bass in der GESCCO Hall statt, einer schuppenartigen Auftrittsmöglichkeit in Olympia, die auf dem Gelände des Evergreen State College steht. Der Auftritt bestand im Grund darin, dass Kurt seine Texte zu improvisiertem Heavy Rock brüllte. Das Trio nannte sich eigentlich Brown Towel, aber ein Druckfehler machte daraus auf dem Plakat Brown Cow. Kurt war extrem nervös. „Ich musste mich betrinken. Ich schüttete mich mit Wein voll.“
Es gab nur wenige Zuschauer, und die Reaktionen waren matt, aber zwei Leute im Publikum waren hingerissen: Slim Moon – ein Szenemacher im Olympia – und sein Kumpel Dylan Carlson, ein selbsternannter Intellektueller und Gitarrist in den verschiedensten Bands der Gegend. Die beiden kannten Kurt als Begleiter des Melvins-Trosses, aber jetzt war er plötzlich mehr. „Unser Eindruck von Kurt änderte sich damals völlig – vom New Waver aus dem Melvins-Clan zu einem, der wirkliches Talent hatte“, meinte Slim Moon. Carlson, der jetzt die eine Hälfte des Ultra-Heavy-Gitarrenlärm-Duos Earth ist, ging nachher zu Kurt und sagte ihm, die Show wäre eine der besten gewesen, die er jemals gesehen hätte. Sie trafen einander daraufhin immer wieder bei Shows in Olympia und wurden bald enge Freunde.
In der Zwischenzeit hatte Kurt begonnen, mit einem Dealer namens Grunt herumzuhängen. „Er war so etwas wie Drogenteufel und -gott zugleich.“ Grunt war ein widerlicher Typ, aber die Leute suchten seine Gesellschaft, weil er fähig war, praktisch jede Art von Drogen zu besorgen. Damals wusste es niemand, aber er organisierte einen Großteil seiner Ware durch Apothekeneinbrüche mit seinem Liebhaber, einem homosexuellen Strichjungen. Grunt versorgte Kurt mit Percodan, einem Stück für Stück in Folie verpackten Schmerzmittel auf Opiatbasis, und verlangte von ihm nur einen Dollar pro Tag. Kurt mochte Percodan, weil es ihn „entspannte“. „Es war der schönste euphorische Zustand, in dem ich jemals war. Es war wie schlafen. Ich war so nahe am Schlaf, wie ich nur sein konnte, ohne tatsächlich schlafen zu müssen.“
Kurt war so naiv, dass er nicht wusste, dass Percodan süchtig machte, und wurde abhängig, ohne es zu bemerken. Am Ende nahm er bis zu zehn Percodan am Tag und wurde „richtig gierig“. Nach etwa zwei Monaten versiegte Grunts Quelle, und Kurt hatte einen Entzug. „Es war nicht so schlimm“, sagte er. „Ich hatte Durchfall und lag ein paar Tage schwitzend in Erics Bett.“
Eines Abends nahmen Grunt und Kurt zusammen Heroin. Grunt gab ihm die Spritze. „Es machte mir Angst“, sagte Kurt. „Aber ich hatte es immer schon tun wollen, ich wusste, dass ich es einmal tun würde.“ Er war sich nicht sicher, warum er davon so überzeugt war. „Ich weiß nicht. Ich wusste es einfach.“
Außerdem hatte er bis dahin schon so ziemlich jede Droge mit Ausnahme von PCP genommen („Ich hatte von Leuten gehört, die darauf völlig durchdrehten und von Häusern heruntersprangen“). Heroin war die endgültige Sache. Ein weiterer Grund für seine Anziehungskraft lag im dekadenten Glanz, den die Droge durch ihre Verbindung mit Rockstars wie Keith Richards und Iggy Pop erhalten hatte. „Iggy Pop war mein absolutes Idol“, sagte Kurt. „Ich wollte es einfach probieren, weil ich wusste, dass ich Opiate mochte. Und Heroin war in Aberdeen so selten am Markt, dass ich die Gelegenheit sofort ergriff.“ Kurt wusste, dass er kaum abhängig werden würde, da es in Aberdeen keine ständige Quelle gab.
Die mit Heroin verbundene Illusion von Euphorie war vielleicht auch ein Punkt, jede Euphorie war in Kurts Leben eine Seltenheit. Schon in der Highschool hatte ihn seine Umwelt so aus der Fassung gebracht, dass er mit nervösen Ticks reagierte – mit den Knöcheln knacken, im Gesicht herumkratzen, die Haare wild schütteln. Seine Augen zuckten. Er hatte schon gefürchtet, schizophren zu werden.
„Es war eine Mischung aus Hass, weil die Leute meinen Erwartungen nicht gerecht wurden, und dem Überdruss, es immer mit den selben Idioten zu tun zu haben“, sagte er. „Meine Feindseligkeit gegenüber allen stand mir buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Ich hatte diese Rachegefühle, weil sie alle so machomäßig und dumm waren. Es begann mir langsam selbst aufzufallen, dass die Leute diese Ausstrahlung bemerkten.“.
Kurt war überzeugt, dass jeder von seiner Einstellung wusste, und das machte ihn nur noch mehr neurotisch. Er wurde immer paranoider, weil er überzeugt war, dass jeder wusste, dass er jeden Moment