Nirvana. Michael AzerradЧитать онлайн книгу.
wo die Holzfäller Kahlschlag betrieben haben, durch große stoppelige Narben verunstaltet sind. Von Osten kommend, fällt einem am Wishkah River zuallererst der langgestreckte hässliche Weyerhauser-Holzlagerplatz ins Auge, auf dem die entasteten Leichen einstmals stolzer Bäume wie Opfer eines Massenmordes übereinandergestapelt sind. Von der anderen Seite des Flusses aus überblickt eine lange Reihe von Imbiss-Buden die Szene.
Das Holzfällergewerbe bestimmt die Stadt; besser gesagt, es bestimmte sie einmal. Das Geschäft ist über die Jahre immer schlechter geworden, eine Kündigungswelle macht Aberdeen immer mehr zu einer Geisterstadt. In Zeiten wie diesen gibt es in den Straßen der Stadt immer mehr leere oder mit Brettern vernagelte Geschäftslokale. Lediglich Kneipen wie das Silver Dollar oder eine mit dem passenden Namen Pourhouse und der von Schusswaffen, Motorsägen und elektrischen Gitarren überquellende örtliche Pfandleiher florieren. Die Selbstmordrate im Grays Harbour County ist eine der höchsten in den ganzen Vereinigten Staaten; die Trunksucht greift um sich, und Crack gibt es hier auch schon seit Jahren.
Die Menschen konzentrieren ihren Hass auf die Schleiereule – Kochrezepte für diese bedrohte Art findet man hier auf vielen Autoaufklebern –, obwohl die Dezentralisierung der Holzindustrie, die steigenden Arbeitskosten und die Automation die wahren Ursachen der Arbeitslosigkeit sind. Eine der größten Sägemühlen der Stadt beschäftigte früher jede Menge Arbeiter, jetzt gibt es dort nur mehr fünf: vier Menschen und eine computerisierte Schneidemaschine mit Lasertechnik.
Eine der schnellstwachsenden Industrien in der Gegend ist der Anbau von Marihuana und psychedelischen Pilzen. Die Leute tun das, um ihre mageren oder gar nicht vorhandenen Einkommen aufzubessern.
Die Verhältnisse waren nicht immer so hart. Früher einmal war Aberdeen ein geschäftiger Hafen gewesen, in dem die Seeleute gerne Rast, Essen und gemietete weibliche Begleitung suchten. Tatsächlich war die Stadt ein riesiges Bordell, dessen Mittelpunkt auf der berüchtigten Hume Street lag (die Stadtväter benannten sie in den fünfziger Jahren in State Street um, um die Erinnerungen zu tilgen). Später wurde die Stadt ein Eisenbahn-Endbahnhof und Stützpunkt für Dutzende von Sägemühlen und Holzfällerfirmen. Aberdeen wimmelte nur so von alleinstehenden jungen Männern, die mit der Holzindustrie eine Menge Geld machten, und die Prostitution florierte. Es gab teilweise bis zu fünfzig Bordelle (sogenannte „Frauenpensionen“) gleichzeitig. Die Prostitution währte bis in die späten fünfziger Jahre, als ein hartes Durchgreifen der Polizei der Sache ein Ende machte. Manche sagen, dass die rühmlose Vergangenheit der Stadt ihren Bewohnern einen Minderwertigkeitskomplex beschert hat.
Genau dort wurde Kurt Donald Cobain am 20. Februar 1967 geboren, seine Eltern waren die Heimarbeiterin Wendy Cobain und ihr Mann Donald, Mechaniker beim Chevron-Stützpunkt der Stadt. Die junge Familie verbrachte die erste Zeit in einem Miethaus im nahegelegenen Hoquiam. Als Kurt sechs Monate alt war, zogen sie nach Aberdeen.
Kurt wusste während seiner gesamten Kindheit und Jugend nicht, woher sein Familienname kam. Seine Großmutter mütterlicherseits stammte aus Deutschland, aber das war auch schon alles. Erst kürzlich hatte er entdeckt, dass der väterliche Zweig seiner Familie von Vollblut-Iren abstammt und dass Cobain eine Verballhornung des Namens Coburn ist.
Obwohl die Cobains nur über bescheidene Mittel verfügten, ließ sich das Leben für ihren goldlockigen Sohn gut an. „Meine Mutter war mir körperlich immer sehr zugetan“, sagte Kurt. „Wir küssten uns zum Abschied und umarmten uns. Das war wirklich cool. Es überrascht mich immer wieder, dass es das in vielen Familien nicht gibt. Das waren damals glückliche Zeiten.“
Kurts Schwester Kim wurde drei Jahre nach ihm geboren, aber Kurt und seine Mutter hatten schon ein festes Band geknüpft. „Das Erstgeborene ist besonders“, sagte Wendy, die jetzt zum zweiten Mal verheiratet ist und mit ihrem Mann und der acht Jahre alten Tochter noch immer im selben Haus in Aberdeen lebt. „Kein Kind kann auch nur annähernd an das herankommen. Ich war total auf ihn fixiert. Jede wache Stunde meines Lebens gehörte ihm.“
Kurt war offensichtlich ein sehr aufgewecktes Kind. „Ich habe einmal sogar meine Mutter angerufen“, erinnerte sich Wendy, „und ihr erzählt, fast etwas beunruhigt zu sein, weil er Dinge wahrnahm, die sonst kein Kind in seinem Alter bemerkte.“
Kurt zeigte sein Interesse für Musik schon mit zwei Jahren, was an sich nicht überrascht, da der mütterliche Zweig der Familie sehr musikalisch ist – Wendys Bruder Chuck war in einer Rock’n’Roll-Band, ihre Schwester Mary spielte Gitarre, und auch alle anderen hatten die eine oder andere musikalische Begabung. Zu Weihnachten wurde immer gemeinsam gesungen oder parodiert.
Ein Onkel von Wendy war nach Kalifornien gezogen, hatte seinen Namen von Delbert Fradenburg in Dale Arden geändert, dort opernhafte Balladen gesungen und in den späten Vierzigern und frühen Fünfzigern ein paar Platten aufgenommen. Er schloss Freundschaft mit dem Schauspieler Brian Keith (der später Star der Sechziger-Situationskomödie „Family Affair“ wurde) und mit Jay Silverheels, dem Tonto in der Femsehserie „Lone Ranger“. „Es gab also schon vorher Berühmtheiten in der Familie“, scherzte Wendy.
Tante Mary gab Kurt Platten von den Beatles und den Monkees, als er ungefähr sieben war. Sie lud ihn immer wieder in ihr Haus zu den Proben ihrer Band ein. Mary – eine Country-Musikerin, die immerhin auch schon eine Single aufgenommen hatte – spielte jahrelang in verschiedenen Bar-Bands in der Gegend, manchmal trat sie allein im Riviera Steak House auf, und einmal belegte sie bei einem lokalen Femsehwettbewerb namens „You Can Be a Star“ den zweiten Platz.
Mary versuchte, Kurt das Gitarrespiel beizubringen, aber er hatte nicht die Geduld dazu – Tatsache ist, dass er überhaupt kaum zum Stillsitzen zu bewegen war. Die Ärzte stellten sogar die Diagnose „Hyperaktivität“.
Wie viele Kinder aus seiner Generation wurde Kurt mit dem Medikament Ritalin behandelt, einer Art Speed, das gegen die Hyperaktivität wirkt. Das Ritalin hielt ihn bis vier Uhr morgens wach, und Beruhigungsmittel bewirkten nur, dass er in der Schule einschlief. Schließlich strich man Zucker und den berüchtigten „roten Farbstoff Nummer zwei“ aus seiner Ernährung, und es half. Für ein hyperaktives Kind war es allerdings sehr schwer, ohne Zucker auszukommen, berichtete Wendy: „Sie sind mehr oder weniger süchtig nach Zucker.“
Aber nicht einmal das Süßigkeitsverbot dämpfte Kurts aufgewecktes Wesen merklich. „Er erwachte jeden Morgen mit einer Riesenfreude auf den neuen Tag“, sagte Wendy. „Er war so enthusiastisch. Er stürmte aus dem Schlafzimmer und war total aufgeregt und begierig auf das, was ihm der neue Tag bringen würde.“
„Ich war ein extrem glückliches Kind“, sagte Kurt. „Ich brüllte und sang die ganze Zeit über. Ich wusste nie, wann es genug war. Manchmal machten sich die anderen Kids lustig über mich, weil ich gar so wild aufs Spielen war. Ich nahm das Spielen sehr ernst. Ich war einfach wirklich glücklich.“ Da Kurt das erste Kind seiner Generation war, stritten sich sieben Tanten und Onkeln, wer den Babysitter spielen durfte. Da er es gewohnt war, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, unterhielt er jedermann, der ihm nur zusehen wollte. „Er war sehr schauspielerisch veranlagt“, sagte Wendy. „Er warf sich sogar mitten in einem Geschäft auf den Boden, um einem alten Mann, der ihn so gerne singen hörte, einen Gefallen zu tun.“ Eine von Kurts Lieblingsplatten war Alice’s Restaurant von Arlo Guthrie. Er sang vor allem Guthries „Motorcycle Song“ sehr häufig. „Ich möchte keine Schwierigkeiten/ Ich möchte nur auf meinem Motorrad fahren/ Und ich will nicht sterben!“
Als er sieben war, schenkte ihm seine Tante Mary eine Basstrommel. Kurt hängte sie sich um und marschierte in der ganzen Gegend auf und ab. Dabei trug er eine Jagdkappe und die Tennisschuhe seines Vaters, schlug die Trommel und sang Beatles-Lieder wie „Hey Jude“ und „Revolution“.
Kurt mochte es gar nicht, wenn Männer ihre Blicke auf Wendy warfen – sie war eine sehr attraktive Frau mit blondem Haar und hübschen blauen Augen. Don schien das nie viel auszumachen, aber Kurt wurde immer zornig und eifersüchtig – „Mama, dieser Mann starrt dich an!“, rief er dann. Einmal sagte er sogar einem Polizisten deutlich seine Meinung.
Schon mit drei Jahren mochte Kurt Polizisten nicht besonders. Immer wenn er einen sah, sang er ein kleines Lied: „Nehmt euch die Cops vor! Die Cops kommen! Sie werden euch umbringen!“ –