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Der evangelische Patient. Fabian VogtЧитать онлайн книгу.

Der evangelische Patient - Fabian Vogt


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lassen sich auch gut in Gemeindevorständen durchgehen, in einem Hauskreis besprechen, in einem Diskussionsabend behandeln oder für eine Predigtreihe nutzen. Wir würden uns freuen, wenn unsere Impulse im Kirchenalltag einen Heilungsprozess anregen würden – selbst dann, wenn Sie bei der »Therapie« zu anderen Ergebnissen kommen als wir.

      Wie gesagt: Eine Erneuerung wird nur einer ehrlichen Bestandsaufnahme entspringen. Und wir finden, dass die Heilungsgeschichten des Neuen Testaments dazu viele Inspirationen bieten. Übrigens nicht nur für die Institution Kirche, sondern auch für jede und jeden Einzelnen – denn letztlich lassen sich die Heilungsprozesse, die wir beschreiben, auf alle Ebenen des Daseins übertragen.

      Also: Wenn Sie der Überzeugung sind, die Evangelische Kirche sei kerngesund, dann ist dieses Buch nichts für Sie. Dann halten Sie sich zuversichtlich an den Satz Jesu: »Die Gesunden brauchen keinen Arzt«. Wenn Sie aber wie wir den Eindruck haben, dass die Kirche zurzeit ihr volles Potential nicht erreicht, und wenn Sie Lust haben, daran etwas zu ändern, dann lassen Sie uns gemeinsam anfangen. Jetzt!

      Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke. Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: »Willst du gesund werden?« Der Kranke antwortete ihm: »Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.« Jesus spricht zu ihm: »Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!« Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

      1.Willst du gesund werden?

       Der Gelähmte am Teich Betesda – Johannes 5,1–15

      »Willst du gesund werden?« Etwas eigenartig klingt die Frage schon. Schließlich liegt der Mann seit 38 Jahren krank darnieder. Das ist eine lange Zeit. Und der Mann hat sich weitgehend an den Zustand seiner Krankheit gewöhnt. Vielleicht hat er sich anfangs dagegen aufgelehnt, aber sich, nachdem er merkte, dass alle Bemühungen vergeblich waren, mit seiner Krankheit arrangiert und einigermaßen in ihr eingerichtet.

      Der Punkt dabei ist: Jede Krankheit nimmt uns etwas. Sie schränkt unsere Lebensmöglichkeiten ein, unsere Lebensfreude und unsere Lebenskraft. Jede Krankheit gibt uns aber auch etwas. So bringt Krankheit es in vielen Fällen mit sich, dass man von Alltagspflichten entbunden wird. Und man erfährt viel Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Mitgefühl seitens der Menschen ringsum. Psychologinnen und Psychologen sprechen in solchen Fällen vom »sekundären Krankheitsgewinn«. Dieser ist keineswegs verwerflich. Für viele Krankheiten zahlen wir einen hohen Preis, und es ist nur fair, wenn uns das Leben zumindest ein wenig davon in Form von kleinen Entlastungen zurückgibt.

      Freilich hat der sekundäre Krankheitsgewinn seine Tücken. Überlegen Sie mal: Dieser Mensch ist 38 Jahre krank. Er hat sich daran gewöhnt, nicht mehr aufstehen zu können. Ab und zu unternimmt er einen neuen Versuch, aber er schafft es einfach nicht. Immer halbherziger werden im Lauf der Zeit seine Anstrengungen, immer mehr verfestigt sich in seinem Inneren die Überzeugung: »Es geht einfach nicht.« Mehr und mehr gibt er sich mit seinem Zustand zufrieden. Mehr, so sagt er sich, kann man vom Leben eben nicht erwarten. Immer wieder sucht seine Seele nach Begründungen dafür, warum das Leben, das er führt, so sein muss – und findet sie auch. Warum es so, wie es ist, gut und richtig ist, warum es nicht anders geht und: warum es auch gar nicht anders sein sollte.

      Vielleicht ist die Frage Jesu: »Willst du gesund werden?« gar nicht so absurd, wie sie im ersten Moment anmutet. Bedenken Sie, was der Kranke alles aufgeben müsste. Nicht nur die genannten kleinen Vorteile, die mit der großen Benachteiligung einhergehen – das wäre noch okay. Aber er müsste sich auch eingestehen, dass die ganzen Argumente und Gründe, die er im Lauf der Jahrzehnte zur Rechtfertigung seines Zustandes aufgeboten hatte, lediglich dazu dienten, ein falsches Selbst- und Weltbild zu stützen. So etwas gibt niemand gerne zu. Und noch etwas käme hinzu: Er müsste sich anstrengen. Gesundwerden ist nämlich durchaus mühevoll. Wenn man 38 Jahre fest gelegen hat, ist es alles andere als leicht, aufzustehen, sein Bett (und sei es nur eine Matte) unter den Arm zu nehmen und loszulaufen. In unserer Geschichte liest sich das so leicht. In aller Regel aber ist das ein überaus mühsamer Prozess.

       Die Frau, die nicht mehr aufstand

      Ich habe vor einiger Zeit eine Geschichte gelesen, von der ich fürchte, dass sie wahr ist: Eine 34-jährige Frau in England bekommt eine Grippe. Der Arzt besucht sie und verordnet ihr, im Bett zu bleiben, bis er das nächste Mal vorbeikommt. Dieser Arzt taucht aber – aus welchen Gründen auch immer – nie wieder auf. Die Frau wird nach einigen Tagen wieder gesund, doch sie bleibt im Bett liegen. Genau so, wie es ihr der Arzt gesagt hat.

      Nach einigen Wochen stellt die Frau fest, dass es ganz angenehm ist, im Bett zu bleiben und bedient zu werden. Als ihre Mutter nach einigen Jahren stirbt, übernimmt ein Schwager die Betreuung, und so bleibt die Frau 40 Jahre im Bett, bis ein neuer Arzt vorbeikommt und feststellt, dass die Frau, die mittlerweile 74 Jahre alt ist, im Grunde kerngesund ist. Aufstehen kann sie allerdings nicht mehr. Sie ist zu dick geworden und ihre Muskeln zu schwach. Durch gutes Zureden und Therapie wird die Frau sieben Monate später auf die Beine gestellt und lebt noch drei Jahre. Sie stirbt mit 78 Jahren. Mehr als die Hälfte davon hat sie im Bett verbracht.

      Der Mensch kann sich an alles gewöhnen, sogar an sein Elend. Es ist ja durchaus auch bequem, sich festzulegen … auf einen Standpunkt, auf bestimmte Umstände oder eine bestimmte Rolle – oder auf das Bett der Tradition: »Das haben wir schon immer so gemacht« oder einer bestimmten Theologie: »Das was wir machen, funktioniert zwar nicht, ist aber theologisch richtig.«

      Und ehe man sich versieht, ist man wie gelähmt. Selbst, wenn man jetzt noch anders wollte: Es geht nicht mehr. Kennen Sie das, dass Sie gerne mal so ganz anders sein möchten, dass Sie mal über Ihren Schatten springen, mal verborgene Seiten Ihrer Persönlichkeit aufdecken und entfalten wollen, aber Sie tun es nicht, denn Sie sind auf die eine oder andere Weise festgelegt? Ödön von Horváth bringt dieses Lebensgefühl gut auf den Punkt: »Eigentlich bin ich ganz anders. Ich komme nur so selten dazu.«

      Wer das jemals empfunden hat, weiß: Das ist kein schönes Gefühl. Und doch kann sich glücklich preisen, wer diesen Schmerz noch verspürt. Denn das bedeutet, dass unsere Instinkte noch funktionieren, dass es einen Bereich unserer Seele gibt, der sich mit der vorgeblichen Wirklichkeit nicht arrangieren will. Wenn wir diesen Schmerz gar nicht mehr empfinden, bedeutet das, dass wir aufgegeben haben … und dass wir den Glauben verloren haben, dass es über diese vorfindliche Wirklichkeit hinaus noch andere Möglichkeiten gibt. Solange der Schmerz noch brennt, besteht Hoffnung. Es gibt wirklich gute Gründe, warum Jesus fragt: »Willst du gesund werden?«

      Zwei Geschichten, eine Aussage: Wenn wir lange genug auf einer Matte festliegen, legt am Ende die Matte uns fest. Das gilt für den Mann am Teich wie für die Frau, die nicht mehr aufstand. Und es gilt leider auch für unsere Kirche.

       Der evangelische Patient

      Es wird Zeit, dass wir auf jenen Patienten zu sprechen kommen, um den es in diesem Buch gehen soll. Wo liegen die Parallelen zwischen dem Kranken am Teich Betesda und dem »evangelischen Patienten«, der protestantischen Kirche? Wir zögern etwas, diesen Punkt näher auszuführen. Schließlich wollen wir unser Nest nicht beschmutzen und fragen uns, wie wir der Kirche, die wir schätzen und lieben, hier einen Spiegel vorhalten können, ohne sie bloßzustellen und zu beschämen. So ganz vermeiden lässt sich das vermutlich nicht. Deshalb ist uns wichtig, dass wir uns selbst von diesem schmerzhaften Blick in den Spiegel nicht ausnehmen. Die Kirche, von der wir reden und die der Heilung bedarf, ist nicht »irgendwo da draußen« oder »irgendwer anders«, sondern das sind erst einmal wir selbst. Und in diesem Sinne bitten wir Sie auch, dieses Buch zu lesen.

      Was


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