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Der evangelische Patient. Fabian VogtЧитать онлайн книгу.

Der evangelische Patient - Fabian Vogt


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Oder um im Bild der Heilung zu bleiben: »Wie können wir den Menschen im Gottesdienst mit Worten, Gesten oder Symbolhandlungen ›die Hände auflegen‹ – und zwar so, dass sie davon ›angerührt‹ werden?« Und: Haben wir den Mut, uns einzugestehen, dass wir in unseren Veranstaltungen viel seltener Menschen berühren, als es der Fall sein sollte?

      Immerhin, ein Pfarrkollege erklärte vor einigen Jahren erschreckend ehrlich: »In meinen Gottesdienst würde ich auch nicht gehen.« Und die Nachfrage ergab, dass der Kollege das, was er jeden Sonntag laut Kirchenordnung zelebrieren sollte, weder für sich noch für die Gemeinde als »berührend« empfand. Eine der Herausforderungen (nicht nur für die Predigt, sondern für das Gottesdienstgeschehen an sich) wird deshalb ein neues Bewusstsein dafür sein, wie unser Tun Menschen existentiell erreicht. Es geht nicht um Informationsvermittlung, sondern um Relevanz – und um Transformation: Ist das, was wir miteinander feiern, für die Frauen und Männer, die da gekommen sind, von existentieller Bedeutung? Hat es die Kraft, etwas in ihnen zu bewegen?

      Das gilt übrigens auch für unsere Geschichte von der verkrümmten Frau: Es ist relativ uninteressant, ob und wie Jesus vor 2000 Jahren einer Kranken geholfen hat, wieder aufrecht zu gehen, wenn ich als Leserin oder Leser nicht glaube und erwarte: »So ein wundervolles Aufrichten, das kann auch mir widerfahren.«

      Eines zumindest ist den meisten bewusst: Berührend wird ein Gottesdienst vor allem dann, wenn ich als Besucherin oder Besucher nicht nur Konsumentin oder Konsument, sondern Teilhaberin oder Teilhaber bin. Wenn es einen Unterschied macht, ob ich da bin oder nicht. »Interaktivität« heißt hierbei das Zauberwort. Natürlich kann es auch in liturgischen Formen und in gemeinsamem Gesang zu berührenden Erlebnissen kommen, trotzdem lohnt es sich immer, über weitergehende partizipative Elemente nachzudenken. Die Frage ist also: Wie wird aus der kommunikativen Einbahnstraße vom Altarraum in die Gemeinde ein Dialog, in dem die Gäste sich als prägenden Teil des Gottesdienstes erleben?

      Übrigens passiert das auch in unserer Heilungsgeschichte: Indem Jesus die Frau zu sich ruft, sie anspricht und ihr die Hände auflegt, holt er sie aus ihrer passiven Rolle heraus und ruft sie in eine aktive Rolle. Während sie vorher nur erwartungslose Predigthörerin war, ist sie jetzt hoffnungsvoll in das Geschehen eingebunden – schon deshalb, weil sie dem Ruf Jesu folgt und zu ihm läuft.

      Darum ist es ganz logisch, dass sie nach ihrer Heilung begeistert anfängt, Gott zu loben. Aus der passiven, in sich gekrümmten Kranken, die erst aus ihrem Schneckenhaus herausgerufen werden musste, ist eine aktive, selbstbewusste Person geworden, die sich nicht mehr darum schert, was die Leute um sie herum über sie denken. Sie fängt einfach an zu jubeln. Mitten in der Synagoge. Im Gottesdienst. Als Frau. Und ihr ist völlig egal, ob sich das so gehört oder nicht oder ob eigentlich Jesus als Prediger gerade das Wort hat; sie kann gar nicht anders, als ihrer Freude Ausdruck zu verleihen.

      Jetzt mal unter uns: Wie wäre das, wenn in unseren Gottesdiensten öfter mal Menschen aufstehen und jubeln würden, weil sie das Wirken Gottes am eigenen Leib erfahren haben? Weil sie berührt wurden? Wir wissen: Das klingt ziemlich »charismatisch«. Und wir tun uns auch schwer, wenn Menschen den Frohsinn zum Dauer-Ritual machen. Aber die »Heilung der gekrümmten Frau« zeigt: Wenn Menschen von Gott berührt werden, dann fangen sie an zu jubeln. Und das sollte in einem Gottesdienst selbstverständlich sein. Da hilft es nichts, stattdessen Loblieder zu singen, deren Botschaft die Gesichter, Herzen und Hände der gottesdienstlichen Gemeinde offensichtlich nicht erreicht.

      Wir besuchten vor einigen Jahren mit einer kleinen afrikanischen Delegation einen evangelischen Gottesdienst in Deutschland. Die Gruppe verstand kein einziges Wort Deutsch … und war deshalb vollständig darauf angewiesen, die Körpersprache sowohl des Pastors als auch der beteiligten Gemeindeglieder zu lesen. Ihre erschütternde Rückmeldung danach war: »Wenn wir es nicht gewusst hätten, wären wir nie darauf gekommen, dass es sich bei diesem Geschehen um einen Gottesdienst handelt. Wir haben weder Freude noch Liebe noch Leidenschaft gespürt.«

      Zur Selbsterkenntnis der Evangelischen Kirche gehört vielleicht tatsächlich auch das Eingeständnis, dass bei uns erstaunlich wenig gejubelt wird. Was möglicherweise daran liegt, dass unsere Gottesdienste oft wenig Grund dazu liefern. Diesen Umstand sollten wir schleunigst ändern.

       Der evangelische Patient

      Nun steht da eine beseelte Frau und freut sich aus ganzem Herzen, dass sie wieder aufrecht gehen kann. Halleluja! Und was passiert: Der Synagogenvorsteher fängt an sich zu beschweren. So wie in unseren Gemeinden vermutlich auch einige Leute verstört gucken würden, wenn jemand neben ihnen einen Freudentanz aufführen würde.

      Symbolisch gesprochen geschieht hier folgendes: Die geheilte Frau richtet ihren Blick weg von sich selbst (worauf er wegen ihrer Verkrümmung 18 Jahre lang gerichtet war) hin zu Gott – und der Vertreter der Institution holt sie zurück in die Niederungen des religiösen Betriebs. Was sich vor allem darin zeigt, dass er erstaunlicherweise weder Jesus noch die Frau angreift, sondern die gesamte Gemeinde, die er mit harschen Worten daran erinnert, was sich gehört und was nicht: »Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: ›Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag.‹«

      Anstatt das Wunder zu würdigen, sich mit der Frau zu freuen und sich zu fragen, ob es ihm eventuell selbst guttun könnte, den Blick frohgemut nach vorne zu richten, fängt er an, Gebote und Kirchenordnungen zu zitieren. Und diese Haltung finden wir in unseren Gemeinden öfter, als uns lieb sein darf. Sie glauben, das wäre übertrieben? Ist es nicht! Wir haben von einer Kollegin gehört, die durch ihr Zweites Theologisches Examen gefallen ist, allein weil sie sich falsch herum zum Altar gedreht hat. Wirklich! Insider wissen: In fast allen protestantischen Kirchen Deutschlands darf sich der Liturg nur über die Herzseite zum Herrn wenden, also linksherum. Sich rechtsrum zum Altar drehen gilt als grober Fehler. Die Frage bei dieser Kandidatin war also nicht, ob sie eine grandiose, bewegende Predigt gehalten hat, sondern, ob sie ein äußeres, von kaum jemanden verstandenes und zudem unbiblisches Ritual ausführen konnte oder nicht. Als hätte sich Jesus jemals dafür interessiert, in welche Richtung sich ein Mensch zum Altar dreht.

      Das mag ein extremes (und auch schon etwas älteres) Beispiel für institutionelle Verkrümmung sein, aber wenn es darum geht, bandscheibenzerstörende (Folter-) Bänke in Kirchen gegen bequeme Stühle auszutauschen, den Gottesdienst familienfreundlich von 9.00 Uhr auf 11.00 Uhr zu verlegen, ein nach dem Jahr 2000 komponiertes Lied zu singen oder an der Liturgie von 1853 erste Aktualisierungen durchzuführen, dann erleben wir oft sehr eindrücklich, wie sich eine an die Tradition gefesselte Kirche selbst lähmen kann. Wie der Blick nach innen den Blick nach außen verhindert.

      Wir reden zwar vom Aufrecht-Gehen, schauen uns aber ständig auf die Füße, beziehungsweise auf die Fußstapfen, die hinter uns liegen, anstatt den Weg zu betrachten, der vor uns liegt. Vermutlich hat Jesus deshalb den berühmten Satz vom Pflügen in die Welt gesetzt: »Wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.« Denn es gilt: Wer eine gerade Furche im Acker ziehen will, der muss dort hingucken, wo er hinwill. Wer dagegen nach hinten oder unten schaut, der fängt an, Schlangenlinien zu laufen. Sprich: Wer das Reich Gottes bauen will, der darf sich nicht von dem beherrschen lassen, was vergangen ist.

      Das klingt jetzt womöglich harsch, aber letztlich passiert in der Evangelischen Kirche heute an vielen Stellen das, was auch Jesus damals mit diesem Vorsteher erleben musste: Tradition ist vielerorts wichtiger als »Heilung«. Und da, wo Ansätze für heilende Prozesse erkennbar sind, werden Menschen aufgrund der kirchlichen Strukturen kritisiert oder ausgebremst. Noch einmal: Die Perspektive des hier für alle reaktionären Kräfte stehenden Synagogenvorstehers ist so eng, dass er im Grunde verkündet: »Gott darf nicht wirken, wenn er sich nicht an die vorgeschriebenen Traditionen hält.« Womit wir am Knackpunkt dieses von einer Heilung ausgelösten Konflikts wären: Die Institution ist wichtiger geworden als das Evangelium.

       Schluss mit der Frevelei!

      Jesus,


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