Die Frauen meines Lebens. Petra NikolicЧитать онлайн книгу.
entweder an Erschöpfung oder weil sie von der begleitenden tschechoslowakischen Revolutionsgarde niedergeschossen werden. Seit Tagen hat es keine ausreichende Verpflegung mehr gegeben. In den Ortschaften, die sie durchwandern, werden sie überfallen und ihrer letzten Habe beraubt.
Ein Mann nimmt Ingrid die Puppe weg, er reißt sie ihr einfach aus dem Arm. Sie weint bitterlich. „Weine nicht, du bist doch schon ein großes Schulkind. Du brauchst keine Puppe mehr“, beruhigt Großmutter ihre Tochter. Dann kommt ein anderer Mann und versucht, Großmutter den Mantel vom Körper zu reißen. „Lassen Sie der Frau doch den Mantel. Sehen Sie denn nicht, dass sie schwanger ist“, herrscht ihn eine Frau an, die neben ihr läuft. Der Mann geht ohne den Mantel weg.
Tagelang sind sie unterwegs, ohne Trinken und Essen. Sie laufen bis zur Erschöpfung. Nur an den Bahnhöfen können sie etwas Wasser trinken, dann geht es weiter. Irgendwann in der Nacht kommen sie in Prag an. Dort wird der zerlumpte Haufen in das Prager Fußballstadion Strahov getrieben, das zum Sammellager umfunktioniert wurde. Es gibt keine Toiletten, nur offene Latrinen mitten im Lager. Keine Waschräume, kein Essen. Jeden Tag sterben Menschen. Die Leichen werden zu hohen Bergen aufgetürmt. Großmutter und Ingrid sehen die Toten, und ihre zerbröselten Gesichter leben in ihnen weiter, erscheinen nachts in ihren Träumen, verlassen sie nie wieder.
Immer mehr Menschen sterben und werden in Schubkarren weggefahren. Großmutter ahnt, dass der Tod auch bald ihr Schicksal sein wird, wenn sie nichts unternimmt. Mit dem Mut der Verzweiflung trifft Großmutter die lebensrettende Entscheidung: Wir fliehen aus dem Lager.
„Ich wusste, dass wir sterben würden, wenn wir hier blieben. Es gab keine Waschräume, Krankheiten verbreiteten sich. Es hieß, die Grenzen sind zu, keiner kommt mehr rüber. Aber ich wollte es trotzdem versuchen.“
Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von mutigen Männern und Frauen organisieren sie die Flucht. Sie besorgen sich heimlich alles Nötige, was sie für die Flucht brauchen. Nachts brechen sie auf. Schon Tage zuvor haben sie ein Loch in den Zaun geschnitten und dann wieder mit Draht geschlossen, so dass es niemand sieht. Ein Mann hat eine Taschenlampe dabei. Ein Rascheln im Unterholz – Ingrid erschrickt. Aber sie läuft weiter. Großmutter hat sie ganz fest an der Hand. „Du brauchst keine Angst zu haben, es wird alles gut werden“, flüstert sie dem Kind zu. Die Stille des Waldes umhüllt sie wie eine weiche Decke. Sie fliehen durch den Wald, bis sie an die Grenze nach Oberbayern kommen. Dort stehen sie wie benommen, keiner wagt etwas zu sagen. „Da schau Ingrid, dort ist Deutschland. Da kann uns niemand mehr holen“, sagt Großmutter.
Die kleine Gruppe löst sich an der Grenze auf und jeder versucht, alleine durchzukommen. Großmutter findet mit Ingrid Unterschlupf auf einem Bauernhof. Nachdem sie sich ein paar Tage erholt haben und wieder zu Kräften gekommen sind, geht es mit Sonderzügen, die alle Vertriebenen aufsammeln, zurück nach Hause – nach Frankfurt. Als Großmutter in das zerbombte Frankfurt kommt, erkennt sie ihre Stadt nicht wieder. Trümmer, Schutt und Asche haben die Stadt unter sich begraben.
„Alles war zerstört. Nur der Dom stand noch“, erinnert sich Großmutter.
Sie kommen zunächst bei einer Tante in Griesheim unter. Dann geht es zurück in die alte Wohnung nach Höchst. Das Haus steht noch, aber die Wand zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer ist eingestürzt. Großmutter kauft sich eine Maurerkelle, sammelt die Steine ein und fängt an, die Wand wieder aufzubauen. Stein für Stein. Mit jedem Stein denkt sie an Großvater und wartet auf ein Lebenszeichen von ihm. Mit jedem Stein schwindet die Hoffnung. Als die Wand fertig ist, weiß sie, dass er nicht mehr zurückkommt. Vermisst.
Großmutter bleibt allein mit ihren drei Töchtern. Heidi und Karin, die nach Kriegsende auf die Welt kommen, haben ihren Vater nicht mehr gesehen. Sie zieht die Mädchen alleine groß und ist heute noch stolz darauf, dass sie allen drei Töchtern eine gute Ausbildung ermöglicht hat. In den Trümmern der Nachkriegsjahre eine Normalität im Alltag zu schaffen, war für sie die größte Herausforderung. Sie hatte Bombardierung, Vertreibung, Todesmarsch, Flucht und Internierungslager überlebt. Sie würde auch das schaffen.
„Wir wohnten in der Nähe der Bahngleise. Wenn nachts die Güterzüge über die Gleise schepperten, fuhr Ingrid im Schlaf hoch und schrie. Sie war fast nicht mehr zu beruhigen.“
Nachdem die Wohnung in Höchst zu klein geworden ist, suchen sie sich eine helle große Wohnung im Stadtteil Zeilsheim. Ingrid hat inzwischen geheiratet und so zieht sie mit ihrem Mann, meinem Vater, gemeinsam in die neue Wohnung von Großmutter.
Ich trete mit viel Geschrei in ihr Leben. Ich war ein anstrengendes Baby. Tag und Nacht hat sie mich auf den Armen getragen. Wir wohnen alle zusammen: meine Eltern, meine Großmutter und meine Tanten Heidi und Karin. Die Wohnung war riesen-groß: Ich erinnere mich, wie ich mit meinem kleinen Roller durch endlose Flure gefahren bin. Es war praktisch für meine Eltern, dass der Babysitter in der gleichen Wohnung lebte. So konnten sie abends ausgehen, ins Kino oder zum Tanzen, sich mit Freunden treffen, ohne sich Sorgen um ihr Kind zu machen.
Ich war nie allein. Du warst immer bei mir. Du hast mich getröstet, wenn ich nachts vor Schmerzen nicht schlafen konnte, weil sich wieder ein Zahn durch den Kiefer bohrte. Du hast mich in den Arm genommen, ganz sanft hast du mich in den Schlaf gewiegt und wir sind zusammen mit leichtem Flügelschlag über die Wellen und das brausende Meer geflogen.
Dann kommt die Vertreibung aus dem Paradies. Meine Eltern suchen sich eine eigene Wohnung und wir ziehen ans andere Ende der Stadt. Zu allem Überfluss bekomme ich noch ein Brüderchen, das alle Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zieht. Nachts liege ich im Bett und die Sehnsucht nach dir, nach deiner Wärme und Geborgenheit bringt mich um den Schlaf.
Nachdem auch Heidi und Karin verheiratet sind und ihre eigene Familie gegründet haben, fängst du an zu reisen und die Welt zu entdecken. Auf einer Urlaubsreise lernst du einen charmanten Österreicher kennen. Ihr zieht zusammen nach Zell am See. In den Schulferien besuche ich dich oft. Morgens ganz früh schnallen wir die Skier an und sausen los.
Du unternimmst mit Joschi aufregende Reisen, ihr macht Kreuzfahrten und besucht die schönsten Strände der Welt.
Mit einem Bein bleibst du in Frankfurt. Du behältst deine kleine, gemütliche Dachwohnung in einem alten Fachwerkhaus in Zeilsheim. Die Wohnung ist winzig und alle Wände sind schief. Um zur Toilette zu kommen, muss man eine halbe Stiege nach unten gehen. Es gibt kein Waschbecken, nur eine kleine Waschschüssel, eine Seife und ein Krug mit frischem Wasser. Immer wenn du wieder in Frankfurt bist, trommelst du die Familie zusammen und wir sitzen alle mit eingezogenen Köpfen in dem winzigen Wohnzimmer.
In Österreich verbringst du viele glückliche Jahre. Als Joschi stirbt, kommst du zurück nach Frankfurt. Erst wohnst du ein paar Jahre in der kleinen Dachwohnung, doch dann wird in Zeilsheim eine schöne große Wohnung frei. Mit 85 Jahren packst du einfach die Umzugskartons, bestellst einen Möbellaster und ziehst um.
Das sieht nach Glück aus, doch das Schicksal lässt nicht locker. Das Unglück kommt ein zweites Mal. Wieder verlierst du ein Kind. Karin stirbt an Krebs. Ich sehe dich vor mir, wie du in Hamburg im Krankenhaus stehst und auf den Hafen schaust. Du denkst an die unbeschwerten Tage, die du mit Karin hier verbracht hast. Die Fahrten mit dem Fischerkutter aufs Meer, das Krabbenpulen, das du so mochtest, der Duft von Seetang in der Luft, die Adventssonntage auf einer Alsterfähre. Plötzlich ist alles wieder da: die Angst, die Verzweiflung, die Ohnmacht – das Gefühl, nicht die Macht zu besitzen, jemanden, den man liebt, zu retten und bei sich zu behalten.
Karin verliert den Kampf gegen den Krebs und zum zweiten Mal in deinem Leben hältst du ein totes Kind im Arm. Dann kommt die Löwin in dir zum Vorschein. Du setzt gegen den Willen ihres Mannes durch, dass Karin von Hamburg nach Frankfurt überführt wird und hier ihre letzte Ruhe findet. In deiner Nähe.
„Ich war nie wieder am Grab meiner Elke. Ich weiß nicht, ob es ihr Grab in Tschechien noch gibt. Aber Karin will ich bei mir haben. Ganz nah.“
Die Beerdigung von Karin – eine Erinnerung, die schaudern lässt, wie in einem Truffaut-Film. Ein großer Reisebus hält auf dem Parkplatz vor dem Friedhof. Die Tür öffnet sich und 50 Frauen steigen aus. Alle schwarz gekleidet. Sie sehen aus wie Raben. Sie nehmen dich in ihre Mitte und gemeinsam sagt ihr Karin