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Die Göttinnen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.

Die Göttinnen - Heinrich Mann


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Er ließ sie an seiner Verschwendung teilnehmen, er ließ das einsame Kind im schrankenlosen Luxus eines fürstlichen Haushaltes aufwachsen: das beschwichtigte sein Gewissen. Übrigens baute er auf den Familiensinn des unverheirateten Herzogs.

      Violante sah den Vater nur einmal im Jahr. Ihre Mutter hatte sie nie gekannt, doch brachte er immer eine Mama mit, jedes Mal eine andere. Im Laufe der Zeit zogen blonde und braune Mamas an dem Kinde vorüber, magere und sehr dicke; Mamas, die sie zwei Sekunden lang durch ein Lorgnon betrachteten und weitergingen, und andere Mamas, die anfangs beinahe schüchtern schienen und am Ende ihres Aufenthaltes fast zu Spielgefährtinnen geworden waren.

      Das Kind gewöhnte sich, den Mamas mit leisem Spott zu begegnen. Warum führte der Papa sie her? Sie überlegte:

      "Zur Schwester möchte ich keine von ihnen."

      "Aber auch nicht als Kammerfrau," setzte sie hinzu.

      Mit dreizehn Jahren erkundigte sie sich: "Papa, warum bringst du immer nur eine mit?"

      Der Graf lachte; er fragte:

      "Weißt du noch, die bunten Scheiben?"

      Die Mama des vorigen Sommers hatte die Sucht gehabt, überall farbige Gläser einsetzen zu lassen. Sie musste das Meer rosig sehen und den Himmel gelb.

      "Es war eine gute Person," sagte Violante.

      Plötzlich reckte sie sich stocksteif, tat ein paar vor Vornehmheit behinderte Schritte und führte mit lächerlich gespreizten Fingern das Spitzentuch an den Mund.

      "Das war vor drei Jahren. Die Feine, weißt du."

      Graf Assy krümmte sich. Er machte sich, zusammen mit seinem Kinde, über die Mamas lustig, doch immer nur über die der vergangenen Jahre, niemals über die gegenwärtige. Er versäumte nie, nachzuforschen, ob die Kleine mit ihren Dienern zufrieden sei.

      "Das Schlimmste," so betonte er, "wäre, wenn einer es an Ehrerbietung gegen dich fehlen ließe. Ich würde ihn schwer bestrafen."

      Er zog ernsthaft die Brauen empor.

      "Nötigenfalls würde ich ihm den Kopf abschlagen lassen."

      Es war seine Absicht, dem Kinde eine möglichst hohe Achtung vor der eigenen Person beizubringen, und es gelang ihm. Violante verachtete nicht einmal; es kam ihr niemals der Gedanke, dass außer ihr etwas Nennenswertes vorhanden sein könne. Welchem Lande gehörte sie an? Welchem Volke? Welchem Stande? Wo war ihre Familie? Wo ihre Liebe, und wo ein mitschlagendes Herz? Auf keine dieser Fragen hätte sie eine Antwort gewusst. Ihre natürlichste Überzeugung war, dass sie einzig, dem Rest der Menschheit unzugänglich, und unfähig sich ihm zu nähern sei. Draußen sollten die Türken gehaust haben. Auch gab es keine Assy mehr. Es lohnte sich nicht der Mühe, hinauszulugen zwischen den Gitterstäben des verschlossenen Gartens, worin sie weilte. In ihrem Kinderhirn herrschte eine verständige Resignation. Allem Geheimnisvollen, allem was sich versteckte, brachte sie eine gleichmütige Ironie entgegen: den Mamas von unbekannter Herkunft und Daseinsberechtigung, und auch demjenigen, den ihre Gouvernante den lieben Gott nannte. Die Gouvernante war eine flüchtige Deutsche, die lieber mit einem schönen Lakaien aus dem Hause lief, als dass sie lässig von biblischen Geschichten erzählte. Violante suchte den alten Franzosen auf, der in einem Turmzimmer unter Büchern saß. Er trug die Haube des Alten von Ferney, einen bunten Schlafrock voll von Schnupftabak, und machte den Essai sur les Mœurs zur Grundlage von Violantes Weltanschauung.

      "Die christliche Religion ist zweifellos göttlich, da trotz allen Unsinns, den sie enthält, so viele an sie geglaubt haben," so lautete die Apologie des Christentums durch Monsieur Henry. Über wichtige Fragen, wie die Auferstehung, äußerte er sich nur indirekt, mit boshafter Hinterhältigkeit.

      "Der Heilige Geist," sagte er, "lässt sich, um überflüssige Worte zu sparen, zuweilen herbei, die Vorurteile des Volkes gutzuheißen. Der Heiland selbst bemerkt, dass das Korn in der Erde verwesen muss, damit es reif werden kann, und Sankt Paulus schreibt an die Korinther: ,Ihr Unverständigen, wisst ihr nicht, dass das Korn sterben muss, um wieder lebendig zu werden?' Heute weiß man wohl, dass das Korn in der Erde weder verwest noch stirbt, um darauf wieder aufzustehen; wenn es verwesen würde, stände es sicher nicht wieder auf…"

      Nach diesen Worten machte Monsieur Henry eine Pause, kniff die Lippen zusammen und sah seine Schülerin scharf an.

      "Aber damals," so setzte er mit sachlicher Ruhe hinzu, "befand man sich in diesem Irrtum."

      In solchen Gesprächen bildeten sich Violantes religiöse Meinungen.

      "Das Land ist von den Türken verwüstet?" fragte sie.

      "Das sagt das Volk. Man findet diese irrige Meinung in sogenannten Volksliedern ausgesprochen, einfältigen Machwerken ganz ohne Kunst … Wollen Sie wissen, wer es verwüstet hat? Dummheit, Aberglaube und Trägheit, die geistigen Türken und unerbittlichen Feinde des menschlichen Fortschritts."

      "Aber als Pierluigi von Assy Proveditor für Dalmatien war, da haben die Dinge sicher anders gestanden. Und die Republik Venedig, die ist nun auch verschwunden? Wer hat sie vernichtet?"

      Der alte Franzose wies mit dem Finger auf seine Brust:

      "Wir."

      "Ah!"

      Sie wandte ihm die Schulter zu.

      "Da haben Sie etwas sehr Überflüssiges getan … Waren Sie übrigens selbst dabei, Monsieur Henry?"

      "Vor achtundsechzig Jahren. Ich war damals ein fester Kerl."

      "Das glaube ich Ihnen nicht."

      "Sie sollen es auch nicht glauben. Von allem, was man Ihnen sagt, sollen Sie höchstens die Hälfte glauben, und die nur bis auf weiteres."

      Violantes Auffassung des Weltlaufs ergänzte sich mit Hilfe dieser Lehren.

      Alle Kenntnisse wurden, kaum dass sie ihr vorgelegt waren, schon wieder in Frage gestellt. Sie fand es ganz natürlich, an keine Tatsachen zu glauben; sie glaubte nur au Träume. Wenn sie an den blauen Tagen nach ihrem Garten übersetzte, so fuhr die Sonne mit ihr, als ein goldener Reiter. Er saß auf einem Delphin, der trug ihn von einer Welle zur andern. Und er landete mit ihr, und sie spielte mit ihrem Freunde. Sie haschten sich. Er erkletterte einen Maulbeerbaum oder eine Fichte; seine Tritte hinterließen lauter gelbe Spuren. Dann ward aus ihm ein Hirte, er hieß Daphnis. Sie selber war Chloë. Sie wand einen Kranz von Veilchen und krönte ihn damit. Er war nackt. Er spielte Flöte um die Wette mit den Pinien, die der Wind erklingen ließ. Sie sang, süßer schallend als die Nachtigall. Sie badeten zusammen in dem Bach, der die Wiese hinabrann, zwischen Säumen von Narzissen und Margeriten. Sie küssten die Blumen, wie die Bienen es taten, die summten im warmen Grase. Sie sahen auf dem Hügel die Lämmer springen, und sprangen ebenso. Beide waren sie berauscht vom Frühling, Violante und ihr heller Gefährte.

      Schließlich nahm er Abschied. Seine Fußtapfen lagen nur noch als flüchtiges Gold in den Wegen; gleich zerrann es. Sie rief noch: "Auf Morgen!" Von Pierluigis Pavillon her antwortete es, mit verhallendem Lachen: "Auf Morgen!" ––– ; Nun war er fort. Sie streckte sich, müde und stillen Sinnes, unter dem Hange in den Ginster und schaute hinab auf ihren See. Eine Libelle mit breitem behaarten Rücken stand bläulich vor ihr in der Luft. Die gelben Blüten verneigten sich. Sie wandte sich um; auf einem Stein saß eine Eidechse und sah sie mit spitzen Äuglein an. Das Kind legte den Kopf auf die Arme, und lange belauschten sie einander in Freundschaft, die letzte, zerbrechliche Tochter sagenhafter Riesenkönige und der urweltlichen Ungeheuer schwache kleine Verwandte.

      II

      An einem Sommertage ihres fünfzehnten Jahres sprang sie einmal, noch verschlafen, ans Fenster von Pierluigis Lusthäuschen. Sie hatte im Traum ein scheußliches Kreischen gehört, wie von einem großen, hässlichen Vogel. Der Lärm entsetzte sie noch im Wachen. Da lag im See, in ihrem armen See, ein riesiges Weibsbild. Ihre Brüste schwammen auf dem Wasser als ungeheure Fettberge, sie reckte Beine wie Säulen in die Luft, peitschte Schaum mit wuchtigen Armen und schrie dazu aus weit und schwarz nach oben gerichtetem Munde. Am Ufer


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