Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe). August SchraderЧитать онлайн книгу.
denn Beete mit duftenden Blumen und Gesträuchen, und Alleen von Schatten spendenden Linden- und Kastanienbäumen bildeten für den aus der grauen Häusermasse der Straßen Eintretenden einen lieblichen Kontrast, sodass er sich auf dem Lande wähnte. Diese Illusion wurde indes gestört, wenn man die Blicke zu der dem Haus entgegengesetzten Seite schweifen ließ, denn eine dunkle, von starken Strebepfeilern gestützte Steinmasse, riesengroß über die heiteren Fabrikgebäude emporragend, bot einen unerquicklichen Anblick dar. Es war das Staatsgefängnis, eine aus dem Mittelalter herstammende Burg, in der man Verbrecher, und namentlich politische, während ihrer Untersuchung in Haft hielt. Wie ein drohendes Gespenst lag das alte graue Gemäuer da, und wenn auch die an den kleinen ovalen Fensteröffnungen angebrachten Holzkästen, die den Gefangenen den Anblick der freien Luft entziehen sollten, seinen Zweck nicht sogleich verraten hätten, so erfüllte es den Beschauer dennoch mit einem unheimlichen Gefühl, dessen sich selbst der nicht erwehren konnte, der den Anblick nicht zum ersten Mal hatte. Auf den Gartenwegen gewahrte man jedoch nichts von diesem Grab lebender Menschen, wenn in der schönen Jahreszeit die Bäume und hohen Gesträuche ihr grünes Blätterdach ausspannten, und wohl mancher hat den Garten betreten, ohne die grausige Nachbarschaft auch nur geahnt zu haben.
Die Kontore und Lager des Fabrikherrn befanden sich im Erdgeschoss des geräumigen Vordergebäudes, das erste Stockwerk enthielt dessen Wohnzimmer und im zweiten befanden sich außer einigen Gästezimmern die der Domestiken.
Die Firma des Herrn Hubertus war eine der geachtetsten in der ganzen Stadt; mehr als hundert Arbeiter fanden unter seinem Dach fortwährende Beschäftigung und Lebensunterhalt, und seine Seidenfabrikate waren beliebt, weil sie gut und solide gearbeitet waren. Obgleich die Firma noch einen Kompagnon andeutete, so war Hubertus doch deren alleiniger Inhaber; er hatte sie beibehalten, wie er sie von seinem Vater geerbt hatte. Auch an ihm war die verhängnisvolle Zeit nicht erfolglos vorübergegangen; die allgemeine Stagnation des Handels und der Geschäfte, durch die Revolution aller Länder erzeugt, hatte ihn, den Kaufmann von echtem Schrot und Korn, veranlasst, Einschränkungen in seinem Geschäft vorzunehmen und teils die jüngeren Arbeiter zu entlassen, teils Kürzungen des Gehaltes eintreten zu lassen; Maßnahmen, die den ohnehin strengen Herrn bei seinen Arbeitern nicht beliebter machten, denn sie nahmen an, dass er von dem in guten Zeiten durch ihren Schweiß aufgehäuften Vermögen in der vorübergehenden schlechten nichts opfern wolle und dass nur der Geiz, nicht aber die Not der Zeit ihn zu diesem Schritt veranlasst habe. Diese Meinung war indes eine irrige; schon seit einigen Jahren hatte Hubertus durch Fallissements ausländischer Häuser nicht unbedeutende Verluste erlitten; die leidige Konkurrenz in neuester Zeit hatte ihn zur Herabsetzung der Fabrikpreise getrieben, und wenn er nicht schon längst zu einer Einschränkung seines Geschäftes geschritten war, so hatte ihn nur der Stolz, die Firma seines Vaters in dem bisherigen Glanz fortbestehen zu lassen, davon abgehalten.
Herr Hubertus war Witwer; seine Gattin ruhte schon seit fünf Jahren im Grab. In seiner Tochter Anna, einer blühenden Jungfrau von achtzehn Jahren, war ihm indes das Ebenbild seiner geliebten Hausfrau geblieben; auf sie hatte er alle seine Liebe übertragen, bei ihr fand er Trost und Erholung, wenn die stets welkende Blüte seines Geschäfts ihn missmutig gestimmt hatte, und nur sie war dann imstande, die Wolken von seiner Stirn zu verscheuchen und ihm Mut und Hoffnung auf die Zukunft einzuflößen.
Anna war in einer der ersten Pensionsanstalten der Hauptstadt erzogen worden; zwar ausgerüstet mit den nötigen Kenntnissen und Manieren, um sich in den Zirkeln der großen Welt bewegen zu können, hatte sie dennoch die schlichte und gerade Denkart einer einfachen Bürgerstochter bewahrt, und obwohl ihr liebenswürdiger Charakter durch die moderne Erziehung einen leichten Anstrich von romantischer Schwärmerei erhalten hatte, waren ihre religiösen Empfindungen dennoch rein und unverfälscht geblieben; ihre guten Vorsätze und Handlungen entsprangen stets ihrem unverfälschten Herzen; Koketterie, diesen mächtigen Hebel an Geist und Herz verbildeter junger Damen, kannte sie nicht. Ein köstlicher Maimorgen hatte sich zur Erde niedergesenkt. Rosen und Veilchen wetteiferten, den kleinen Park des Herrn Hubertus mit lieblichen Gerüchen zu füllen, und ein leichter angenehmer Morgenwind durchsäuselte das junge frische Grün an Gesträuchen und Bäumen. Die Fenster der den Park umgebenden Fabrikgebäude waren geöffnet und ein ununterbrochenes monotones Rauschen, das sich mit dem Flüstern des Morgenwindes mischte, gab Kunde von der Regsamkeit der Arbeiter. Die Fabrikuhr zeigte die zehnte Stunde an, als Anna, ein leichtes elegantes Strohhütchen auf dem Haupt, in einem weißen Kleid, mit einem kurzen schwarzseidenen Mantel darüber, aus dem Tor des Hauptgebäudes trat und leicht wie ein Reh durch die reinlichen Wege des Gartens hüpfte. Bei einem Rosenstock, dessen Knospen die Frühsonne halb erschlossen hatte, blieb sie stehen und bewunderte einige Minuten die Fülle der jungen Blumen, die mit der Zahl der Blätter wetteiferten; dann schlug sie den leichten Mantel zurück, trat einen Schritt in das Beet hinein und pflückte, ohne die zarte Hand von der engen Hülle des weißen Handschuhes zu befreien, einige der duftenden Blumen. Darauf trat sie in den Weg zurück, formte die Rosen durch einen silbernen Ring zu einem Strauß und schickte sich an, den Garten wieder zu verlassen. In diesem Augenblick trat ein junger Mann aus einem Seitengang und vereitelte durch einen freundlichen Gruß die Absicht des jungen Mädchens. Anna blieb stehen und dankte dem Grüßenden mit einem heiteren, doch ruhigen Lächeln, wobei sie ihm die Hand entgegenstreckte.
Der junge Mann war einfach, aber sorgfältig gekleidet, fast mit jener Ängstlichkeit, die den jungen Leuten eigen zu sein pflegt, wenn ihnen besonders daran liegt, jemandem zu gefallen. Sein Gesicht war zwar bleich, aber ohne ihm ein krankes Aussehen zu geben; sein dunkelblaues Auge, von schwarzen Wimpern und starken dunklen Brauen beschattet, zeugte von Geist und Charakter, und die Regelmäßigkeit seiner Züge verlieh ihm ein Interesse, das mancher blühende Jüngling umsonst zu erstreben sucht. Drei- bis vierundzwanzig Jahre schienen bereits an seinem Haupt vorübergegangen zu sein.
»Wie, Anna«, sprach der junge Mann in einem vertraulichen, doch ehrerbietigen Ton, »so früh wollen Sie schon ausgehen?«
»Ich kann es, dem Himmel sei Dank«, antwortete Anna und ließ ihre Hand in der des Fragers ruhen, »ich kann es, denn mein Vater bedarf jetzt schon meiner Sorge nicht mehr. Die zurückgekehrte Gesundheit des Körpers hat einen so wohltätigen Einfluss auf den sonst so verschlossenen Charakter des Greises ausgeübt, dass er schon vor einer Viertelstunde einen Spaziergang aufs Land unternommen hat, wozu er, wie Sie wissen, bis jetzt nicht zu bewegen war. Ich wollte ihn begleiten, allein er lehnte es ab und forderte mich auf, da die Reihe an mir sei, mich den Damen unsres Vereins anzuschließen und die Wohnungen der Armen zu besuchen, die durch den Druck der Zeit dem Elend preisgegeben sind.«
»Anna«, rief der junge Mann mit Empfindung und drückte die kleine Hand an seine Lippen, »Sie können diesen köstlichen Maitag nicht besser beginnen als durch Handlungen der Wohltätigkeit! Ich weiß, Ihrem schönen Herzen ist es fremd, mit dem Wohltätigkeitssinn zu kokettieren; Sie trachten nicht danach, wie so viele andere Damen unserer Residenz, durch Spenden an die Armut Aufmerksamkeit erregen zu wollen und nur unter Beachtung einer gewissen Förmlichkeit den Leidenden beizustehen, einer Förmlichkeit, die alles Mitgefühl in der Brust erkalten lässt und in eine Mode verwandelt – aber weil ich Ihr Herz kenne, fürchte ich, dass der Anblick des Jammers, den so viele Tausende unserer Mitbrüder jetzt erdulden, Sie schmerzlich berühren und in Ihnen Gefühle erwecken muss – ach, Anna, und ich habe Ihnen so viel zu sagen!«
»Fürchten Sie das nicht«, sprach Anna mit einem zauberischen Lächeln, »das Bewusstsein, Gutes getan zu haben, ist kein drückendes Gefühl. Nur wenn ich daran denke, dass ich nicht allen helfen kann, treten mir die Tränen in die Augen, und ich muss bekennen, dass ich nur mit Bitterkeit an die Urheber all dieses Elends denke. Glauben Sie mir, lieber Franz, wäre ich eine Kaiserin, es sollte anders um die armen Leute stehen; anstatt vor dem Ausbruch der Verzweiflung fliehen zu müssen, sollte mich alles freudigen Auges als Mutter begrüßen; die Dankbarkeit sollte meine Schutzwache sein und die Liebe meiner armen Untertanen die glatten Worte verdrängen, die jene herzlosen Damen flüstern, die, alle Weiblichkeit verleugnend, nur ehrgeizigen Plänen nachhängen, das Gewimmer der Armut verspottend. Darum lassen Sie mich, lieber Franz, ich kehre bald zurück und dann …«
»Nur einige Augenblicke«, rief der junge Mann dringend und ergriff abermals die Hand des jungen Mädchens, »später habe ich keine Zeit, da die Arbeiter heute ihren Lohn ausgezahlt