Gegendiagnose II. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
weiß heute, dass das nicht aufgeht. Als Kind wusste ich das nicht. Als ich ein Kind war, war Gefühle-Haben etwas Gefährliches, was ich so gut es ging vermeiden und verstecken wollte.
Mit dem Wissen, wie ich meine Gefühle, auch vor mir selbst, verstecken kann, bin ich nicht alleine. Auch mit meinem Schmerz bin ich nicht alleine. Auch das konnte ich als Kind nicht wissen.
Runden drehen
Ich sitze vor meinen Erinnerungen, den verschiedenen zeitlichen und thematischen Ebenen, und stoße an ein altbekanntes Begehren: meinem Sein eine Begründung zu verleihen.
Die Art und Weise, wie ich bin, hinterfrage ich, spüre ein leise schwebendes Nichts, ein bodenloses Fallen hinein in das Wissen, ich werde die Frage nie abschließend beantworten können, ob es denn wirklich so schlimm war. Wirklich schlimm im Vergleich zu was? Schlimm genug, um darüber schreiben zu können? Schlimm genug, um Narben davon zu tragen? Es – was denn genau? Das Aufwachsen, der Leistungsdruck, die sozialen Zwänge, die Zurichtungen in eine Normalität, die mich von mir selbst entfremdet? Mit diesen Spalten sitze ich nun da und versuche alle Teile von mir selbst zu greifen, aber immer wieder entwischen sie mir, weil sich beschwichtigend Sätze in den Weg stellen. Andere hatten es schlimmer, andere sind tatsächlich eingewiesen worden, andere wurden geschlagen, vernachlässigt, hatten weniger Geld und keine Möglichkeit, ihren Interessen nachzugehen. Ich hatte das schon, und das ist Teil dieses Privilegs, dass ich heute darüber nachdenken und schreiben kann, wie mein Aufwachsen geprägt war von diesen Vorstellungen von Normalität, und welche Gewalt in Normalität steckt.
Das ist keine leichte Aufgabe und eine wichtige, um zu Visionen zu kommen, wie Kontakt zu mir selbst aussehen könnte, ein liebevoller Kontakt. Ich stelle mir die Frage, wie ich zu meiner Sozialisation genügend Distanz bekommen kann, um sowohl Kritik als auch Alternativen entwickeln zu können, und dabei tauchen in meiner Erinnerung die Schiebebilder auf, deren kleine Quadrate aus Plastik so lange hin- und hergeschoben werden mussten, bis das Bild zusammenpasste. Es gab nur ein leeres Feld, mithilfe dessen die Quadrate bewegt werden konnten, und manchmal wurde ich ungeduldig, habe mit der Nagelfeile ein oder zwei Teilchen herausgebrochen, und damit ein zweites und drittes leeres Feld geschaffen. Dann lies sich das Bild leichter zusammensetzen.
Ich finde es wichtig, genau zu sein und gleichzeitig sanft zu den Leerstellen, den herausgebrochenen, den bewusst erzeugten Erinnerungsteilen, die Schutzmechanismen langsam und vorsichtig einladen, zurückzutreten, damit sich neue Zusammenhänge ausprobieren lassen.
Ich möchte dich dazu einladen, darüber nachzudenken, was du als normal denkst, und wie du zu deinem Wissen über Normalität gekommen bist. Ich möchte dich einladen, sanft zu dir zu sein, und genau, und assoziativ. Dieser Text ist ein Angebot, und geht hier zurück an den Anfang: die Vision, die sich nach und nach zusammensetzt, in Veränderung begriffen ist, und bereits Atem schöpft.
Wie meine Mutter mich mit Victoria Beckham verwechselte
Nadire Biskin
Liebe Leser_innen,
dieser Brief handelt von mir, meiner Mutter und ihrer Verwechslung. Ich werde erst von unserer Beziehung zueinander berichten, dann von der Verwechslung und anschließend einige Frage stellen.
Verzeihen Sie mir den Umstand, dass ich diesen Brief einer wissenschaftlichen Arbeit ähnlich strukturiert beginne. Dabei bin ich nicht der straightwhite-man mit der Akademikerwampe und den dünnen, langen Beinen, sondern lediglich die Tochter einer Frau, der es manchmal schlechter geht als den Meisten, die ich kenne. Sieben Jahre Studium hinterlassen jedoch in meiner chuzpen Kommunikation ihre unschönen Narben in Form von Strukturiertheit, Hyperliteralität und Nüchternheit.
Nun von mir zu meiner Mutter und mir. Wir gehören zusammen. Sie liebt mich ohne Bedingung. Ich bin ihr Lieblingskind. Sie glaubt, ich bin Superwoman, weiß alles, kann alles. Manchmal glaube ich es auch. Selten stimmt es.
Ich wache auf und schaue auf mein Handy, um zu erfahren wie spät es ist. Sechs Anrufe in Abwesenheit von Emilia Galotti. Alle zwischen 5:30 Uhr und 6:00 Uhr. Ich frage mich, welchen Gedanken meine Mutter jetzt hat, der sie nicht schlafen lässt und sie dazu bringt, mich aus dem Schlaf zu reißen. Hat sie einen Brief bekommen, den ich ihr übersetzen soll? Hat sie Angst, dass ich verschlafe und möchte mich viel zu früh wecken, weil ihr Drang nach Pünktlichkeit sie wieder mal unter Kontrolle hat? Mama drückt mich weg. Ich muss schmunzeln. Sie verwechselt immer noch den roten Button mit dem Grünen. Beim zweiten Anruf nimmt sie das Gespräch an. Sie sagt etwas. Aber ich verstehe sie nicht. Sie wiederholt sich. Die Sätze unvollendet, ebenso wie ihre Worte. Das Beben in ihrer Stimme ist sicher und verständlich. Ich möchte, dass das Beben aufhört. Versuche sie zu beruhigen. Alles, was sie sagt, ist: »Ich. Tüt. Du Schlange, ich möchte dich nicht mehr sehen.« Sie legt auf. Ich rufe sie wieder an. Sie antwortet nicht. Ich nehme Schlüssel, Handy und steige aufs Fahrrad, los zu ihr. Ich fühle ihre Angst, ich fühle ihre Verzweiflung. Ich fahre schneller, damit der Wind mich zur Ruhe bringt und ich dann Mutters Wind sein kann. Ich ahne nicht, dass ihr Feuer sich durch den Wind vergrößern wird. Angekommen bei ihr, schließe ich die Tür auf. Ihre Augen verdeutlichen mir: Jemand ist nicht willkommen. Ich schaue mich um und sehe niemanden außer mir. Mutter sagt, ich hätte ihr die Tüte weggenommen. Die HA-EM-Tüte. Ich sage ihr: »Gut, ich habe sie nicht und kann mich nicht an sie erinnern, aber ich besorge dir eine neue Tüte.« Sie möchte diese Tüte, sie wäre unersetzbar. Sechs Anrufe für eine Tüte. Ich frage sie, warum sie die Tüte möchte, wie sie darauf kommt, dass ich in Besitz dieser Tüte bin. Mutter antwortet nicht mehr. Sie möchte nur noch, dass ich weggehe. Sie möchte, dass ich verschwinde. Während die bedingungslose Liebe meiner Mutter sich in eine Liebe, die sich an eine Tüte bindet, verwandelt, verstehe ich, dass die HA-EM Tüte mit Davut Bakalim, also David mal-schauen, die eingetürkischte Version von »H&M Tüte« und »David Beckham« ist. Mutter denkt, ich hätte ihr die Tüte weggenommen. Ich zeige ihr auf Google die Beckhams. Sie sagt, dass ich auf dem Foto die Haare sehr kurz hätte. Sie sagt, sie ertrage das Leben nicht mehr.
Liebe_r Leser_innen,
was soll ich tun? Wie soll ich Mutter davon überzeugen, dass ich nicht Victoria Beckham bin, dass die Beziehung zwischen Mutter-Tochter wertvoller ist, als eine Tüte? Wie soll ich später die Frau von der Krisen-Hotline davon überzeugen, dass ich Mutters Autonomie nicht weiter einschränken möchte, indem ich sie zwinge mit mir ins Krankenhaus zu gehen? Wie überzeuge ich sie davon, dass sie noch autonom ist, während die Frau mir sagt, dass meine Mutter keine Autonomie hat, weil ihr Wahn sie ihr geraubt hat? Wie überzeuge ich später die Assistenzärztin in der Notaufnahme davon, dass wir nicht zurück nach Hause gehen können um am nächsten Tag den Termin beim Psychiater wahrzunehmen, ohne uns vor ihr ausziehen zu müssen? Wie erkläre ich der Assistenzärztin, dass ihre Überforderung im ersten Jahr und die Untersuchung ohne Mentor sowie die daraus resultierende Frage unpassend, verletzend, destruktiv ist? Wie antworte ich meinem Vater am Telefon auf die Frage, wie es uns geht? Wie halte ich meinen Bruder aus der Verwechslung raus? Was sind meine filialen Rechte und Pflichten? Was sind die Rechte und Pflichten einer Frau im Wahn? Was sind die Rechte und Pflichte einer Angehörigen? Wie kann ich diese Situtation in Zukunft vermeiden? Wie hätte ich sie vermeiden sollen? Wie reagiere ich auf die Gaslightingversuche im Krankenhaus? Wie habe ich mehr Stimmmacht? Wie gebe ich all den anderen Müttern und Töchtern eine Stimme? Wie schreibe ich darüber und wie erkläre ich meiner Mutter, warum und wie ich schreibe? Wie reagiere ich auf diejenigen, die mir vorwerfen, dass ich nicht darüber schreiben soll? Wie werde ich in einer Situation allen gerecht, wenn es keine Gerechtigkeit gibt, wenn es um Krankheit geht?
Viele Grüße
Nicht-Marie-Sophie
Mein Ausstieg aus der »professionellen Neutralität« Vom Umgang mit Machtverhältnissen in der psychosozialen Arbeit
Caroline von Taysen
Von