Die große Sache. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
Da machten alle eine Pause.
»Wie lange dauert es, bis man überaltert ist?« fragte einer. Die anderen dachten es gleichzeitig.
Sie schwiegen nochmals. Dann wieder eine Stimme: »Und wer bestimmt über uns? Das ist geheim. Es kann jemand sein, den wir nie zu sehen bekommen.«
Alle drei flüsterten einen Namen: »Karl der Große.«
»Unsinn!« rief endlich Emanuel und schüttelte sich. »Die höchsten Gipfel des Konzerns werden sich gerade mit uns beschäftigen. Dafür sind die unteren Prominenten da.«
»Schattich!« meinten Margo und Inge. Ihr Bruder Rolf vermutete dagegen, daß selbst der frühere Reichskanzler, wenn auch weniger unsichtbar als jene höchste Person, die Karl der Große hieß, in ihr bescheidenes Leben doch schwerlich eingreifen werde.
»Dafür seid ihr noch nicht wichtig genug«, erklärte der Arzt offen.
»Wir sind jung«, sagte Inge tapfer. Margo ergänzte: »Wir brauchen keine Angst zu haben wegen der Arbeitslosenziffer.«
»Aber wir haben doch Angst«, erwiderte Emanuel, verlegen über sein Geständnis. »Unser guter Vater ganz allein hält uns bis jetzt außerhalb der großen Masse. Wenn er nicht mehr da wäre, müßten auch wir, wie alle anderen, acht Tage nach der Entlassung anfangen zu hungern.«
Alle Augen verweilten auf dem bleichen, geschlossenen Gesicht Birks, und im Zimmer war es still.
»Nein«, rief Emanuel stärker, als er vor dem ruhenden Kranken gedurft hätte. »Wir sind jung. Wir wollen nicht nur leben – ohne Angst leben – und leben, ohne uns zu verkaufen. Wir wollen sogar Einfluß und Macht bekommen, bevor es zu spät ist, bevor die große Maschine uns endgültig schluckt! Dafür haben wir jetzt die Erfindung, sie soll alles von Grund auf ändern.«
»Der Sprengstoff?«
»Das Sprengmittel von äußerster – ihr wißt schon. Wie kann Papa die Sorge haben, daß wir künftig noch auf unsere Arbeitskraft allein gestellt sind.«
Er flüsterte eifrig.
»Dann unterschätzt er doch bedeutend die Möglichkeiten, die gegeben sind, wenn man eine solche Erfindung an Hand hat. Papa ist der wertvollste Mensch, den ich kenne, aber er hat zu wenig Selbstvertrauen.«
»Darin ist er alte Schule«, schob Inge ein.
»Er hat die Erfindung gemacht. Ich werde sie richtig aufziehen.«
»Dazu müßte er doch erst – Er überläßt sie uns nur für den Fall, daß er –«
Margo brachte dies kaum hörbar vor. Aber sie hatten verstanden.
Inge sagt schnell: »Pappi wird gesund werden. Dann überläßt er es Em, die Erfindung zu verwerten. Klar, daß nur Em das kann!«
Margo antwortete nicht, denn sie fand dies nicht so klar. Warum fand Inge es? Margo betrachtete die beiden, aber sie schienen gerade gar nichts miteinander zu tun zu haben. Inge war fragend zu Rolf gewendet, Emanuel sah nach, ob Birk wirklich schlief.
»Wir wollen gehen«, sagte Margo. »Sonst wecken wir Papa noch auf. Ich komme später noch einmal«, erklärte sie ihrem Bruder, dem Arzt. »Oder findest du es richtig, daß ich allein hierbleibe und mich still hinsetze?«
Sie tat, als beachtete sie die beiden anderen gar nicht, obwohl sie in diesem Augenblick nur Sinn hatte für das Verhalten ihrer Schwester und ihres Mannes.
»Das ist das beste«, bestimmte Emanuel. »Du bleibst hier. Ich gehe inzwischen in die Afa, ich brauche etwas für das Auto, morgen ist Sonntag.«
»Ich habe denselben Weg«, entschied Inge – und während sie schon ihre Sachen anzog: »Morgen werden wir nicht weit fortfahren, wegen Pappi.«
Sie war unbefangen, sie zeigte sogar Herz. Margo warf es sich vor, daß sie ihrer Schwester nicht mehr traute. Aber so war es nun.
Als Emanuel die Tür schon geöffnet hatte, fiel ihm das Sprengmittel wieder ein.
»Wo ist es denn? Ich muß es den Leuten doch zeigen können.«
Inge meinte: »Sie kennen Papa, sie werden dir glauben. Sage einfach, es ist ein Sprengstoff –«
»Von äußerster –«, fuhr der Junge fort, »von äußerster –«
»Brisanz«, sagte Birk, der die Augen aufschlug.
»Ach, du schläfst nicht?« fragten sie überrascht. »Seit wann bist du wach?« fragten sie. Denn nicht alles, was man sprach, war für die Älteren bestimmt.
»Habe ich geschlafen?« fragte Birk dagegen. »Das letzte, das ich hörte, war: was ist eigentlich Brisanz? Ist das schon so lange her?«
»Nun, Pappi, was ist es denn?« Inge lehnte ihren Kopf an seine Wange, wie sie es seit ihrer Kindheit tat.
»Es heißt nur Sprengkraft, mein Kind. Was soll ein Sprengstoff sonst haben. Verrate es deinem Schwager Emanuel nicht! Aber geh zu meinem Mantel, da steckt es drin!«
»Dir geht es besser nach dem Schläfchen, lieber Vater«, bemerkte der junge Schwiegersohn mit der verführerischen Stimme, die er sich geben konnte. Birk hatte plötzlich die Erkenntnis, daß ein Junge mit solcher Stimme zu allem fähig sei. Wie erst, wenn er ein Wirkungsmittel in die Hand bekam wie jenes, das Inge soeben aus dem Mantel holte. Zu spät, sie holte es schon. Die Bedenken Birks kamen zu spät.
Auf einmal sagte Inge: »Es ist nicht da.«
»Wieso? Es muß dasein.«
»Wie sieht es aus?«
»Oder wie fühlt es sich an?« fragte Emanuel, der hineilte.
»Ein rundes Päckchen – wie eine Bombe«, setzte Birk hinzu, nur um ihnen mehr Eindruck zu machen. Seine Tochter Margo kannte ihn am besten. Sie sagte ihm ins Ohr: »Tu es nicht! Gib ihm den Sprengstoff nicht!«
Er sah sie an. Was ahnte sie?
»Er kommt bestimmt in schlimme Dinge.«
»Em?« fragte Birk.
»Warum nennst du ihn Em? So nennt doch nur Inge ihn«, sagte sie. Da verstand er, daß sie eifersüchtig war.
Der Vater streichelte ihr die Hand. »Keine Sorge, mein Liebling!« Lauter sagte er: »Das Päckchen ist fort? Vielleicht hatte ich es gar nicht bei mir. Ich weiß es nicht, ich habe etwas Fieber.«
Emanuel schrie auf.
»Du hast doch deine Erfindung nicht verloren?«
»Ich hoffe nicht«, erwiderte Birk schwach. »Jedenfalls besitze ich die Formel – am sicheren Ort. Laß mich nur erst gesund werden!«
Hier kehrte Rolf in das Zimmer zurück und meldete: »Draußen steht ein Arbeiter.«
»Freundlich von den Leuten. Sie wollen mir ihr Mitgefühl aussprechen. Darf der Mann zu mir?«
»Du kannst ihn empfangen, Vater, wenn du willst. Aber dann müssen wenigstens Inge und Emanuel fortgehen.«
»Wir gehen schon«, sagte Inge. Sie nahm die Hand des Kranken und küßte sie zärtlich. Der Junge inzwischen tastete nochmals den Mantel ab. Er schien außer sich. Wenn er sich von dem Kleidungsstück schon getrennt hatte, riß er es doch wieder an sich, und jedesmal verzweifelter. Er wollte auch sprechen, schluckte aber nur. Er war jetzt bleicher als Birk in seinem Bett.
Drittes Kapitel
Der eintretende Mann betrachtete den Oberingenieur mit Entsetzen. Margo, die beiseite trat, wurde von ihm nicht beachtet.
»Jawohl«, äußerte er aus tiefer Anschauung, »so muß es kommen.«
Birk sagte: »Es ist noch mal gut gegangen – gerade wie bei Ihnen damals.«
»Das ist was anderes, ich war blau. Ich wäre das ganze Gerüst hinuntergefallen, wenn Sie mich nicht gehalten hätten, Herr Oberingenieur.«