Kubinke und der Sturm: Kriminalroman. Alfred BekkerЧитать онлайн книгу.
„Unsere Kollegin Lin-Tai Gansenbrink würde das wohl eher als ein Zeichen für schlechte Berechnung verschiedener, in Betracht zu ziehender Parameter interpretieren, wie zum Beispiel Länge des Anfahrtswegs, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Staumeldungen, Verkehrsverhältnisse und so weiter.”
„Was soll’s, FGF”, mischte sich der Forensiker und Gerichtsmediziner Gerold Wildenbacher ein. Der Bayer zuckte die Schultern. „Fangen wir an!”
„Dieser Meinung bin ich auch”, ergänzte Lin-Tai Gansenbrink, die Mathematikerin und IT-Spezialistin des Teams. „Soll ich für unsere Kriminalinspektoren die Pointe vorwegnehmen, dass wir zwar die Identität des Opfers noch nicht kennen, aber dafür wissen, wer der Täter war - oder wäre das jetzt ein allzu forscher Vorgriff?”
„Wie bitte?”, mischte ich mich ein.
„Es scheint mir, dass unsere Kollegin in Ihrem Bemühen, sich mathematisch kurz zu fassen, etwas über ihr Ziel hinausgeschossen ist und damit vermutlich mehr Verwirrung verursacht, als für Klarheit gesorgt hat, wie ich befürchte, wenn ich mir die Gesichter von Harry und Rudi so ansehe”, sagte Förnheim.
„Ich schlage vor, wir fangen einfach von vorn an und kommen endlich zur Sache”, lautete die nüchterne Ansicht von Charlotte Ferretz, unserer Wirtschaftswissenschaftlerin, die immer dann zur Stelle war, wenn es darum ging, die betriebswirtschaftlichen Implikationen eines Falles zu beurteilen. Insbesondere, wenn es im Zuge von Ermittlungen im Bereich des organisierten Verbrechens darum ging, verborgene Geldströme und wirtschaftliche Verflechtungen zu erfassen, waren wir auf die Hilfe von Mitarbeitern angewiesen, die sich in diesem Bereich auskannten. Und nicht selten führten gerade die Erkenntnisse aus diesem Bereich erst dazu, dass man überhaupt an die Hintermänner herankam, die sich allzu gern mit weißer Weste zeigten und angeblich nichts mit den schmutzigen Geschäften ihrer Untergebenen zu tun hatten.
Dass Charlotte bei diesem Meeting anwesend war, zeigte allerdings schon, dass es auch in diesem Fall um eine Verwicklung in Machenschaften einer kriminellen Organisation ging.
„Man kennt also den Täter - aber nicht das Opfer”, sagte Rudi an Wildenbacher gewandt. „Das klingt auf jeden Fall schon mal so, als würde es etwas vom üblichen Schema abweichen - vorsichtig ausgedrückt.”
„In diesem Fall ist einiges nicht, wie es sein sollte”, stellte der Bayer fest. Er warf einen Blick auf das Laptop, das vor ihm auf dem Tisch stand und dessen Funktionen er gerade mit einem Tastendruck aus dem Schlaf des Energiesparmodus geweckt hatte. „Wie auch immer. Fangen wir von vorne an! Ein heftiger Orkan hat einen Vorort von Wilhelmshaven in Niedersachsen nahezu zerstört. Da steht kaum noch ein Haus, das nicht einen Schaden aufzuweisen hat. Es gibt leider auch ein paar Todesopfer. Unter den Trümmern von einem der zerstörten Häuser wurden drei Leichen entdeckt, die von den Kollegen des Polizeidienststelle in Wilhelmshaven einfach durchnummeriert wurden. Bei Leiche 1 und 2 handelt es sich um ein älteres Ehepaar, das in diesem Haus gewohnt hat. Leiche Nummer 3 wurde ebenfalls in den Trümmern dieses Hauses gefunden, ist aber nach wie vor unidentifiziert.” Wildenbacher aktivierte einen Großbildschirm, der die Ansicht seines Laptops in vergrößerter Form zeigte. Ein schrecklich entstelltes Gesicht war darauf zu sehen - oder das, was davon übrig geblieben war. „Hier sehen Sie den Grund dafür, weshalb es den Kollegen bisher nicht gelungen ist, den Toten zu identifizieren.”
„Was das Geschlecht angeht, sind Sie sich aber sicher?”, fragte ich.
„Es ist ein Mann, das steht fest”, erklärte Wildenbacher. „Allerdings wurde sein Gesicht höchstwahrscheinlich mit einer sehr starken Säure so verätzt, dass kein Gesichtserkennungsprogramm der ganzen Welt ihn noch wiedererkennen könnte.”
„Ich habe einen Abgleich anhand einer telemetrischen Gesichtsanalyse mit unseren Daten durchgeführt”, mischte sich Lin-Tai Gansenbrink ein. „Leider mit negativem Ergebnis.”
„Man muss dazu sagen, dass die Säurebehandlung, der dieser Mann ausgesetzt gewesen ist, so starke Entstellungen hinterlassen hat, dass teilweise selbst die Knochen angegriffen wurden und es damit wohl einer aufwändigeren Rekonstruktion bedarf, um überhaupt die ursprünglichen Abstände zwischen den Augen oder Kinn und Nase und so weiter feststellen zu können, die ja für eine Identifizierung mit Hilfe von telemetrischen Daten notwendig sind. Aber Sie sehen hier sehr schön, wie zum Beispiel unterhalb des linken Auges nicht nur das Gewebe durch die chemische Reaktion ...”
„Ich glaube das reicht, Gerold”, mischte sich Charlotte Ferretz ein. „Wir können uns das alle lebhaft vorstellen.”
„Nun, wenn Sie an diesen wichtigen Details kein Interesse haben, dann ist das geradezu fahrlässig. Schließlich werden wir versuchen müssen, anhand der sterblichen Überreste dieses Unbekannten, irgendwie herauszufinden, wer er ist.” Wildenbacher ließ ein weiteres Bild auf dem Großbildschirm erscheinen. Es zeigte die Hände des Unbekannten. „Die Fingerkuppen wurden auf ähnliche Weise behandelt, wie Sie sehen. Das bedeutet, dass wir ihn auch nicht über die Fingerabdrücke identifizieren können.”
„Die Tatsache, dass man sich diese Mühe gemacht hat, könnte darauf hinweisen, dass dem Täter klar war, dass man das Opfer auf diese Weise schnell identifizieren könnte”, sagte ich.
„Zusammen mit den Abdrücken von Millionen weiteren lebenden oder toten Personen, deren Abdrücke irgendwann mal gespeichert wurden”, nickte Wildenbacher. „Die gespeicherten Kriminellen fallen da zahlenmäßig kaum noch ins Gewicht. Unser Opfer wird dadurch leider noch nicht sehr eingegrenzt. Aber bisher hatte ich auch nur die Bilddaten und die Untersuchungsergebnisse der Kollegen aus Wilhelmshaven zur Verfügung. Wenn ich die Leiche selbst untersucht habe, dann finde ich vielleicht doch noch eine Möglichkeit, herauszufinden, um wen es sich da handelt.”
„Vielleicht sollten wir jetzt über den Täter sprechen”, schlug nun Förnheim vor. „Über den wissen wir schließlich sehr viel mehr.”
„Nur keine Ungeduld”, gab Wildenbacher zurück. „Zunächst mal möchte ich feststellen, dass die Kollegen in Wilhelmshaven richtigerweise festgestellt haben, dass diese Säurebehandlung nur das Gesicht und die Finger betrifft und mit Sicherheit post mortem durchgeführt wurde. Das heißt, mit dem Ziel, die Identität des Toten zu verschleiern. Der Unbekannte wurde also keineswegs gefoltert oder dergleichen. Die Todesursache sehen wir hier ...” Ein neues Bild erschien jetzt. „Sie erkennen hier eine Hautpartie am Rücken in starker Vergrößerung. Die markierte Stelle haben die Kollegen in Wilhelmshaven als Einstichstelle identifiziert - richtigerweise, wie ich sagen muss. Dem Opfer wurde eine Substanz injiziert, die die Eigenschaft hat, mit einer Verzögerung von zehn bis fünfzehn Minuten zu wirken - und absolut tödlich zu sein.”
„Den bisherigen Analysen nach ist diese Substanz sehr speziell zusammengesetzt”, ergriff jetzt Förnheim das Wort. „Eine sehr individuelle Mischung, die in ihrer Zusammensetzung typisch für einen bekannten Auftragskiller ist, der unter der Bezeichnung ‘der Stecher’ bekannt ist.”
„Der Stecher arbeitet als Auftragsmörder”, stellte Lin-Tai Gansenbrink fest. „Seine Methode läuft darauf hinaus, dass er seinem Opfer quasi im Vorbeigehen eine Injektion verpasst. Ein Stich mit einer feinen Nadel durch die Kleidung hindurch, zum Beispiel in einem dichten Gedränge in der Bahn oder aber an einem anderen Ort, an dem er die Gelegenheit hat, dem Opfer nahe zu kommen.”
„Das Opfer bemerkt diesen Stich normalerweise nicht gleich”, stellte Wildenbacher fest. „Die Wirkung des Giftes setzt ja erst mit Verzögerung ein - und dann kommt sowieso jede Hilfe zu spät, während der Killer bereits auf und davon ist.”
„Wie sicher ist es, dass tatsächlich dieser sogenannte Stecher hinter dem Mord steckt?”, fragte ich.
„Nun, das verwendete Gift ist quasi seine Visitenkarte”, meinte Förnheim. „Die Methode selbst kommt häufiger vor und wird ansonsten auch gerne von Angehörigen verschiedener fremder Geheimdienste verwendet. Früher hat sie sich insbesondere bei Angehörigen verschiedener Ost-Block-Geheimdienste, wie dem KGB, großer Beliebtheit erfreut, wobei keine konventionellen Gifte verwendet wurden, sondern beispielsweise Tollwut-Erreger, bei denen