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Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen. Martin HeipertzЧитать онлайн книгу.

Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen - Martin Heipertz


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war. Inzwischen hat sich dieser Anteil auf fünfzig Prozent verdoppelt. Es gab damals wenig gesicherte Erkenntnisse und keine belastbare Datengrundlage zur volkswirtschaftlichen Lage. Die Kollegen des Internationalen Währungsfonds IWF, der in Priština eine kleine Präsenz unterhielt, schätzten die Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes auf etwa fünf Prozent; ein gutes Fünftel der Wirtschaftskraft aber machten die Hilfszahlungen aus dem Ausland aus. Hinzu kamen die privaten Überweisungen von Kosovo-Albanern, die in Europa lebten; von der Rolle der sogenannten Internationalen Gemeinschaft, insbesondere des Militärs, als wichtigster Arbeitgeber im Lande ganz zu schweigen. Faktisch war keine nennenswerte ökonomische Basis vorhanden. Selbst Lebensmittel und einfachste Materialien wie Ziegelsteine wurden importiert; Investoren aus dem Ausland hingegen wurden von Rechtsunsicherheit, Willkür und Korruption abgeschreckt.

      Korruption ist kein Klima für allgemeines wirtschaftliches Gedeihen. Die Fehlallokation von Humankapital mußte überdies grotesk sein, wenn eine einheimsiche Putzfrau bei der Uno mehr Lohn erhielt als ein Lehrer, der auf etwa zweihundert Euro Monatssold kam. Es gab keinen Fleck auf der gesamten Erde, auf dem die internationalen Hilfszahlungen pro Kopf im Durchschnitt höher ausfielen als im Kosovo. Doch auch hier bestätigte sich, daß Geld allein nicht nur nicht glücklich macht, sondern auch keine sozioökonomischen Probleme löst. Manchmal schafft oder verschlimmert es erst das eigentliche Problem, das heißt Korruption, Gängelung durch die Verwaltung, politische Ineffizienz und so weiter.

      Aidans fast kindliche Hochachtung vor meinen beschränkten Kenntnissen der Ökonomie machte mir Sorge: Das naive Vertrauen, das man in Leute wie mich setzte, empfand ich als ungeheuren Erwartungsdruck. Dabei ahnte ich bereits, daß es in der Entwicklungshilfe genauso viele Probleme ohne Lösungen wie Lösungen ohne Probleme gab und daß viele von uns sich vor allem auf Letztere verstanden.

      Ich hegte von Anfang an keine große Hoffnung, persönlich und nennenswert zu einer raschen, spürbaren Besserung der Lage beitragen zu können. Die Staatsfinanzen, mein Fachgebiet, befanden sich bisher als Aggregat in halbwegs geregeltem Zustand, was aber nur daran lag, daß es ja schließlich noch gar keinen Staat gab und auch kein Budget, über das er hätte verfügen können, sondern nur die von der internationalen Verwaltung hierzu vorbereiteten Strukturen. Das sollte sich jedoch in wenigen Tagen ändern, und ich lernte schnell, daß meine Aufgabe nicht etwa darin bestehen würde, Gutes zu bewirken, sondern Unfug zu verhindern, so gut ich es eben vermochte und mir die Macht hierzu gegeben war. Primum nil nocere, so lautete ein altes Prinzip der Medizin: Zunächst einmal keinen Schaden stiften. Wie wenig ich aber selbst unter solchen reduzierten Erwartungen letzten Endes überhaupt bewirken konnte, hatte ich jedoch selbst in meiner von Anfang an genährten Skepsis noch unterschätzt.

      Je näher wir am Tage meiner Ankunft auf dem Amselfeld dem Stadtzentrum kamen, desto mehr häuften sich Flaggen, Inschriften und Plakate, die auf die bevorstehende Unabhängigkeitserklärung hinwiesen. Am häufigsten wehte das rote Tuch Albaniens mit dem schwarzen Doppeladler, dicht gefolgt von den Stars and Stripes der Amerikaner. Doch auch die maßgeblichen Schutzmächte des Kosovos aus Europa waren vertreten, allen voran der britische Union Jack, aber auch zahlreiche deutsche und andere europäische Flaggen konnte ich ausmachen.

      Oftmals hieß es Thank you, America und Thank you, Europe. Viele Leute waren unterwegs, und ich bildete mir ein, daß sie osmanisch auf mich wirkten, zumindest wie eine Mischung aus Türken und Rumänen. Ihre Stimmung schien vergnügt und fast aufgekratzt, wie die von Kindern an Sylvester.

      Auch der Fahrer Aidan war voller Vorfreude auf den bevorstehenden, großen Moment. Er deutete an, daß er selber als Partisan gegen die serbische Fremdherrschaft gekämpft und einen seiner Brüder im Krieg verloren habe. Später war er als Flüchtling eine Zeitlang in Lausanne untergekommen, und stolz demonstrierte er mir ein paar Brocken Französisch.

      Obwohl ich persönlich nichts zu dem Ereignis beigetragen hatte, das ihn mit solcher Begeisterung erfüllte, war mir die allenthalben versicherte Dankbarkeit schmeichelhaft. Da bemerkte ich ein seltsames, großformatiges Poster, auf dem ein bemüht seriös durch seine randlose Brille blickender Anzugträger vor der europablauen Flagge des Kosovos abgebildet war, der daneben aber schemenhaft und jünger noch einmal martialisch im Kampfanzug auftauchte, vor blutrotem Hintergrund mit albanischem Doppeladler.

      »Wer ist das?«

      »Das ist Rambo«, antwortete Aidan stolz. »Wir nennen ihn alle so. Ramush Haradinaj heißt er und ist Chef der AAK-Partei. Der war erst Türsteher einer Disco in der Schweiz und hat dann im Krieg mehr Serben kaltgemacht als alle anderen.«

      »Aha. Und dann?«

      »Na, dann wurde er natürlich unser Premierminister, als vor der Unabhängigkeit eine erste, provisorische Regierung unter Aufsicht der UNMIK gebildet wurde.«

      »Der kam direkt aus diesem fürchterlichen Krieg und wurde Premierminister?«

      »Na klar. Aber jetzt ist er als Kriegsverbrecher angeklagt und sitzt in Den Haag.«

      »Soso, das meine ich doch.«

      »Und wenn schon. Er ist ein Held und mit allen Wassern gewaschen – ich denke, wir haben ihn bald zurück.«

      Während dieser Unterhaltung ließen wir die Ausläufer Prištinas hinter uns und kamen an das Stadtzentrum heran. Bis dahin war die deutsche Panzerkolonne vor uns gefahren. Nun rückte sie rechterhand in ein militärisch gesichertes Lager der Vereinten Nationen ein, und der Bayernwimpel verschwand hinter einer hohen Betonmauer mit Stacheldraht, Steinbarrieren und Wachttürmen. Vermutlich wurden in diesen Stunden vielerorts hinter solchen Mauern Truppen im Vorfeld der Unabhängigkeitserklärung zusammengezogen – für alle Fälle, denn die Lage galt zwar als ruhig, aber nicht als stabil.

      Die Straße führte an dem Militärlager vorbei in eine weite Senke und gab einen grandiosen Blick auf den Kern von Priština frei… Grundgütiger, durchfuhr es mich, das ist ja wohl die häßlichste Stadt, die ich je gesehen habe!

      3 Staatsgeburt

      Pristina lautet im Lateinischen »die Frühe«, und pristine bedeutet im Englischen gar »makellos«. Das war angesichts der sich mir nun darbietenden Stadt nicht wenig erheiternd, als wir an einem gigantischen Poster von Bill Clinton vorbei durch ihre Hauptstraße einfuhren. God’s own shithole wurde Priština schon mal zu später, berauschter Stunde unter uns Internationalen genannt: Gottes Drecksloch. Zwar gab es hier und da noch ein sehenswertes Gebäude der osmanischen Epoche aus weiß verputztem Stein und mit hölzernen Türen und Fenstern, aber die allenthalben ins Auge springende Häßlichkeit der sozialistischen Bauweise aus der jüngeren, jugoslawischen Vergangenheit und die hilflosen Versuche zeitgenössischer Konstruktion in ihrer vielfachen Geschmacksverirrung dominierten den Eindruck vollkommen. Auch die Hochsicherheitskomplexe der internationalen Präsenz im Stadtzentrum waren nicht auf Ästhetik, sondern allein auf Schutz ausgerichtet und folglich hinter unansehnlichen Betonelementen und waffenstarrenden Sicherheitsschleusen verschanzt. Mehrere große Bauruinen aus den 1970er Jahren waren wie zu Stein gewordene Anklagen im Stadtkern versammelt: Ein gräßliches Hochhaus mit hohlen Fensteröffnungen, das zu nichts anderem mehr taugte als der Aufhängung eines gewaltigen Werbeplakates mit einer Flasche Peja-Beer, das im übrigen gut trinkbar war und damit beworben wurde, daß man es in einer aus Deutschland importierten Anlage gemäß dem deutschen Reinheitsgebot braue. Neben diesem hohläugigen Betonquader stand ein bei Regen sogleich im Schlamm versinkendes, ehemaliges Fußballstadion, dessen durchfurchtes Gelände bei Trockenheit als wilder, verstaubter Parkplatz und Flohmarkt genutzt wurde. Ende März 1999 hatte der damalige Bundesverteidigungsminister Scharping suggeriert, aber nie belegt, daß die Serben in diesem Fußballstadion ein Konzentrationslager betrieben.

      Neben dem KZ-Stadion stand eine Art Kulturzentrum in gewagter Betonkonstruktion, die als Kulisse für einen apokalyptischen Weltraumfilm getaugt hätte. Ein unglaubliches Violinkonzert sollte ich wenig später in diesem Gebäude erleben: Die Geiger des Zürcher Opernhauses spielten gratis vor einheimischem Publikum, das ganz überwiegend jung und noch nie im Leben in direkte Berührung mit klassischer Musik gekommen war. Spätestens als das Programm bei Paganini angelangt war, brach sich Begeisterung bei den


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