DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT. Klaus HübnerЧитать онлайн книгу.
übersetzen recht, was man nicht recht versteht.« Den Puristen mag das ein Graus sein – Zeitgenossen wie der in Teheran geborene Münchner Dichter SAID schätzen Rückerts Übertragungen bis heute.
Plädoyer für ein Lesebuch
Er muss einem ja nicht gleich wahnsinnig sympathisch sein. Ja, Rückert war ein biederer, manchmal verstockter, sehr eigensinniger Provinzler und Quartals-Misanthrop, und er war ein trutziger Verfechter eines kleindeutschen Reichs, ein wahrer Patriot, der zeitlebens an seinem noch ungeeinten Vaterland litt und es kurz vor seinem Tod mit Zwölf Kampfliedern für Schleswigholstein kräftig dabei unterstützte, den bösen Dänen eins aufs Haupt zu geben. Seine Liebe zur fränkischen Heimat war innig, seine Aversion gegen moderne Metropolen war es auch – noch heute könnte man überhebliche Hauptstadtbewohner ärgern, indem man Rückert zitiert: »Manchmal gefällt mir es hier nicht recht; dann denk' ich, wie wär dirs, / Wärst du jezt in Berlin? Und es gefällt mir sogleich.« Das war auf seine eher unglücklichen Professorenjahre in Berlin gemünzt und bezeugt einmal mehr, dass Friedrich Rückert zu quasi allen Lebenssituationen und Lebensereignissen Gedichte schrieb. Wie sein keineswegs langweiliges Leben verlief, kann man im ersten Teil einer zum hundertfünfzigsten Todestag neu aufgelegten Studie von Annemarie Schimmel erfahren; dass sich die verdiente Orientalistin im zweiten Teil fast ganz seinen dem Laien höchsten Respekt einflößenden Orientstudien widmet, wird man ihr nachsehen – lernen kann man dabei eine ganze Menge. Und abgesehen vom Lernen – man kann sich von Rückert auch prächtig unterhalten lassen. So wenig beachtet wie heute müssten er und sein Lebenswerk nicht bleiben. Ein aus heutigem Zeitbewusstsein heraus sorgfältig zusammengestelltes Rückert-Lesebuch könnte dazu beitragen. Wer packt es an?
Friedrich Rückert: Gedichte. Hrsg. von Walter Schmitz. Stuttgart 2005: Reclam Verlag.
Friedrich Rückert: »Jetzt am Ende der Zeiten«. Unveröffentlichte Gedichte. Hrsg. von Richard Dove. Frankfurt am Main 1988: Athenäum Verlag (vergriffen).
Friedrich Rückert: Werke. Historisch-kritische Ausgabe (Schweinfurter Edition). Begründet von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner. Hrsg. von Rudolf Kreutner, Claudia Wiener und Hartmut Bobzin. Göttingen 1998 ff.: Wallstein Verlag.
Annemarie Schimmel: Friedrich Rückert. Lebensbild und Einführung in sein Werk. Neuausgabe. Göttingen 2015: Wallstein Verlag.
Was vielleicht bleibt
Noch einmal zu Friedrich Rückert
Das »Rückert-Jahr« 2016 ist vorbei. Die große, in Schweinfurt, Erlangen und Coburg gezeigte »Weltpoet«-Ausstellung war gut besucht, die Wissenschaft hat sich intensiv mit dem fränkischen Dichter, Übersetzer und Orientalisten befasst – Friedrich Rückert ist hunderteinundfünfzig Jahre nach seinem Tod bekannter, als er es vor zwei Jahren war. Ob er auch gelesen wird? Bleiben wird auf jeden Fall der opulente Ausstellungskatalog, den man bis auf Weiteres als das definitive Standardwerk über diesen Poeten bezeichnen darf. Die Festrede zur Eröffnung der Ausstellung, gehalten am 7. April 2016 in Schweinfurt, hatte der 1967 geborene Kölner Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner übernommen. In der Reihe Göttinger Sudelblätter liegt sie nun gedruckt vor.
Weidner, für den der Dichter – neben vielem anderen – ein »poetisierender Blogger vor der Zeit« war, geht den »untergründigen Korrespondenzen zwischen Poesie und Flucht« nach. Lektüre für Spezialisten? Gewiss! Denn der Autor interpretiert Gedichte und Nachdichtungen Rückerts und stellt dessen Art und Weise des Übersetzens vor – alles in bester Germanistenmanier. Aber nicht nur. Denn Weidner sieht Rückert und seine Zeitgenossen zwischen einem durch die Französische Revolution befreiten politischen Bewusstsein und einem wohl erst 1871 endendem unfreien politischen Sein dazu verurteilt, »mit einer tiefen Zerrissenheit zu leben – einer Zerrissenheit, die heute auf ähnliche Weise in der arabisch-islamischen Welt erlebt wird«. Interessant! Während sich viele Intellektuelle und Künstler nach 1800 der Religion zuwenden, öffnet sich Rückert für die Kultur des Orients – eines Orients allerdings, »der sich aus wenig anderem als aus alten Texten zusammensetzt, nicht aus realen politischen Verhältnissen, geschweige denn lebenden Menschen«. Rückerts Orientvision sei vor allem eine »Chiffre für Andersheit« und damit etwas, was das heute als »Westen« bezeichnete Abendland im 21. Jahrhundert für viele Menschen aus islamisch geprägten Ländern darstellt – »ein offenes Feld für Projektionen«. Spannend! Sicher, niemand glaubt heute mehr an Rückerts Vorstellung von »Weltpoesie als Weltversöhnung«. Die Dichtung aber bleibt, und sie entfaltet weiterhin ihre »subversive Kraft« – zeigt sie doch immer wieder, dass es »andere Formen des Ausdrucks und der Weltwahrnehmung« gibt als die in den Medien präsenten Halbwahrheiten: »Poesie als Fluchthelferin, Schlepperin, Schleuserin in alternative geistige Gefilde.« Wenn uns, wie der Festredner schließt, die Poesie auch heute dabei helfen kann, »die aufdringliche Präsenz einer sich als absolut gerierenden Gegenwart zu konterkarieren«, dann ist das doch schon mal was, oder?
Stefan Weidner: Fluchthelferin Poesie. Friedrich Rückert und der Orient. Göttingen 2017: Wallstein Verlag. 62 S.
Der Schatz im Wörtersee
Vom Leben und Streben des Karl May
Mein Leben und Streben heißt Karl Mays 1910 erschienene Autobiografie, und man kann ihr genauso wenig trauen wie allen anderen Schriften des vor hundert Jahren in die ewigen Jagdgründe eingegangenen sächsischen Schwadroneurs, ohne den wir Winnetou, Old Shatterhand, Sam Hawkens, Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar, den Schut und all die anderen nicht kennengelernt hätten. Die Lebensbeschreibung von Helmut Schmiedt, der ein ausgewiesener Kenner der Materie ist und zudem stellvertretender Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft, bestätigt einerseits das seit Langem bekannte »Bild vom ebenso wirkungsmächtigen wie trivialen Großkomplex Karl May«, lässt aber andererseits keinen Zweifel daran, dass die Beschäftigung mit dem 1842 in Hohenstein-Ernstthal im Erzgebirge geborenen Schriftsteller auch bei Kulturwissenschaftlern inzwischen »hohe Dignität« genießt. Wobei das dem breiten Publikum weniger bekannte Spätwerk in den Vordergrund rückt.
Ein faszinierendes Thema: Aus dem in elenden Umständen aufgewachsenen, oft hungernden Knaben wird ein ziemlich störrischer Seminarist, später ein Vagabund, Betrüger und Zuchthäusler, dann ein eifriger Schreiber und geschickter Verrührer konventionellen Lesestoffs, und schließlich, ab 1880, ein bald von einem Millionenpublikum heiß geliebter »Meister der Illusionen«, der bis ins späte 20. Jahrhundert hinein seine Leser »in einem Maße begeistern wird, wie es keinem anderen deutschen Autor je gelungen ist«. Und am Ende ein wohlhabender und leidlich angesehener, nicht aber unbescholtener Untertan, ein rechthaberischer Stammtischflunkerer und treudeutscher Pantheist, der längst zum Markenartikel geworden ist und ein spannendes Nachleben haben wird – Pierre Brice und Lex Barker lassen grüßen. Eine grundsolide, manchmal ein wenig trockene und insgesamt doch äußerst anregende Dichterbiografie legt Helmut Schmiedt vor, viel Zeitgeschichte und viel Psychologie ist drin und ein wenig Germanistik obendrauf. Wer sie gelesen hat, weiß über Karl May alles, was man heute wissen kann. Die schönste May-Biografie allerdings ist und bleibt ein Roman aus dem Jahr 1980: Swallow, mein wackerer Mustang von Erich Loest.
Helmut Schmiedt: Karl May oder Die Macht der Phantasie. Eine Biographie. München 2011: C. H. Beck Verlag. 368 S.
Allzeit Trotz im Kopf!
Carl Spitteler? Heute?
1919, fünf Jahre vor seinem Tod, erhielt er als bisher einziger gebürtiger Schweizer den Nobelpreis für Literatur: Carl Spitteler, 1845 in Liestal bei Basel geboren, Schüler des berühmten Jacob Burckhardt, Dichter, Essayist und Kritiker, zu Lebzeiten bekannt im ganzen deutschsprachigen Raum. Heute ist er so gut wie vergessen, außerhalb der Schweiz sowieso, weitgehend aber auch in der Eidgenossenschaft selbst. Kaum jemand liest Spitteler, auch die Schriftsteller von heute lesen ihn nicht. Wieso eigentlich?
»Dichter, Denker, Redner« lautet der Untertitel eines schön aufgemachten Lesebuchs, dessen Cover das Spitteler-Porträt von Ferdinand Hodler ziert. »Die mythische Chiffre seines Lebens wie seines Schaffens ist der trotzige Einzelne, der sich seine Bahn bricht