GegenStandpunkt 3-16. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
Wenn er beschließt, sich lieber für eine enge, günstig gelegene Mietwohnung als für eine etwas größere weiter außerhalb zu bewerben oder umgekehrt, dann trifft er zweifellos eine persönliche Entscheidung nach individuellen Präferenzen, unverkennbar aber auch eine zwischen von Vermietern durchkalkulierten Alternativen und für das kleinere Übel. Da sie schon ein gutes Drittel des Lohns absorbiert, ist diese Entscheidung auch eine darüber, wie viel noch übrig ist für die Abwägung, was in Küchen-, Wohn- und Schlafraum alles herumstehen soll – die mit zu den wichtigsten Fragen der Lebensgestaltung gehörende Suche nach einer erschwinglichen Differenz zwischen Leben und bloßem Wohnen führt Massen zu Ikea – , und welche Verkehrsmittel zur Wahl stehen, um von dort aus zur Arbeit zu kommen und wieder weg. Die Frage, ob es unbedingt ein eigenes Auto „braucht“, bezeugt zwar nur, wie sehr diese Notwendigkeit die Mittel für anderes auffrisst, lässt sich unter Umständen heutzutage aber auch mit Nein beantworten; vielleicht hält sich der zusätzliche Aufwand an Zeit, die dann für die anderen Notwendigkeiten fehlt, sogar in Grenzen. Die Tatsache, dass bei der lohnabhängigen Menschheit der Entschluss zur einen Bequemlichkeit der zum Verzicht auf eine andere ist, macht sie zu den Adressaten der Werbung, mit der sich die Geschäftswelt um die beschränkte Zahlungsfähigkeit des Volkes streitet. Die Fachleute dieses humorvollen Gewerbes wissen Bescheid, wie weit die Freiheit der Menschen mit der kleinen „Kaufkraft“ reicht, die aus den gewöhnlichen Vergnügen einen „Luxus“ macht. Diese Vokabel bezeichnet nämlich sehr exakt die Genüsse, die sich einer nur leisten kann, wenn er an einer anderen Stelle Abstriche macht; was geschäftstüchtige Banken zu Offerten veranlasst, ihren Kunden „den Weg frei“ zu machen bei der Anstrengung, sich durch Sparen, aktuellen Verzicht, eine Anschaffung zu ermöglichen, die sonst nicht drin ist, oder die im Lohn liegende Beschränkung aktuell durch Verschuldung, Verpfändung der Mittel der Freiheit der Zukunft, zu durchbrechen und später mit umso härterem Verzicht dafür zu bezahlen. Die gelobte Freiheit hat für lohnabhängige Menschen mit einer Überwindung der Befangenheit in Notwendigkeiten nichts zu tun; ihr materieller Inhalt besteht darin, sich in einem fort frei, persönlich und ohne Bevormundung zu entscheiden, wie sie die Notwendigkeiten ihres Zurechtkommens abwickeln. Und Letzteres einer Welt von Angeboten abzuringen, die allein darauf berechnet sind, für die Eigentümer von Lebensraum, Lebensmitteln und Geld lohnend zu sein, nach einem seit 1848 unveränderten Prinzip: „Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten so weit beendigt, dass er seinen Arbeitslohn bar ausgezahlt erhält, so fallen die anderen Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.“
Deswegen ist es auch noch nicht mal so, dass wenigstens das Auskommen mit dem Einkommen eine sichere Sache wäre, wenn schon das Reich der wirklichen, materiellen Freiheit ganz den anderen Klassen vorbehalten ist. „Armut“ wird im modernen Deutschland öffentlich und offiziell thematisiert: als die Lebenslage derer, denen das Zurechtkommen nicht gelingt. Obgleich der „Armutsbegriff“ wissenschaftlich und moralisch hoch umstritten ist, herrscht allgemeiner Konsens, dass es sich bei ihr um die Abweichung von der Normalität handeln muss und sie insofern auch nichts anderes sein kann als eine Ausnahme von der Normalität, dass ein anständiger Mensch mit anständiger Arbeit sein Auskommen hat. Dabei sind die außergewöhnlichen Bedingungen, die Menschen in die Lage bringen, „armutsgefährdet“ zu sein – „Armutsrisiken“ wie ein wenig fehlendes Glück am Arbeitsmarkt, zu dem sich auch noch familiäres Pech gesellt –, „Armutsforschern“ zufolge statistisch gar nicht so selten. Karitative Organisationen meinen gar, dass „Armut jeden treffen kann“, jedenfalls wenn er von „abhängiger Beschäftigung“ lebt; und zweifelsfrei wirklich getroffen hat sie zumindest z.B. die „Millionen Menschen, die nicht ausreichend zu essen haben“ und bundesweit an 900 ehrenamtlich betriebenen Tafeln mit Lebensmitteln versorgt werden, die sie sich im Discounter nicht leisten können. Die Unterhaltungswelt wird neben rührenden Reportagen über Menschen, die „ohne eigenes Verschulden in Not geraten“ sind und sich dennoch „nicht unterkriegen lassen“, durch Talkshows und Doku-Soaps über die Fälle von Sozialarbeitern und Schuldnerberatern bereichert, in denen das Publikum zur eigenen Meinung angestachelt wird, ob die Abgestürzten in ihrer Lebenslage alles richtig machen. Das ist nämlich die entscheidende Frage für die öffentliche „Beurteilung“ ihrer Lage: Ohne sichtbare Anstrengungen, anständig mit ihr zurecht- und nach Möglichkeit wieder herauszukommen, haben sie kein Mitleid verdient, ziehen vielleicht sogar den Verdacht auf sich, ihre Armut verdient zu haben – als sei die die Vergütung für fehlenden Anstand. Die elitären Macher des „Unterschichtenfernsehens“ können eben davon ausgehen, dass die wirklichen Menschen, die sie da unterhalten, es gewohnt sind, dass es einiges an Mühe kostet, so Maß zu halten, dass ein Leben dabei herausspringt. Wovon auch der häufig verlautbarte Stolz auf die eigene Leistung, die „Herausforderungen des Lebens“ insgesamt doch so gut zu meistern, dass man ganz gut zurechtkommt, ein Zeugnis ablegt. Auch daran, dass die „Vorsorge für das Alter“ als ein unverzichtbarer Posten gilt, wozu schon die Jugend ermahnt wird und sich einleuchten lässt, es mit der Lebensqualität nicht zu übertreiben, damit die bevorstehende Altersarmut aushaltbar wird, lässt sich bemerken, was im Unterschied zur öffentlichen und offiziell anerkannten Definition der Armut als Abweichung von der Normalität der Lohnarbeit die Wahrheit über die Armut der arbeitenden Klasse ist: Die lebenslange Anstrengung, ein Scheitern beim Zurechtkommen zu vermeiden, ist allgemein Bestandteil der lohnabhängigen Existenz.
Die zweite Herausforderung ist die Einteilung der knappen Zeit. Wer von Lohnarbeit lebt, kann sich zwar einbilden, nach der Arbeit beginne das Leben; immerhin verbleibt ihm ja rechnerisch nach einem durchschnittlichen Arbeitstag noch die andere Hälfte des wachen Tages zur anderweitigen Nutzung. Er kann aber auch merken, wie wenig ihm die „Freizeit“ für eigene, frei gewählte Zwecke zur Verfügung steht. Schon dass er dann nicht mehr einem Arbeitgeber zur Verfügung steht, ist in vielen Fällen keine ausgemachte Sache; sogar dass ein Arbeitnehmer noch ein wenig übriggebliebene Arbeit, ein paar berufliche Telefonate usw. zu Hause erledigen darf, kommt vor, ist bei „selbstständigen“ Anbietern der Arbeitskraft sogar die Regel; aber es gibt auch die „guten“ Betriebe, in denen durchgesetzt ist, dass zumindest für einen Teil der Freizeit die dauernde „Erreichbarkeit“ der Mitarbeiter per Handy und Mail auch mal ein Ende hat. Frei von Berufsnotwendigkeiten ist der Mensch aber noch lange nicht, bloß weil er nicht mehr von seinem Arbeitgeber kommandiert wird. Der „Feierabend“ beginnt mit dem Erfordernis, Distanz zum Betriebsalltag zu gewinnen, und das nicht nur im geografischen Sinn des Nachhausewegs, der ja auch seine Zeit in Anspruch nimmt. Weil die Inbeschlagnahme von Hirn und Nerven durch die Arbeit sich mit dem Verlassen des Betriebsgeländes nicht von selbst abstellt, wird „Abschalten“ zu einer eigenen, aktiven Beschäftigung. Dafür bietet die Unterhaltungsindustrie tausenderlei Varianten, die Sinne so intensiv zu okkupieren, dass der Kopf zwar nicht frei wird, aber für Gedanken an den Betriebsalltag kein Platz mehr ist; und manch einer muss sich selbst ermahnen, auch mal wieder auszuschalten, was er einschaltet um abzuschalten, weil ja auch noch andere Notwendigkeiten zu erledigen sind. Einiger Aufwand ist dafür verlangt, dass der nach allen Regeln der Rentabilität beanspruchte Körper wieder zu Kräften kommt, die der Betrieb verbraucht, sowie zur unerlässlichen „Entspannung“ – und ein milliardenschweres Geschäft mit der Gesundheit lebt davon, dass das flächendeckend nicht gelingt. Natürlich betreibt der Arbeitnehmer die Wiederherstellung seiner Aufmerksamkeit und körperlichen Kräfte für sich – dem Arbeitgeber, der sie vernutzt, fällt er mit dieser Notwendigkeit nicht zur Last; auch für die Vernachlässigung büßen muss ja nur er –, deswegen kümmert er sich auch effektiv darum, sodass Fast-Food-Restaurants und Mahnungen zu „gesundem Essen“ ebenso boomen wie Fitnessstudios, in denen sportliche Betätigung zeitsparend unter Abstraktion von allem Genuss auf ihre erwünschte Nebenwirkung, die Herrichtung der beruflich arg beanspruchten körperlichen Leistungsfähigkeit, reduziert wird. Denn sonst hat man ja am Ende gar keine „Zeit für sich selbst“, in der man die halbwegs wiederhergestellte Aufmerksamkeit und körperlichen Kräfte für eigene Interessen benutzen kann, ehe die feststehende Vernutzung derselben durch den Betrieb wieder ansteht.
Die frei gewählten Betätigungen für die Zeit, die lohnarbeitende Menschen aus ihrer Freizeit herauszuschinden wissen, sind ein letzter Beweis, dass die abhängigen Knechte des Kapitals auch nach Arbeitsende ihrer Rolle nicht entkommen. Die Freizeitgestaltung der arbeitenden Klasse – ihr „Freizeitstress“ – ist nicht nur in ihrem Ausmaß, sondern auch in ihrer Beschaffenheit