Wie Schneeflocken im Wind. Denise HunterЧитать онлайн книгу.
her sein mochte, dass sie ein bisschen geschlafen hatte? Es wäre einfach himmlisch gewesen, sich ein paar Stunden auf einem Hotelbett ausstrecken zu können.
Micah schlief an die Beifahrertür gelehnt, seinen geliebten Teddy fest an sich gedrückt. Sein normaler Tages- und Nachtrhythmus war inzwischen völlig durcheinander.
Sie wünschte, er könnte jetzt die schönen kleinen Häfen sehen, an denen sie vorbeikamen, und die bunten Hummerbojen, die verstreut auf dem Wasser tanzten.
Sie schaute in den Rückspiegel und sah immer noch den grünen Kleinbus hinter sich. Am Steuer saß eine Frau, hinter ihr auf der Rückbank zwei kleine Kinder.
In dem Moment tat es einen dumpfen Schlag, der Edens Gefühl nach vom Motor kam. Sie schaute mit sorgenvoll gerunzelter Stirn auf die Anzeigen am Armaturenbrett, aber der Tank war noch halb voll, und der Motor war auch nicht zu heiß. Der Buick, den sie fuhr, war alt – dreiundzwanzig Jahre – und damit nur zwei Jahre jünger als sie selbst. Sie hatte ihn für nur tausend Dollar in Jacksonville, Florida, gekauft, und entsprechend war auch sein Zustand, aber er brauchte ja auch nur noch bis nach Loon Lake in Maine durchzuhalten.
Sie hatte es riskiert, vor ihrer Abfahrt mit einem Wegwerf-Handy Karen anzurufen – das sie hinterher natürlich sofort entsorgt hatte. Karen war überrascht gewesen, denn sie hatten nichts mehr voneinander gehört, seit Karen und ihre Tochter während Edens letztem Jahr in der Highschool nach Sacramento gezogen waren. Karen war für Eden lange eine Art Ersatzmutter gewesen.
Ja, ihre Ferienhütte in Loon Lake stehe leer, hatte sie gesagt. Sie überlege gerade, sie zu verkaufen. Natürlich könne Eden dort eine Weile wohnen. Nein, sie würde mit niemandem darüber reden.
Damit hatten sie einen Ort gehabt, wo sie unterkriechen konnten, einen Ort, von dem niemand wusste, und jetzt waren sie nach langer Fahrt fast da. Nach ihrer Ankunft würde sie ihnen so bald wie möglich falsche Papiere besorgen, und dann würde für sie ein neues Leben beginnen.
Ihren Ehering hatte sie versetzt, als sie durch Atlanta gekommen waren. Sie hatte dafür bei Weitem nicht das bekommen, was er wert war, aber es reichte, um die Zeit zu überbrücken, die sie brauchen würde, um ihre Firma White Box Designs wieder in Gang zu bringen.
Sie hatte ihre Kunden schmählich im Stich lassen müssen, aber sie würde alles daransetzen, sie zurückzugewinnen.
Vom Motor kam jetzt wieder ein Geräusch, bei dem Eden angst und bange wurde, und dann quoll plötzlich bläulicher Qualm unter der Motorhaube hervor.
Nein. Nein, nein, nein! Das kann doch nicht wahr sein. Da hast du ja wieder absolut richtig entschieden, Eden. Du bist echt ein hoffnungsloser Fall.
Sie nahm den Fuß vom Gas, aber das furchtbare Geräusch ließ nicht nach, und außerdem roch es nach verbranntem Öl. Sie schaltete den Warnblinker ein, und im nächsten Moment überholte sie auch schon der grüne Kleinbus.
Um sie her waren nichts als Hügel und Bäume. Sie war zwar vor einer Weile durch eine Stadt gekommen, aber wenn es dort überhaupt eine Tankstelle oder eine Werkstatt gab, hatte sie die nicht bemerkt, denn über weite Strecken war sie mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen und hatte Pläne geschmiedet.
Das war es dann wohl, dachte sie und schaute zu, wie der bläuliche Qualm im Fahrtwind davonzog.
Da entdeckte sie ein Stück vor sich einen Wegweiser. Sie kniff die Augen etwas zusammen, um die Schrift darauf lesen zu können:
SUMMER HARBOR 8 KILOMETER,
stand da.
Der Wegweiser zeigte nach rechts, und da sie im Grunde keine Wahl hatte, folgte Eden ihm. Sie hoffte, dass der Ort wenigstens so groß war, dass es dort eine Werkstatt gab. Nach dem Kauf des Autos waren ihr nur noch fünfzehnhundert Dollar geblieben, die sie allerdings auch dringend für ihren Neuanfang brauchte.
Das kann doch nicht wahr sein, so kurz vorm Ziel, schrie es jetzt förmlich in ihr.
Das beängstigende Geräusch dauerte an, sodass sie ganz langsam fuhr und einfach hoffen musste, dass sie den Motor nicht völlig ruinierte, indem sie nicht anhielt. Zu allem Überfluss fing es jetzt auch noch an zu schneien. Dicke, nasse Flocken klatschten gegen die Windschutzscheibe und behinderten ihre Sicht.
Was sollte sie nur tun?
Das Wichtigste zuerst, Eden. Suche eine Werkstatt und lass dir einen Kostenvoranschlag für die Reparatur erstellen.
Vielleicht war es ja gar nichts Schlimmes, Teures, sondern nur ein gelockertes Kabel oder ein defekter Schlauch. Vielleicht würde ja ein freundlicher Automechaniker an ihren Augenringen sehen, wie erschöpft sie war, und Erbarmen mit ihr und dem Kleinen haben.
Die zweispurige Landstraße ging bergauf und bergab und war sehr kurvig. Eden hatte das Gefühl, für die acht Kilometer ewig zu brauchen. Doch irgendwann erreichte sie schließlich doch ein Ortsschild mit der Aufschrift
WILLKOMMEN IN SUMMER HARBOR, INC. 1895.
Rechts und links von der Straße, die sich direkt an der Küste entlangschlängelte, tauchten erste, vereinzelte Häuser auf, und als sie dann tatsächlich in die Stadt hineinkamen, wurde die Straße abschüssig und gerader. Mit seinen anheimelnden kleinen Läden und altmodischen Straßenlaternen, die unter einer dicken, glitzernden Schneedecke lagen, sah Summer Harbor aus wie ein Weihnachtskartenmotiv. Es lag direkt an der felsigen Küste, auf die sie auch während der Fahrt einen ganz kurzen Blick erhascht hatte, aber sie konzentrierte sich jetzt lieber darauf, nach einer Tankstelle oder einer Werkstatt Ausschau zu halten.
Unter anderen Bedingungen hätte sie den Ort gerne ein bisschen genauer erkundet – am liebsten im Sommer, wenn es hier von Hummerfischerbooten und Touristen wahrscheinlich nur so wimmelte. Doch auch jetzt, in festlichem Weihnachtsschmuck, hatte die Stadt ihren Charme.
Da! Etwas versteckt an einer Seitenstraße entdeckte sie eine Tankstelle. Sie fuhr auf den Parkplatz davor, schaltete den Motor aus und empfand sehr intensiv die plötzliche Stille.
Es tat ihr in der Seele weh, Micah wecken zu müssen, denn seit sie auf der Flucht waren, hatte er nicht mehr richtig tief und fest geschlafen. Als sie ihn jetzt an der Schulter berührte, zuckte er erschrocken zusammen und war mit einem Ruck wach. Er wurde ganz starr, als er sich erinnerte und merkte, wo er war, und riss die Augen wie in Panik weit auf. Sie fand diesen Ausdruck ganz furchtbar. Kein fünfjähriges Kind sollte durchmachen müssen, was er schon alles hinter sich hatte.
„Hey, mein Kleiner“, sagte sie leise. „Wir haben eine kleine Autopanne. Lass uns aussteigen und uns ein bisschen die Beine vertreten, ja?“ Sie holte ihre Jacken aus dem Rucksack, der auf dem Rücksitz stand, und half Micah beim Anziehen.
Auf dem Weg zum Kassenraum der Tankstelle zog sie sich ihre Baseballkappe noch tiefer ins Gesicht und schaute sich noch einmal um. Dann setzte sie Micah seine Kapuze auf und zog ihn ganz nah an sich heran.
In dem Kassenraum hielt sich nur ein Mann auf. Er saß hinter der Kasse, die Füße auf dem Tresen, und bearbeitete mit geübten Fingern sein iPhone. Er hatte ein so jungenhaftes Gesicht, dass sie ihn auf unter zwanzig schätzte, auch wenn er offenbar den verwegenen Versuch unternahm, sich einen Bart wachsen zu lassen.
Als er aufsah und sich ihre Blicke begegneten, wurde er rot, nahm die Füße vom Tresen und richtete sich auf dem Kassenstuhl auf.
„Hallo. Kann ich Ihnen helfen?“, begrüßte er sie.
Sie schenkte ihm ihr nettestes Lächeln und antwortete: „Ich habe Probleme mit meinem Wagen und bin ziemlich in Eile. Könnte vielleicht mal jemand einen Blick auf den Motor werfen?“
„Tut mir leid, unser Mechaniker hat heute frei, aber Montag ist er wieder da.“
Ihr sank der Mut. „Gibt es denn noch eine Werkstatt im Ort? Ich muss nämlich so schnell wie möglich weiter“, erklärte sie.
„Nein, wir sind die einzige“, antwortete er nur achselzuckend.
Nachdenklich