Krampenfieber – Im Fangarm der Pimperbrille. Tobie SchmackЧитать онлайн книгу.
Das hätte auch der hochgewachsene Stoppelbartfettsack wissen sollen, dessen geführter Holzstab immer noch in der Luft hängt und gleich meine von mir so sorgsam gehüteten Hodensäcke zerlegen wird, scheibenweise – nett angerichtet. Ja, gleich ist das Buffet eröffnet. Wenn es einen Moment gibt, an dem ich freiwillig nach der bereits seit geraumer Zeit abgelegten Mutterbrust schreien dürfte, ja sollte, dann jetzt.
»MAAAAAAAMAAAAAA!«
Aber dann! ROMMP! Alles geht plötzlich verdammt schnell. Manni springt in meinen Angreifer hinein und fängt sich dabei einen der Billardstäbe am Oberarm ein. In einem Western würde das Holz nun vollkommen zersplittern und der Rest der Glotzerbande schlagkräftig ins Geschehen eingreifen. In Mannis Bude lässt man ihm aber seine Ein-Mann-Show. Ist einfach besser, gerade für die eigenen Zähne. So billig kommt man mit Zurückhaltung davon. Die Wand entledigt sich weiterer Fotorahmen, als das Duo dagegenkracht. Mannis Vorteil ist ganz klar das Überraschungsmoment. Und so endet das gefeierte Gerangel, kaum dass es begonnen hat. Wie bei einem über Monate gehypten Mega-Box-Event fällt die Anspannung nach nur zwei Minuten glanzlos in Schockstarre zu Boden und hinterlässt ein enttäuschtes Publikum, das wie ein verzweifelter Penis nach stundenlangem Hoch-und-Runter nach einem phänomenalen Höhepunkt schreit und daher nach einem saftigen Nachschlag verlangt und völlig verständlich »Zugabe« skandiert. Ein Wunsch, der mir in den schlottrigen Knien abstirbt. Überaus erleichtert rolle ich mich seitlich vom Tisch. Während Manni den Fremdkörper unter Verwendung diverser reich ausgeschmückter Nettigkeiten über dessen Muttertier aus dem Laden jagt, suche ich mir einen mich stabilisierenden Barhocker als neuen Kurzzeit-Kumpel und sacke, an die bilderlose Wand gelehnt, nach und nach zusammen.
Irgendwie scheint die Musik wieder lauter zu sein. »Summer of ’69«! Der Bass aus den Lautsprechern über mir füllt mich bestens aus. Neunundsechzig!?! Ja, ’ne Neunundsechzig, das wär jetzt was, grinse ich still in mich hinein und erblicke mich selbst in einem der noch an der Wand baumelnden Spiegelsplitter.
»Mann, Henry …«, reiße ich mich wieder zurück. »Neunundsechzig! Dieses ganze Kopfgeficke! Du willst doch nur …«
Egal! Aber ehrlich, eigentlich habe ich von diesem ganzen Mist genug. Ich will mal endlich runterkommen, aber ich kann nicht. Mir bleibt einfach nicht genug Zeit.
»Auf dich, du alte Scheiße!«, proste ich erschöpft dem herzerweichend blassen Henry im Spiegelbild zu.
Was trinke ich da eigentlich, beginne ich mich zu fragen, als ich an meinem zerrissenen Hemdärmel herunterblicke und das gut gekühlte Glas in meiner Rechten sehe, an dem ein einsamer Tropfen Kondenswasser abwärts schlurft. Sieht nach Caipirinha aus, schmeckt aber nach Seife. Bestens, das Glas war also vorher sauber. Ich nippe zufrieden und kümmere mich nicht weiter darum, wer den Drink spendiert hat. Und ehe ich das teuer bezahlte Zeugs verkommen lasse!
Ich starre in die Leuchte über dem Billardtisch und verliere mich kurz im grellen Licht der Energiesparlampe. Plötzlich muss ich an sie denken. Delia. Ja, Delia. Weißer Strand. Alles ist so fern und doch so unvergessen. Ihr Lächeln, ihre Anwesenheit, sie war immer da, aber nie hier bei mir. Sie würde allein bei der bloßen Idee schon Panik-Herpes bekommen. Eine schmerzhaft verkrustete Patzlawwe von der nässenden Unterlippe bis zum Zehennagel des großen Onkels, und das nur, weil ja hinter jeder Ecke ein präzise organisiertes Mordkommando wartet, das mittels herrenloser Cocktails ahnungslose Provinzloser auslöscht. Qualvoll langsam, mit einer perversen Faszination am menschlichen Verfall. Ich bin nicht der Kopf einer ukrainischen Revolution und der russische Geheimdienst schleicht sicher momentan um spannendere Krisenherde herum. Ach Delia! Du kannst mir sowieso mal gepflegt am … was auch immer. Ich habe keine Lust, an sie auch nur einen weiteren Gedankensplitter zu verschwenden. Vom leichten Windzug der Lüftung angetrieben schwingt die Leuchte über dem Billardtisch hin und her. Während ich mit der Zunge um meine sich aufbäumend angeschwollene Unterlippe fahre, um kurz auszuschließen, dass die Herpeswelle nicht doch im Anmarsch ist, schaue ich erwartungsvoll zum Eingang herüber. Tacko ist noch immer nicht da und ich bin mir langsam nicht mehr sicher, ob er überhaupt noch auftauchen wird. Tacko! Bester Freund, mein Mentor, das Tor zur Hölle, das Chaos als Widerspruch in sich selbst, ein Kerl, den es geben muss, weil es gut so ist, oder schlicht mein Coach. Ja, Coach würde gut passen, denke ich und schütte mir noch etwas unübersehbar schäumende Soap-Pirinha in den kratzig-trockenen Schlund. Unnachgiebig wummert der Bass auf meiner Brust. »Summer of ’69« aus der Konserve ist schon Geschichte und jetzt schreit sich der Typ von Kings of Leon seine Lyrics aus dem Hals. Billardkugeln schlagen an dem verblassten Tischteppich aneinander. Klack, klack-klack.
»Mann, der Club ist immer noch irgendwie … so voll Dorf!«, lästert nüchtern die Stimme eines übermäßig mit Haargel gelackten Motoradjackenträgers, der sich gerade neben mir aufgebaut hat.
»Mann, Tacko! Da bist du ja endlich«, entgegne ich erleichtert und doch zugleich sichtlich angepisst.
»Gehst du hier immer so her?«, fragt er mich grienend und zottelt an meinem zerrissenen Checker-Hemd herum. »Also, so kriegste die Chicks nicht. Und mit ’ner nassen Hose wird das sowieso nix mit den Mädels. Oder ist Messie-Look angesagt? Übrigens, Blutspende ist erst morgen, hier im Gemeindesaal, steht draußen dran, aber du kannst ja den Fetzen bei denen in den Briefkasten stopfen«, drückt er sich genüsslich zwischen den Beißerchen durch, begleitet von diesem unnachahmlich widerlichen und selbstüberschätzten Gewinnerlächeln. Mein Anblick des fleischgewordenen Jammers muss einfach zu verlockend sein.
»Danke, Tacko, mir geht’s blendend, wenn man mal davon absieht …«, mein Ton wird spürbar eindringlicher, »... dass ich hier grade voll auf die Fresse gekriegt habe. Und alles nur wegen deiner Scheißidee.«
Am Nebentisch lässt die Junggesellenabschiedsfeier den Broiler noch immer nicht aus der Mangel. Nein, jetzt gibt’s für alle im Club Wolle Petri, wie immer extended und gebrüllt. Wahnsinn! Sicher! Wahnsinn im Kochtopf. Und das zukünftige Ehe-Opfer im noch immer stilsicher sitzenden Hähnchenkostüm schwimmt mittendrin. Überall Farbflecken. Paintball! Sieht ganz schön bunt aus.
»Auf dich, Matze!«, feiert die Gerstensaft gesteuerte Testosteronhorde den bald Verheiraten, zur Treue Verdammten und damit offiziell zum Abschuss Freigegebenen am Nebentisch und stimmt dann mit ihm zusammen rülpsend ein.
»AUF JEDEN!«
Mein Lippenkostüm ist in dem aktuellen Schlauchbootformat noch immer preisverdächtig voluminös, was sich einfach völlig behindert anfühlt. »Blitz-Botox durch Fausteinschlag«. Schöne Schlagzeile! Wenn ich mich nicht gerade so anstrengen müsste, Fassung zu bewahren, ich würde auf der Stelle den Stift zücken und mich selbst zum nächsten Gaghöhenfeuerwerk ausweiden. Auf solche Stories hat die Bühne doch gewartet. Statt mich in der schriftstellerischen Produktionshalle vors Fließband zu schnallen, übt sich mein Gegner in unerreichter Motivation.
»Deine Deckung ist einfach miserabel, Henry!«, stochert Tacko in meinem Bottich aus definitiv verletztem Männerstolz herum und stupst meinen Oberarm mit seiner Bierflasche an. »Prost, du alte Hütte!«
Flasche gegen Flasche!
»Du mich auch!«, grinse ich so gut es geht zurück.
In diesem Moment bin ich dankbar, dass Clubs dieser Sorte nicht standardisiert mit Tageslichtlampen ausgestattet sind. Kaum jemand nimmt mehr Notiz von mir. Und der von mir eben noch als Behandlungsunterlage belegte Billardtisch wird von drei blutigen Anfängern mit Flaumbart beackert. Die sind vermutlich gerade mal fünfzehn und halten sich mit ihren Smartphones für schweinegeil. Dass die Dinger beim Spielen stören, ignorieren die gänzlich. Die suchen sicher eine App für die Spielregeln. Was’n Stress! Ich hatte in deren Alter lediglich einen gratis Flächenbrand an Pubertätspickeln – ein verdrängtes, unfreiwilliges Upgrade. Aber an jene Abende an der Sechs-Loch-Arena kann ich mich bestens erinnern. Da ist noch immer ein Gefühl, zwar schwach und leicht traurig, weil nur wir beide es sind, die noch nicht in die strahlende Zukunft jenseits der als touristisch idyllisch vermarkteten Landmasse an Mulde und Elbe geflohen sind. Während ich melancholisch ersaufe, begatten zwei der Irokesen den Tisch. Würde ich das nicht selbst mit meinen eigenen Augen sehen, ich würde es für vollkommen abwegig halten, dass so eine Aktion auch nur ansatzweise den Weg in ein Hirn findet. Der Dritte im Bund