Wie Opas schwarze Seele mit einem blauen Opel gen Himmel fuhr. Albrecht GralleЧитать онлайн книгу.
müsste ich meine Fernsichtbrille aufsetzen“, flüsterte Opa, „die ich vergessen habe.“
Mir war bis dahin nicht klar, wie laut man flüstern konnte, aber es fiel nicht weiter auf, weil sich alle halblaut unterhielten.
Irgendwann setzte das Klavier ein, und der Geräuschpegel nahm ganz allmählich ab, und am Ende des Stücks waren dann alle ruhig.
„René“, flüsterte meine Mutter. „Hol für Opa ein Liederbuch, weil er seine Fernsichtbrille nicht dabeihat.“
„Aber er ist doch vorhin Auto gefahren“, flüsterte ich zurück. Meine Mutter nickte und seufzte gleichzeitig.
Also ging ich los und holte für Opa ein Liederbuch. Zum Glück standen die Nummern unterhalb der Texte an der Wand für die, die unbedingt ein Liederbuch brauchten.
„Wie bei Belsazar“, sagte Opa und deutete auf die Schrift an der Wand, und ich grinste, weil ich natürlich die Geschichte von König Belsazar kannte, wo bei einem Festmahl plötzlich eine Schrift an der Wand erschien. Wir hatten erst neulich das Gedicht von Heine auswendig lernen müssen: „Die Mitternacht zog näher schon, in stummer Ruh lag Babylon …“
„Ich hoffe, dass ich morgen noch lebe“, flüsterte Opa meiner Mutter ins Ohr.
„Wieso denn?“
„Weil Belsazar am nächsten Tag tot im Bett lag, nachdem die Schrift an der Wand erschienen war.“
Er lachte lautlos in sich hinein und fing gleich danach an zu husten.
Ich wunderte mich, dass er diese Geschichte überhaupt kannte, wo er sich doch gar nicht mit der Bibel beschäftigte.
Inzwischen hatten wir drei Lieder gesungen. Aber bis Opa ein Lied gefunden hatte, fing schon das nächste an.
„Das geht mir alles zu schnell“, murmelte er.
Nach der Kollekte wurde Opa von Reiner, der diesmal mit den Bekanntmachungen dran war, extra erwähnt, und alle drehten sich nach Opa um, der mit seiner rechten Hand allen zuwinkte. Ich hatte den Eindruck, dass sich Opa bisher gut amüsierte.
Weil wir einige Flüchtlinge aus dem Iran haben, wird der Predigttext bei uns immer auf Persisch vorgelesen und dann auf Deutsch.
Opa war zuerst überrascht und runzelte die Stirn. Dann murmelte er so laut, dass es fast alle hören konnten: „Man kommt sich hier vor wie im Orient!“
Einige drehten sich um.
Bei der Predigt schaute er mehrmals auf die Uhr und gähnte. Mama blickte starr geradeaus, als ob sie es nicht gemerkt hätte.
Bertram Giesecke, unser Pastor, ist eigentlich nicht schlecht. Er gibt sich große Mühe. Und damit die Leute bei der Predigt dranbleiben, stellt er oft zwischendurch Fragen, die er aber dann selbst beantwortet. Wahrscheinlich rechnet er gar nicht damit, dass jemand was sagt. Aber Opa kannte Bertram natürlich nicht. Mitten in der Predigt stellte er die Frage: „Und wie geht es euch so, wenn ihr einen schlechten Tag habt?“
Opa blickte überrascht auf. Und als niemand etwas sagte, rief er: „Entweder ich rauche eine Zigarette, oder ich mache den andern das Leben schwer. Das lenkt ab. Dann bin ich nicht der Einzige, dem es schlechtgeht.“
Es war eine Sekunde lang völlig still. Bertram blickte Opa überrascht an. Damit hatte er nicht gerechnet, und einige andere drehten sich auch zu Opa hin. Jemand prustete los.
Bertram sagte so was wie: „Vielen Dank. Ja, das kann schon mal vorkommen. Schauen wir einmal, was Paulus dazu meint.“
Und dann erklärte er, dass Paulus gerne Gott dankt, wenn es ihm schlechtgeht, weil ihm das hilft.
„Das ist doch der reinste Schwachsinn!“, rief Opa dazwischen und bekam von Mama einen kleinen Fußtritt. „Ich kann doch nicht danken, wenn ich nicht gut drauf bin. Da fällt mir das Fluchen schon leichter!“
Wieder bedankte sich Bertram für den Kommentar und sagte dann sehr deutlich, dass er jetzt gerne zu Ende predigen wollte. Nachher könnte man ja darüber reden. Er sagte dann noch, dass es tatsächlich funktioniert, wenn man für die unangenehmen Dinge dankt. Aber Opa schüttelte nur den Kopf und brummte wieder: „Der reinste Schwachsinn! Ich nenne das Gehirnwäsche!“
Eine Dame vor uns drehte sich empört um und zischte: „Können Sie bitte Ihren Mund halten. Ich möchte etwas von der Predigt verstehen!“
„Sie sollten dafür danken, dass ich sie störe. Dann können Sie das mal ausprobieren, was gerade gesagt wurde. Darum geht es doch hier!“
Daraufhin blieb sie stumm.
Wir haben die Angewohnheit, das Gebet manchmal freizugeben, sodass jeder, der gerne will, laut ein Gebet von seinem Platz aus beten kann. Opa blickte erschrocken auf, als einer neben ihm plötzlich laut betete.
Und ich zuckte zusammen, als Opa selbst damit anfing. Sein Gebet war relativ kurz. Er sagte ungefähr: „Gott, danke für das Frühstück und das saubere Wasser aus der Leitung. Danke, dass ich den verdammten Krieg überlebt habe und diese seltsame Predigt. Ich finde es nervend, wenn man bei Gebeten so herumlabert. Ich hoffe, dass ich meiner Familie nicht zu sehr auf die Nerven gehe. Amen.“
Es war wieder ein paar Sekunden still, weil alle etwas verblüfft nach diesem Gebet schwiegen. Normalerweise wurde nicht so ehrlich gebetet. Dann betete der Pastor, dass es gut ist, wenn wir auch für die alltäglichen Dinge dankbar sein können.
Hinterher, beim Kirchenkaffee, stand Opa neben einem Bistrotisch und unterhielt sich mit einer ganzen Reihe Leute, oder er wollte sich unterhalten, aber die meisten blickten in ihre Kaffeebecher, als ob eine geheime Botschaft auf dem Becherboden stand.
Er versuchte es mit Witzen, und ein paar lächelten höflich. Schließlich redete er so laut, dass man es überall hören konnte, und erklärte, dass immer mehr Leute nach Deutschland kämen, um sich ein sorgenfreies Leben mit unseren Steuergeldern aufzubauen.
Einer unserer Iraner, ich glaube, es war Ervin, fragte Opa, wo er denn ursprünglich herkäme.
„Aus Leipzig.“
„Und seit wann?“
„Ich bin neunundvierzig rübergekommen.“
„Dann sind Sie ja auch ein Flüchtling gewesen.“
Opa blickte Ervin etwas seltsam an und versuchte, wieder einen Witz zu erzählen.
„Ich will gar nicht wissen, welche von seinen Witzen er gerade zum Besten gibt“, sagte meine Mutter und setzte hinzu: „Gehen wir!“
Mit einem strahlenden Lächeln (Lächel Nummer neun, unecht) hakte sie sich bei ihrem Vater unter und sagte laut: „Ich muss jetzt meinen Vater mitnehmen. Er ist nämlich unser Chauffeur.“ Ein komisches Wort, weil es mich an einen alten Rolls Royce erinnerte und an einen Mann in Uniform mit Schirmmütze.
Opa ließ sich nicht gerne mitziehen, aber er sah es dann ein, und wir fuhren zurück.
„Meine Güte, sind die alle lahm!“, brummte er. „Es kommt beim Kaffeetrinken keine richtige Stimmung auf.“
„Ich glaube, die meisten waren bedient über deine seltsamen Aktionen“, meinte meine Mutter.
„Was denn für Aktionen?“
„Man kommt sich vor wie im Orient! Oder die merkwürdigen Antworten auf Pastor Bertrams Fragen! Und unsere Flüchtlinge haben sich auch über deine verletzenden Bemerkungen gewundert, wo du doch selbst ein Flüchtling warst.“
Aber das konnte er nicht ertragen: „Ich verbiete dir, mich in einen Topf mit den Iranern zu werfen.“
Das fand Anna jetzt wieder lustig. „Opa wird in einen Topf geworfen!“, sagte sie.
„Überhaupt“, meinte meine Mutter, „wusste ich gar nicht, dass du öffentlich beten kannst, Papa. Ich stelle es mir schwierig vor, zu einem Gott zu beten, den es deiner Meinung nach gar nicht gibt.“
„Das