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Schäm dich, Europa!. Wolfgang Maria SiegmundЧитать онлайн книгу.

Schäm dich, Europa! - Wolfgang Maria Siegmund


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die Verantwortung für die gesamte Welt. Trüge ein jeder von uns das Echo der Weltantwort ein Stück weiter, wäre die Last des Seins um vieles leichter. Doch es gibt eine Frage, die diese Ethik fast zerstört, in sich auflöst, in Unruhe versetzt: Der kürzlich verstorbene Philosoph Paul Ricœur hat sie gestellt: Was ist, wenn der Andere dein Henker ist, was geschieht dann? Seiner Aufforderung zu folgen, hieße freiwillig in den Abgrund zu gehen. Masochismus als Ethik? Auch auf diese Frage hält Lévinas eine Antwort bereit, die aber sein Schüler Derrida erst viel später entblößen wird. In die Paarung von Angesicht zu Angesicht, zwischen mir und dem Andern gesellt sich immer auch die Gestalt des Dritten. Erst diese Figur sorgt für Maß, für Ausgleich, für Gerechtigkeit. Mit seinem Beitritt zur Zweierrunde entsteht erst Gerechtigkeit. Lévinas schreibt:

       „Der Dritte ist anders als der nächste. (…) Was also sind sie, der Andere und der Dritte (…) Was haben sie einander getan? Welcher hat Vortritt vor dem anderen? (…) Von selbst findet die Verantwortung nun eine Grenze, entsteht die Frage: Was habe ich gerechterweise zu tun? (…) Es braucht die Gerechtigkeit, das heißt den Vergleich.“8

      Derrida, Schüler und großer Verehrer von Lévinas, problematisiert in seinem wunderschönen Nachruf Adieu á Emmanuel Lévinas jene mysteriöse Figur des Dritten. Und er rettet Lévinas, steht ihm bei gegen den Angriff, dieses ethische Konzept sei monströs, habe jedes Augenmaß verloren.

      Darin schreibt Derrida über Lévinas:

       „Aber was tut er denn, wenn er [Lévinas, d. Verf.] über das Duell oder mit dem Duell eines Von-Angesicht-zu-Angesicht zwischen zwei ‚Einzigen‘ sich an die Gerechtigkeit wendet und immer wieder bekräftigt: ‚es braucht‘ die Gerechtigkeit, es braucht‘ den Dritten? Geht er da nicht auf jene Hypothese ein (…) von einer potenziell entfesselten Gewalt in der Erfahrung des Nächsten und absoluten Einzigkeit? Von der Unmöglichkeit, dabei das Gute vom Bösen, Liebe von Hass, das Geben vom Nehmen, den Lebenswunsch vom Todestrieb, den gastlichen Empfang von der egoistischen oder narzißtischen Abkapselung zu unterscheiden? Der Dritte würde demnach gerade vor dem Taumel ethischer Gewalt schützen.“9

      So weit Derrida. Doch wer ist dieser Dritte, soll hier abschließend gefragt werden? Er ist nicht der Nächste des Nächsten, nicht der Andere des Anderen. Und schon gar nicht so wie ich. Er trennt sich mit allen Grenzen von uns ab, mit allen Grenzen, die es nur geben kann. Er ist der Urabdruck des Fremden schlechthin, die absolute Andersheit. Lévinas nennt diese Erscheinung Illeität. Erheit. Doch auch dieses Unsichtbare, dieses Sich-nicht-zeigen-Wollen, dieser Verzicht auf ein eigenes Gesicht, um stattdessen dem gesichtslosen Antlitz ein wirkliches verletzbares Gesicht zu übertragen, ihm zu schenken, auch diese Illeität können wir nicht mit unseren bloßen Augen erblicken, sondern nur mittels der „Optik der Ethik“. All das verspricht uns Lévinas. Und er meint, das mysteriöse Unbekannte zeigte sich uns immer bloß in der Spur. Es ist die vom Wind in den Sand geschriebene Schrift der Wüste oder der rötliche Blattwirbel über deiner Mütze im Herbst. Es ist das Vorbeigehen eines Passanten, der niemals an dir vorübergegangen war. Lévinas schreibt dazu:

       „Die Spur ist die Gegenwart dessen, was eigentlich niemals da war, dessen, was immer vergangen ist.“10

       „Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die Andern zugehen, die sich in der Spur halten.“11

      Den Anderen begegnen, bedeute für uns die Begegnung mit der Unendlichkeit. Das ist das eigentliche Wunder am Denken dieses französischen Meisters, der das Unendliche ohne Aneignung in unser Diesseits holt. Es sei möglich, sagt er, dass unser totales, hybrides Ich, wenn es sich aufgibt und zum Mich wird, also reine Passivität, das Fremde in Gastfreundschaft empfängt. Wenn dieses alte Ich einer neuen Selbstbesinnung in Form einer Selbstbeschränkung weicht, rein aus dem Wissen heraus, dass auch die Ressourcen dieser Erde nicht unendlich sind, sondern ebenfalls begrenzt, wenn es somit diese Reise aus sich heraus wagt, dann sei es möglich, dass dieses Ich letztlich das Wunder des Menschseins erfüllt. Die Lévinassche Formel wird dadurch evident, nämlich den Mord am Anderen mehr zu fürchten als den eigenen Tod. Das wäre wiederum die höchste Form des Ausbruchs aus der ewigen Verlustangst rund ums Eigene. Die Zeit, sagt Lévinas, ist die Geduld des Todes.

      Lassen wir den Denkprozess bei Lévinas noch einmal kurz Revue passieren, zusammengestutzt auf sein Gerüst:

      Aus dem neutralen Sein ins Seiende mit unserem halbleeren Ich, dann hinaus ins Jenseits des Seins mittels unseres Begehrens, hinein in diese Exteriorität, wo das Antlitz des Anderen mit einem Ruf auf uns wartet, den wir in Absprache mit dem Dritten gerecht zu beantworten haben, und das alles, um einmal nicht als aufgedunsener Ichling im Whirlpool der Verwöhnung zu verdampfen. Wir erreichen dieses Nicht-Land nur, in dem wir uns sprachlich äußern, doch nur menschliche Güte und Liebe sind die Träger jener Worte, die mit uns in dieses Außen gehen. Aber das heißt auch: Das gnothi seauton, das Erkenne dich selbst, dieser Knoten kann nur entwickelt werden, wenn du im gleichen Atemzug den Anderen verstehst.

      Abb. 5

      Logbucheintragung für eine gewagte Behauptung …

      Für den Ethiker der Unendlichkeit, wie ich Lévinas an dieser Stelle bezeichnen möchte, ist unser Ich ein unentwegtes Werk, ein Tätigsein an mir, das niemals seine Abgeschlossenheit erfährt, damit wir in Bewegung bleiben, nicht ermüden in Anbetracht eines statischen Seins. Und so lässt er sein Werk mit dem erwähnten Satz beginnen: „Das wahre Leben ist abwesend, aber wir sind auf der Welt“. Im wahren Leben einmal beheimatet zu sein, hieße demnach, uns radikal anders zu denken. Meine bescheidene Formel hieße demnach: Ich + der Andere = Wir-Andere-Alle. Doch nach dieser Ortsverschiebung wären wir nicht mehr auf der Welt, sondern erstmals mitten in ihr. Ist die Unendlichkeit hier und jetzt? Von meiner winzigen Kabine aus sehe ich unendlich erschrocken nach draußen …

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