Chefvisite. Die unerwartete Rückkehr des Auferstandenen. Albrecht GralleЧитать онлайн книгу.
Fußgänger entdeckte ich. Ich dachte immer, in Amerika würde kaum jemand zu Fuß gehen. Unterwegs musste ich notgedrungen mit anhören, was Jeschua mit dem dunkelhäutigen Ken redete. Sie hatten gerade über den hohen Energieverbrauch der Amerikaner gesprochen, und nun fragte ihn Jeschua, was er zum Waffenkonsum meinte. Ob er es gut fände, dass jeder Amerikaner sich beliebig viele Waffen kaufen könnte.
„Klar, Josh“, sagte der Fahrer. „Du kannst dir nicht vorstellen, was für abgedrehte Kunden manchmal bei mir mitfahren, und da hab ich im Türfach eine geladene Glock 25 liegen, unter meinem Sitz eine G 27, und jetzt besorge ich mir etwas ganz Neues: eine Pistole, die wie ein Smartphone aussieht. Wenn dir jemand eine Knarre an den Kopf hält, sagst du: ‚He, lass mich nur noch kurz meine Mama anrufen‘, und peng – ist der Kerl erledigt. Ist doch genial, oder?“
Er freute sich wie über einen guten Witz. Jeschua lachte nicht.
„Wenn alle bewaffnet sind, Ken“, sagte Jeschua, „dann erhöht sich doch die Gefahr, dass du irgendwann abgeknallt wirst, bevor du in dein Taxi steigst. Vielleicht von dem Mann, dessen Bruder du mit deinem Smartphone gerade ermordet hast. Was nützen dir dann deine Waffen im Auto?“
„Mann! Ermordet! Das klingt so hässlich. Aber egal, die Waffen geben mir eben ein sicheres Gefühl.“
„Und wenn du Angst bekommst und einfach losknallst und eine Mutter oder einen Familienvater dabei umbringst?“
„Pech. Man muss eben ständig auf der Hut sein. Wir Amerikaner lieben unsere Waffen. Wir sind damit aufgewachsen, sie gehören zum Leben dazu wie Mac Donald‘s oder Stars and Stripes. Und – he! Du kannst in diesem Land nur etwas durchsetzen, wenn du der Stärkere bist.“
„Und stark sein heißt Waffen haben?“, fragte Jeschua, und ich spürte förmlich, dass der arme Kerl gerade in eine Falle tappte.
„Klar.“
„Du kommst doch irgendwo aus dem Süden, oder? Georgia vermutlich?“
„Stimmt.“ Der Mann grinste.
„Und wie war das noch mit Martin Luther King? Wie viele Waffen hatte er gehabt, als er die Rassengesetze veränderte?“
„Keine Ahnung.“
„Er trug keine bei sich. Er trug unter seinem Hemd Gottvertrauen. Seine Waffe war Gewaltlosigkeit. Und er hat etwas bewirkt. Schien am stärkeren Hebel zu sitzen. Komisch, oder?“
„Na ja“, meinte Ken. „Sie haben ihn aber abgeknallt.“
„Aber bis heute redet man von ihm. Oder denk an Jesus. Auch jemand ohne Waffen, und an jeder Ecke gibt es hier eine Kirche von ihm.“
Ken fuhr schweigend weiter. Schließlich sagte er: „Okay, Josh, eins zu null für dich, aber ist es nicht besser, wenn man den Leuten beibringt, wie man mit Waffen umgeht, als immer alles zu verbieten?“
„Hört sich gut an. Aber manche Dinge kriegt man nicht anders in den Griff. Probier es doch mal aus, Ken. Eine Woche im Taxi ohne Waffen.“
Ich sah, wie Ken das Gesicht verzog, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte.
„Na gut“, meinte Jeschua, „eine Woche ist zu lang für dich. Ich gebe dir fünfhundert Dollar, wenn du es einen Tag lang schaffst, ohne eine Waffe herumzufahren.“
„Fünfhundert Dollar? Wirklich?“
„Ich bin noch ein paar Tage hier. Sagen wir, wir treffen uns morgen um dieselbe Zeit am Flughafen.“
Ken lachte: „Bist du verrückt? Woher willst du wissen, ob ich das eingehalten habe?“
„Glaub mir“, sagte Jeschua. „Ich weiß es einfach.“
Ken sagte eine Weile nichts, fuhr schweigend weiter, überholte einen uralten Ford. Schließlich hielt er an und meinte: „Wir sind da. Central Park West, the Lake. Wenn ihr rechts reingeht, stoßt ihr automatisch auf den Lake. Macht achtzehn Dollar. Und Josh – ich probier‘s. Morgen um die gleiche Zeit am Flughafenausgang bei den Taxis, außer, wenn ich vorher abgeknallt werde.“ Er lachte. Jeschua lachte nicht.
„Ich werde da sein, Ken. Natürlich bezieht sich das Waffenverbot auch auf Messer, Pfeffersprays, Baseballschläger und Elektroschocker.“
Wir standen schon draußen. Ken beugte sich aus dem Fenster und rief Jeschua hinterher: „Und wer sagt meiner Witwe Bescheid?“
„Das mach ich schon“, sagte Jeschua und winkte ihm noch einmal zu.
Wir gingen weiter und näherten uns dem Park.
„Komische Wette“, meinte ich. „Und mit welchen wichtigen Leuten wirst du heute sprechen?“
„Das erste wichtige Gespräch habe ich gerade geführt“, sagte Jeschua.
„Was? Mit einem Taxifahrer?“
„Für Gott ist jeder Mensch wichtig. Während ich hier bin, kommt es darauf an, den richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. Warten wir‘s ab.“
Wir betraten eine andere Welt. Einfach faszinierend, mitten in dieser geschäftigen Stadt einen riesigen Park zu haben. Leute waren unterwegs, einige saßen auf einer Bank und aßen etwas, zwei Jogger sprinteten an uns vorbei, weiter hinten standen ein paar Jugendliche zusammen, vielleicht, um einen Straßenkünstler zu bewundern.
Ich merkte, dass ich müde wurde, die Zeitverschiebung steckte noch in meinen Knochen. Als der See auftauchte, steuerte ich auf eine Bank zu.
„Müde?“, fragte Jeschua.
„Ja. Zuhause wäre es jetzt abends. Wirst du eigentlich nie müde?“
Jeschua setzte sich zu mir und sagte: „Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.“
Es hörte sich an wie ein Zitat. Wahrscheinlich aus der Bibel.
„Aber“, fuhr er fort, „das heißt nicht, dass im Himmel nur Hochbetrieb herrscht. Manche Engel schlafen regelmäßig. Und Menschen, die noch nicht lange im Himmel sind, schlafen auch. Sie haben diesen Rhythmus verinnerlicht. Weißt du, das Schlafen in der anderen Welt ist ganz anders als hier. Es ist kein erschöpfter Schlaf, sondern ein Hinübergleiten in einen leichteren Zustand, bei dem alles zur Ruhe kommt. Wer es mag, der kann sich einen funkelnden Sternenhimmel wünschen oder einen sanften Nachtregen …“
„Das hört sich gut an“, murmelte ich. „Ich liebe es, wenn es nachts regnet.“
„Natürlich schlafen auch die Kinder, die hier sterben“, sagte Jeschua, „besonders, wenn sie traumatisiert sind.“
„Dann stimmt es also, dass die andere Welt der berühmte Ausgleich ist?“
„Oh ja“, er nickte ernst. „Ohne den Ausgleich im anderen Leben, würde die groteske Ungerechtigkeit in dieser Welt doch überhaupt keinen Sinn ergeben, alles wäre dann ein riesiges, zufälliges Chaos.“
„Viele denken, dass es so ist.“
„Ich weiß. Traurig, aber wahr.“ Er öffnete seinen Rucksack und holte eine Tüte heraus.
„Was ist das?“
„Fishburger, Pommes-frites und Wasser.“
„Wo hast du das denn so schnell …“, wollte ich fragen, bis mir die Geschichte von der Speisung der Fünftausend einfiel, obwohl es eigentlich keine Kunst gewesen wäre, sich irgendwo etwas zu kaufen. War Jeschua nicht vor der Taxifahrt kurz weg gewesen?
Der Fishburger schmeckte großartig. Vielleicht aber auch nur, weil ich Hunger hatte.
Wir aßen ein paar Augenblicke schweigend.
„Was hast du als nächstes vor?“, fragte ich.
„Ich bin hier verabredet mit einer Frau“, sagte Jeschua.
„Ach, sieh mal einer an“, rutschte es mir heraus.
„Sie weiß es aber noch nicht.“