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Das Enneagramm. Andreas Ebert W.Читать онлайн книгу.

Das Enneagramm - Andreas Ebert W.


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worden. Es handelte sich der Legende nach um esoterisches Wissen, das die Seelenführer nur innerhalb ihrer Gruppe weitergegeben haben. Als wir Amerikaner es in die Finger bekamen, ist passiert, was passieren musste: Wir haben vor ein paar Jahren angefangen, es aufzuschreiben.

      Seither ist eine Flut von Büchern erschienen. Vor allem im katholischen Milieu hat es einen wahren Siegeszug angetreten. Vielleicht liegt es daran, dass wir katholische Ordensleute die Zeit und die Einkehrhäuser haben, um uns intensiv mit solchen Dingen zu befassen. Von dort aus wird es an suchende und interessierte Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten weitergegeben. Jetzt, da es längst nicht mehr geheim ist, möchten wir dazu beitragen, es so darzustellen, dass es angemessen angewendet werden kann und möglichst wenig Schaden anrichtet. Der „schlafende Riese“ ist aufgewacht und seine alte Weisheit ist suchenden Menschen zugänglich!

      Wir haben das Enneagramm noch nie einer Gruppe weitervermittelt, die es nicht – aus irgendeinem Grund – interessant fand. Das ist erstaunlich, weil sein Ansatz negativ ist. Das Enneagramm hat nicht die Absicht, dem Ego zu schmeicheln. Es will vielmehr eine Hilfestellung dazu geben, das loszulassen oder unnötig zu machen, was Thomas Merton und andere das „falsche Selbst“ genannt haben. Wir kennen kein anderes Hilfsmittel, das diese Aufgabe auf direkterem Wege leisten kann als das Enneagramm.

      Ich habe vor Jahren Exerzitien für 20 Bischöfe gehalten. Am ersten Tag habe ich über das kontemplative Gebet referiert. Die Bischöfe saßen da und hörten zu – schließlich waren es Bischöfe und sie mussten anstandshalber aufpassen, wenn es ums Beten ging. Man konnte sehen, dass sie zwar dabei waren, aber nicht wirklich auf die Sache „angesprungen“ sind. Ich weiß nicht mehr, was ich am zweiten Tag erzählt habe, jedenfalls waren sie schon aufmerksamer. Am dritten Tag haben mich zwei Bischöfe beiseite genommen und gesagt: „Sie müssen dieser Gruppe das Enneagramm beibringen!“ Das hatte ich eigentlich nicht vor. Aber die beiden Bischöfe haben darauf bestanden: „Doch! Das brauchen die!“ So habe ich am nächsten Morgen damit angefangen. Ich konnte miterleben, wie einige Teilnehmer, einschließlich eines frischgebackenen Kardinals, plötzlich hellwach wurden und ganz Ohr waren. Von diesem Zeitpunkt an waren sie bis zum Ende der Exerzitien voll dabei.

      Das Enneagramm bringt eine wesentliche Wahrheit unseres Seelenlebens auf den Punkt. Es tut das auf eine Weise, wie es die meisten von uns selten oder nie erlebt haben. Das Enneagramm ist von geradezu bezwingender Weisheit.

      Als ich (Richard Rohr) das Enneagramm 1970 kennenlernte, war das eine der drei großen umwälzenden spirituellen Erfahrungen meines Lebens. Ich konnte buchstäblich miterleben, wie es mir wie Schuppen von den Augen fiel und mir mit einem Schlag klar wurde, was ich bisher getrieben hatte: Ich hatte immer das Richtige gemacht (das ist für uns EINSer ein Hauptanliegen!) – aber aus falschen Beweggründen. Es ist ziemlich beschämend, das zu erkennen und zuzugeben! Deswegen gilt als Faustregel: Wer das Ganze nicht irgendwie als demütigend empfindet, hat seine oder ihre „Nummer“ noch nicht gefunden! Je demütigender es ist, desto mehr sieht man der Sache ins Auge. Wer sagt: „Es ist wunderbar, dass ich eine DREI bin“, ist entweder keine DREI oder hat nicht wirklich verstanden, wie verhängnisvoll dieses Muster ist. Das Enneagramm deckt die Spiele auf, in die wir verstrickt sind. Wäre ich beispielsweise bei jenen Bischofsexerzitien aufgestanden und hätte zu einem der Bischöfe gesagt: „Sie sind rechthaberisch und dogmatisch!“, wäre der Mann wahrscheinlich hochgegangen. Keiner lässt sich gern „rechthaberisch und dogmatisch“ nennen. Wenn ich aber sage: „EINSer – wie ich – sind rechthaberisch und dogmatisch“, ziehe ich mir den Schuh erst einmal selbst an und kann dann mein Publikum einladen, dasselbe zu tun. Aus irgendeinem Grund geht es auf diese Weise viel leichter. Wir verfolgen diesen Ansatz, weil er so durchschlagend ist, und wir sind überzeugt, dass das Enneagramm der geistlichen Bereicherung dienen und uns zur höchsten Form des spirituellen Bewusstseins führen kann, die wir kennen: dass wir unser falsches Selbst beiseite räumen (lassen), weil wir es nicht mehr brauchen. Wir hoffen, dass alle, die ihrer „dunklen Seite“ oder „Wurzelsünde“ ins Auge sehen, etwas von jener Freiheit erleben, die wir erlebt haben, als wir begannen, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass wir eine EINS (Richard Rohr) bzw. eine ZWEI (Andreas Ebert) sind. Weil wir uns der eigenen Lebenslüge stellen mussten, wagen wir es, dies auch anderen zuzumuten: Wenn andere uns aushalten, dann haben wir eigentlich keinen Grund, sie nicht auch auszuhalten. Wir wissen jedenfalls, dass wir seither nicht mehr so viele und schnelle Urteile über andere fällen. Viele Leute haben Angst, dass solche Systeme dazu führen, sich gegenseitig in Schubladen zu stecken und festzulegen. Um ehrlich zu sein: Genau das geschieht unweigerlich, wenn man das Enneagramm kennenlernt. Wer sich das Enneagramm angeeignet hat, wird eine Weile durch die Welt gehen und alles unter dem Aspekt EINS, ZWEI, DREI, VIER, FÜNF, SECHS, SIEBEN, ACHT, NEUN wahrnehmen. Bei drei Vierteln der Fälle wird man allerdings zunächst daneben tippen, weil einem anfangs nur gewisse äußere Merkmale eines Typs ins Auge springen. Man muss eine Weile mit dem Enneagramm leben und umgehen, bis man über diese äußeren Züge zur „Energie“ des Musters vordringt. Ein Hilfsmittel dabei ist der Humor. Über sich selbst lachen zu können, das kann genauso befreiend sein wie über sich selbst zu weinen. Wir haben bei der Arbeit mit dem Enneagramm beides erlebt. Wenn wir zu dieser Tiefe der Selbsterkenntnis gelangt sind, dann können wir ein Werkzeug wie das Enneagramm getrost aus der Hand legen.

      Wir hoffen vor allem, dass uns das Enneagramm hilft, liebevoller zu werden. Wenn das geschieht, ist das Ziel erreicht, zu dem wir geschaffen sind. Wir hoffen, es macht uns fähiger, andere Menschen zu lieben, uns selbst zu lieben – und Gott zu lieben. Das war für mich selbst (Richard Rohr) eine ernüchternde und zugleich sehr schöne Erfahrung: Gott hat das alles längst gewusst! Er wusste, dass ich eine EINS bin. Er wusste, dass ich immer wieder das Richtige aus dem falschen Beweggrund oder zumindest aus sehr gemischten Motiven mache. Er wusste, dass ich aus sehr gemischten Motiven Priester geworden bin, mich auf den Zölibat eingelassen habe, die New-Jerusalem-Kommunität gegründet habe, nach Albuquerque gegangen bin – aber das ist in Ordnung! Es ist demütigend und zugleich befreiend zu wissen, dass Gott es weiß und dass Gott sogar unsere Sünde für seine Ziele benutzt. Wer die Kraft und die Wahrheit des Enneagramms entdeckt, kommt unweigerlich an diesen Punkt: Gott benutzt unsere Sünde! (Wir verwenden bewusst das Wort Sünde, obwohl wir wissen, dass dieses Wort für viele Ohren moralisierend und wertend klingt! Wir kommen noch darauf zurück.) Das ist beschämend und befreiend zugleich. Denn es ist eine Erfahrung bedingungsloser Liebe, wie wir sie wahrscheinlich nie zuvor erlebt haben. Es ist vor allem für perfektionistische EINSer wie mich (Richard Rohr) eine umwerfende Erfahrung, wenn uns klar wird: Gott liebt etwas Unvollkommenes – nämlich mich!

      Wenn Gott fähig ist, etwas Unvollkommenes zu lieben und zu gebrauchen – etwas anderes bekommt Gott sowieso nie, denn es gibt nichts Perfektes auf dieser Welt –, dann eröffnet das einen ungeheuren Freiheitsraum.

      Es geht beim Enneagramm um jene innere Arbeit, die unserem geistlichen Weg Echtheit verleihen kann. Zugleich schafft sie neue Schwierigkeiten. Viele unserer unhinterfragten Voraussetzungen und vordergründigen Lösungen werden nicht mehr funktionieren wie bisher. Denn das Enneagramm zeigt uns unter anderem die dunkle Seite unserer Begabung.

      Die Wüstenväter und auch die Sufis waren der Ansicht – obwohl das zunächst nicht sehr einleuchtend klingt –, dass Menschen durch ihre Begabungen und Talente zerstört werden. Wir werden von unseren Gaben zerstört, weil wir uns zu sehr mit dem identifizieren, was wir gut können. Man hat uns einst beigebracht, wir würden durch unsere „Sünde“ zerstört. Aber die Sache ist subtiler. In fast allen spirituellen Traditionen wird vor dem „Anhaften“ gewarnt. Wir kleben zu sehr an dem, was uns natürlich zufällt. Wir haben ein „natürliches“ Vorurteil und „natürliche“ Verhaltensmuster, einen „natürlichen“ Blickwinkel, eine „natürliche“ Leidenschaft. Das alles entwickeln wir während der ersten 30 Jahre unseres Lebens. Wir leben es aus und kassieren womöglich Applaus dafür. Deshalb ist es nicht sehr sinnvoll, sich bereits in dieser Zeit mit dem Enneagramm zu beschäftigen. In jungen Jahren spielt man mit bei dem großen Spiel. Das ist richtig und wichtig.


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