Jakob. StephanЧитать онлайн книгу.
kam Jakob nicht hinaus. Er war halt ein Dreiertyp, der viele Dinge erst spät oder gar nicht zuordnen konnte und manche Fragestellung nicht verstand. Und doch gab es Fächer, in denen er tatsächlich zu den Besten zählte: Musik, Kunsterziehung und Werken. Sie zählten somit zu seinen Lieblingsfächern. Später ersetzte die polytechnische Arbeit den Werkunterricht. Als dann die Fremdsprachen das Lernpensum weiter steigerten, verlor er die Lust am Lernen fast gänzlich. Aber er übte und übte, sodass er zumindest seinen Dreierdurchschnitt behielt und keine Klassenstufe wiederholen brauchte.
Jakob galt unter seinen Mitschülern als Spätzünder und das ließen sie ihn auch oft genug spüren, genauso oder ähnlich wie die Lehrer.
Freilich trug das nicht zum Spaß an der Schule bei. Doch ob begründet oder nicht, Jakob war mittendrin und strebte an, möglichst das Beste für sich herauszuholen. Da war dieser ehemalige Klassenleiter, Herr Liebig, ein kleiner Mann, der mit einem Haufen sichtbarer Altersflecken durch die Gänge schlurfte. Er war nicht nur fleckenbehaftet, auch sein komisch schiefes Lächeln traf Jakob bei jeder Begegnung.
Auf fachlichem Gebiet konnte Jakob sehr viel von ihm lernen. Liebig gab sich große Mühe, den weniger Begabten den Lehrstoff so zu vermitteln, dass auch diese der doch häufig trockenen Mathematik Spaß abgewinnen konnten. Leider aber fühlte sich Jakob oft genug unfair von seinem Lehrer behandelt und so stellte er für sich fest, dass gerade dieser riesige Unterschiede innerhalb der Klasse machte.
Andauernd.
Es gab Mädchen, die wussten das für sich zu nutzen. Sie umgarnten Liebig mit Gefälligkeiten und Schmeicheleien. Hatten sie das nötig?
Der Beobachter in Jakob begriff es nicht. Wo sie ohnehin zu den Besten der Klasse gehörten. Aber Liebig schien das Herumscharwenzeln seiner Lieblingsschülerinnen sichtlich zu genießen. Bevorzugte sie, ging mit dem Rest der Klasse jedoch ziemlich rigoros um. Oft genug auch verächtlich und herablassend. Jakob hatte jedenfalls nichts bei ihm zu lachen. Er konnte machen, was er wollte, er kam einfach nicht an Liebig heran. Fortwährend gab es eine neue Situation, bei der Jakob vor der ganzen Klasse blamiert oder heruntergeputzt wurde. Und selbst nach dem Unterricht strafte er Jakob stets mit besonderer Verachtung.
Wer sich nicht bemüht, findet er immer vernichtende Gründe; Liebig war das Paradebeispiel dafür. Bei ihm war Jakob dauernd Mode. Jakobs viele außerschulische Aktivitäten, die im Zeichenkurs, im Ballett, beim Sportschießen und sogar den A-cappella-Gesang mit seinen beiden Brüdern, der vor der gesamten Schule großen Anklang fand, all das tat Liebig entweder mit zynischer Verachtung ab oder er reagierte erst gar nicht darauf.
Eines Tages hatte er mal wieder eine Vertretungsstunde übernommen. Da fragte er in der Klasse nach den Berufswünschen.
Jakob merkte auf.
So etwas Besonderes hatten sie ja noch nie. Zwei der Mädchen wollten Lehrerin werden, andere Ärztin, Krankenschwester oder Kindergärtnerin. Die Jungen träumten vom Schlosser, Koch, Chemiker und manch anderem. Auch Jakob träumte. Als die Reihe dann an ihm war und Jakob aufstand, um seine berufliche Vorstellung zur Sprache zu bringen, hob Liebig die Hand, setzte ein missbilligendes Gesicht auf und würgte den Jungen ab: „Ach du, dein Weg ist sowieso vorbestimmt! Aus dir wird ohnehin, wenn überhaupt, allemal nur ein Maurer. Genau wie dein Vater.“
Jakob starrte durch den Liebig hindurch und alle Sprache war wie weggeblasen. Als stände es schon an, als besäße die Aussage tatsächlich irgendwie Gewalt über ihn, war er auf seinen Stuhl zurückgefallen.
Keiner sah die geballten Fäuste in seinen Hosentaschen. Liebig hatte ihn nicht nur seiner Träume beraubt, sondern geradezu ungeheuer getroffen. Ihn und seine ganze Familie. Das würde Jakob nicht zulassen! Aber: Er konnte sich dagegen verwahren wie er wollte, diese Aussage des Lehrers sollte sein Leben für eine lange Zeit prägen.
Später einmal, als Jakob mit seinem Trainingspartner im Langstreckenlauf zusammen war und sie sich eine Verschnaufpause gönnten, gestand er es dem recht offen: „Zu dem Liebig habe ich überhaupt keinen Draht. Und dann die Mädchen immer noch, wenn man das sieht, wie sie sich anbiedern mit ihrer kindlichen Weiblichkeit. Nee, das kann ich gar nicht ab. Und wenn man auf so was reinfällt …“
Seit dem Moment jedenfalls, wo er vor der Klasse so erniedrigt worden war, gab er sich im Inneren sicher.
Nie mehr würde er auf seine Mitmenschen hören, nie.
Die wollten ihn nur unterbuttern und klein halten. Liebig war das abschreckende Beispiel dafür. Jakob muss also einen anderen Weg gehen, konnte sich nur auf sich selbst und höchstens noch auf seine eigene Familie verlassen.
Soviel war nun klar.
Perplex, aber seitdem positioniert, weil Liebigs Aussage ihm eine wichtige Erkenntnis brachte, lehnte sich Jakob zurück. Es arbeitete in ihm, er plante und wusste bereits zu diesem Zeitpunkt, dass einmal etwas wirklich Großes aus ihm werden würde. Alles, alles Mögliche konnte das sein, nur kein Maurer. Wow, auf einmal konnte Jakob im Stillen richtig triumphieren! Der eigentliche Witz nämlich war: Anton, sein Vater, war kein Maurer. Nein, er war in dem langen bewegten Berufsleben eher zu einem Multitalent geworden. Schon als Erstberuf hatte Anton etwas ganz anderes gelernt. Klavierbauer.
„Musik? Kultur? Sieh mal an“, reflektierte Jakob.
Später dann ging Anton zum Bau, wo es mehr zu verdienen gab. Doch seine musisch-kulturelle Seele blieb ihm Gott sei Dank erhalten und er förderte fast versessen jegliches Talent seiner Söhne. Unterstützte sie bis hin zum Transport der Instrumente, wo er kräftig mithalf, wenn sie denn zu ihren Auftritten fuhren. Diese Livemusik und das zugrunde liegende Talent hielt er für unbedingt ausbaufähig. Er und seine Frau störten sich auch nicht daran, wenn die Jungs bis zu vier Stunden an ihrem Gesang feilten; denn die Proben endeten erst, wenn sie mit ihrer Tagesleistung zufrieden waren. War Anton in Stimmung, trat er manchmal hinzu, nahm seine Gitarre und zupfte auf ihr die Lieder aus seiner Jugendzeit, und wenn er besonders gut gelaunt war, dann sang er noch dazu. Meist stimmten die Jungs intuitiv dreistimmig mit ein. Das waren die Momente für alle! Es waren auch die Momente, in denen die Jungs ihre schlechten Noten vorlegen konnten. Weil sie insgeheim glaubten, er würde ihre Versuche, die Mutter zu übergehen, nicht merken. Doch dem war nicht so. Am Abend mussten sie dann doch Rede und Antwort auch vor ihr stehen.
Im Grunde war Anton also ein sehr geselliger und verständnisvoller Mann. Jedoch auch sehr streng. Vielleicht rührte das aus seiner Vergangenheit her. Er hatte den eigenen Vater bereits mit acht Jahren verloren. Und war seither durch diesen zweiten Weltkrieg der einzige Mann im Hause. Geblieben waren die Mutter und zwei Schwestern. Er musste sich das Vatersein quasi selber beibringen. ‚Was bleibt einem anderes übrig?’, dachte er und tat es. Den Söhnen fehlte es an nichts, außer vielleicht dem Wunsch, er würde häufiger da sein. Doch das ließ sich nicht ändern. Er machte viele Überstunden, um etwas Geld heimzubringen. Da konnte es schon passieren, dass ihm selber manches Mal Zeit und Muße fehlten, um sich in das Familiengeschehen einzudenken.
Hin und wieder also war er etwas unleidlich, doch er bemühte sich.
Versuchte die Dinge wenigstens zu klären und hatte dadurch einen hohen Stand bei seinen Jungs. Auch konnten sie sich an ihm messen, damit hatte er kein Problem, das ließ er zu. Fiel ein böses Wort oder brach Streit aus, wurde das immer mit einem klärenden Gespräch bereinigt.
Ließen es die Söhne jedoch an Respekt gegenüber der Mutter fehlen, konnte es schon passieren, dass alle drei gleichzeitig einen Klaps auf die vorlauten Münder bekamen. Trotzdem: Hier gab es weder Schmollen noch Verstoßen. Immer blieb das Verständnis für den anderen das oberste Gebot. Diese Achtung vor dem anderen wurde den Söhnen selbstverständlich, aber auch eindringlich anerzogen. Sie deckte sich mit dem Lebensinhalt der Eltern und sollte unter den Nachkommen ebenfalls prägend werden. Auf die Art resultierte daraus ein unglaublicher Familienhalt. Einer, das war zu spüren, der immer echt und nie aufgesetzt war und der Anton und Barbara eben gelang, indem sie es zweifelsfrei vorlebten.
Nun war es zwar so, dass von staatlicher Seite die Zukunft ihrer Söhne bis aufs Haar abgesichert sein mochte, die politischen Dinge indes blieben vorgeschrieben. Und damit saß selbst Anton in der Klemme.
Das wurmte