Typen und Temperamente. Reinhold RutheЧитать онлайн книгу.
Oder wir glauben vom Kind, dass es wie die Mutter sei,
so korpulent,
so nervös,
so fürsorglich,
so ängstlich,
so fröhlich,
so dominant usw.
Wir pflichten dem Sprichwort bei: »Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen«, und merken gar nicht, dass uns mit dem Bejahen dieser Aussage in der Erziehung unserer Kinder die Hände gebunden sind.
Die gerade genannte Volksweisheit hat jedoch wenig mit Vererbung zu tun. Die Jungen haben von den Alten gelernt, die Kinder haben von Eltern ihre Verhaltensmuster abgeschaut. Die Vererbung wird für Einstellungseigenarten verantwortlich gemacht, die wir nachgemacht, entdeckt, erfahren und neu entwickelt haben. Was trauen wir unseren Kindern überhaupt zu? Glauben wir, dass sie selbst etwas zu Stande bringen werden? Oder denken wir, ihr Lebensweg sei durch die Vererbung schon vorherbestimmt?
Wenn wir einem Menschen seine Begabung absprechen, wenn wir ihm alle Hoffnung nehmen, dass er eigenverantwortlich etwas zu Stande bringt, werden wir auf diese Weise
sein Selbstvertrauen erschüttern,
seinen Lebensmut untergraben,
seine Leistungsfähigkeit blockieren und
seine Gaben, die Gott ihm geschenkt hat, verschütten.
Während meiner Zeit als Generalsekretär des CVJM in Hamburg betreute ich lange Zeit einen Strafgefangenen, der fünf Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Einmal erzählte er mir, dass sein pessimistischer Vater ihn fortlaufend als »hoffnungslosen Fall« bezeichnet habe, ihm nichts zugetraut und ihm ständig seine ordentliche, begabte und tüchtige Schwester als Vorbild vor Augen gestellt habe. Wie oft habe er sich den Satz anhören müssen: »Du bist nichts, du wirst nichts, du landest noch mal im Knast.« Die Psychologen sprechen hier von der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. – Dieser Sohn landete tatsächlich im Gefängnis. Als ich einmal mit dem Vater telefonierte, um eine Auskunft zu erhalten, sagte er zu mir: »Bei dem vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Als Baby haben wir dem schon seinen schlechten Charakter angesehen.«
Wir sehen:
Eine pessimistische Haltung,
eine ungläubige Einstellung,
eine negative Erwartung und damit eine entmutigende Erziehung
fördern Persönlichkeitsstrukturen, die dem Leben misstrauisch und destruktiv begegnen.
Auch Fritz Riemann, dem wir eine Zusammenfassung der vier Persönlichkeitsstrukturen aus tiefenpsychologischer Sicht verdanken, nimmt unmissverständlich Stellung, wenn er schreibt:
»Nicht nur, weil ich einen bestimmten Körperbau habe, bin ich so oder so, sondern weil ich eine bestimmte Einstellung, ein bestimmtes Verhalten zur Welt, zum Leben habe, das ich aus meiner Lebensgeschichte erworben habe, prägt das meine Persönlichkeit und verleiht ihr bestimmte strukturelle Züge. Was daran schicksalhaft ist – die mitgebrachte psychophysische Anlage, die Umwelt unserer Kindheit mit den Persönlichkeiten unserer Eltern und Erzieher sowie die Gesellschaft mit ihren Spielregeln, in die wir hineingeboren werden –, ist in gewissen Grenzen durchaus selbst zu gestalten, kann verändert werden, ist jedenfalls nicht nur ein Hinzunehmendes.«3
1.4 Die »Trotzmacht des Geistes«
Über die Wechselbeziehung zwischen Anlage und schöpferischer Gestaltung hat der Psychiater Viktor E. Frankl einleuchtend und überzeugend geschrieben:
»Ist denn der seelische Charakter eines Menschen nicht angeboren? Und gar erst der leibliche, der Körperbau-Typus – ist ihm der Charakter nicht schicksalhaft verbunden? Nun, wer so spricht, beweist damit nur, dass er über der Psychologie, Biologie und Soziologie, also über den seelischen, leiblichen und gesellschaftlichen Bedingt- und Gegebenheiten menschlichen Daseins, das spezifisch Menschliche vollends verkennt. Denn Mensch-Sein im eigentlichen Sinne fängt ja dort überhaupt erst an, wo der Mensch über alle Bedingtheit irgendwie auch schon hinaus ist, und zwar kraft dessen, was man die Trotzmacht des Geistes nennen darf.«4
Was heißt das im Einzelnen?
1 Vererbung und Anlagen sind zwar mächtig, aber nicht allmächtig. Der Geist formt letztlich den Charakter.
2 Wer sich ausschließlich auf Anlage und Vererbung beruft, denkt fatalistisch und möglicherweise neurotisch. Frankl sagt: »Und damit stehen wir vor einer typisch neuzeitlichen Verhaltensweise, nämlich dem Fatalismus, also dem Aberglauben an die Mächtigkeit des Schicksals.«5
3 Wer sein Schicksal für besiegelt hält, wird außer Stande sein, es zu besiegen.
4 Der Mensch hat Triebe, aber die Triebe haben nicht den Menschen. Der Mensch kann seine Triebe beherrschen, im Gegensatz zum Tier.
5 Der Mensch hat bestimmte Eigenarten und Eigenschaften. Aber er ist ihnen nicht willenlos ausgeliefert. Veränderung ist möglich.
Wir haben es in der Hand, was wir aus uns machen und machen lassen. Persönlichkeitsstrukturen sind kein unverrückbares Schicksal. Fehler, Sünden und schlechte Gewohnheiten können wir ablegen. (Das heißt jedoch nicht, dass wir eine Persönlichkeitsstruktur völlig umstrukturieren könnten. Aus einem hysterischen Typus lässt sich nun mal kein zwanghaftes Profil machen.)
Auch Paulus glaubt an die Veränderbarkeit des »alten Adam« und an die Korrektur unserer Persönlichkeitsstruktur, wenn er schreibt:
»Meine lieben Freunde! Diese Zusagen gelten uns. Wir wollen uns darum von allem rein machen, was Körper und Seele beschmutzt. Wir wollen den Willen Gottes ernst nehmen und uns bemühen, so zu werden, wie er uns haben möchte« (2. Kor. 7,1).
Wir haben uns bewusst und unbewusst Verhaltensmuster und Charaktereigenschaften zugelegt, mit denen wir das Leben meistern. Wir können diesen Persönlichkeitsstrukturen begegnen und sie Gott zum Gestalten und Korrigieren überlassen.
KAPITEL 2
Erfahrungen machen
Vor der Eigenverantwortlichkeit jedoch stehen die Erfahrungen, die wir gemacht haben. Diese wollen wir nun näher betrachten.
Erfahrungen spielen im menschlichen Leben eine große Rolle. Wir sagen gern: »Der Mensch wird durch Erfahrungen klug.« Er lernt mehr durch Erfahrung als durch theoretisches Wissen. Im Berufsleben, in der Wirtschaft, in der Krankenpflege, im christlichen Glauben: Erfahrung ist unverzichtbar. Und überall werden Menschen mit Erfahrungen gesucht. Erfahrungen sind der Motor für alle Initiativen, die wir ergreifen oder nicht ergreifen. Erfahrungen beeinflussen unser So-geworden-Sein, unsere Vorstellungen, unsere Entscheidungen und unsere Pläne.
Der eher aktive Mensch hat in der Regel positive Erfahrungen gemacht und traut sich etwas zu.
Er packt zu,
er traut sich,
er wagt etwas,
er bringt sich ein.
Der passive Mensch hat oft schlechte Erfahrungen gemacht. Was tut er?
Er verhält sich vorsichtig,
er wartet ab,
er riskiert nichts,
er verhält sich misstrauischer.
(Es gibt natürlich auch den gegenteiligen Effekt, dass ein vernachlässigtes