Unscheinbarkeiten. Dorothea Seth-BlendingerЧитать онлайн книгу.
zu wachsen.
Seit ein paar Monaten bewohnte es nun eine eigene kleine Spalte im Badezimmerboden. Manche Familienmitglieder gaben mächtig an mit ihren Häutungen. Sie prahlten und protzten mit ihrer neuen Haut und betrachteten ständig ihre silbrigen Schuppen im Spiegel der Badewannenarmatur. Da gab sich unser Silberfischchen bescheidener, ließ jedoch keine Gelegenheit aus sich zu putzen und mit den Fühlern auf Hochglanz zu polieren.
Das Mondlicht fiel durch das Fenster und zauberte einen silbrigen Glanz auf den Körper des kleinen Wesens.
Da geschah es! Die Türe ging auf, das Licht explodierte hell und ein Fuß betrat den Raum. Das Silberfischchen war starr vor Schreck und verharrte regungslos. Wie ein kleiner dunkelgrauer Strich hob es sich vom Weiß des Fliesenbodens ab. Der Fuß setzte direkt neben dem Silberfischchen auf dem Boden auf. Eigentlich waren es zwei Füße, die das Bad betraten, das kleine Fischchen konnte jedoch nur den einen erkennen, der ihm so nahe war. Wie ein großes Schiff vor Anker ruhte der Fuß auf den Fliesen. „Ah, ein Silberfisch! Wie der glänzt! Sieht hübsch aus!“
Silberfischchen traute seinen Ohren nicht. Der Fuß hatte gesprochen! Er hatte gesagt, dass es hübsch aussehe. Ganz sachte streckte es seine Fühler aus, blieb jedoch unbeweglich stehen. Der Fuß: er war breit und kräftig, bewegte sich jedoch geschickt und vorsichtig, um das kleine Lebewesen nicht zu verletzen. Und dann berührte er es ganz sanft mit seinem großen Zeh.
Da war es um das Silberfischchen geschehen! Das Zuckertütchen war vergessen, ebenso die Angst vor dem explodierenden Licht. Nach einer Weile verließ der Fuß wieder den Raum, das Licht erlosch und alles war so wie zuvor. Alles? Nicht alles! Das Silberfischchen hatte sich verliebt. Verliebt in den Fuß.2
„Hey, Silver!“, ließ sich plötzlich eine knatternde Stimme vernehmen. „What are you doing here? Go home, die Nacht ist vorüber!“
Der Kakerlak – wer sonst?! Mit den ersten Strahlen der Morgensonne quetschte er sich unter der Badezimmertür durch und ließ seinen Blick gebieterisch über den Raum schweifen – bis er am Silberfischchen mitten auf dem Fliesenboden hängen blieb.
Der Kakerlak hielt sich für etwas ganz Besonderes! Er erzählte den lieben langen Tag von seinen Heldentaten in New York. Er behauptete, er sei in einem großen Koffer von Amerika hierher gelangt. Daher spielte er sich auf wie ein Mann von Welt und durchsetzte seine Sprache mit amerikanischen Wörtern.
Dabei lebte der Kakerlak sehr gefährlich, denn wenn die Bewohner ihn entdeckten, würden sie vermutlich kurzen Prozess mit ihm machen. Die Spinne meinte, wahrscheinlich wäre er nie in New York gewesen, sondern käme direkt von der Toilette im Nachbarhaus, nachdem die Bewohner ihn vor die Tür gesetzt hätten. Aber beweisen konnte das natürlich niemand!
„Hey, Silver, what’s the matter with you? Bist du tot?”, herrschte der Kakerlak den kleinen Strich an, der da immer noch vor ihm auf dem Fußboden verharrte. Unverschämt, sich ihm in den Weg zu stellen!
Doch das Silberfischchen hörte nicht die rauen Worte des Kakerlak. Es seufzte hörbar auf und zeichnete mit seinen Tastfühlern ein Herz in die Luft. „Ich habe noch nie so einen schönen Fuß gesehen. Und er sagte, ich sei hübsch. Ob er wohl bald wiederkommt?“, lispelte das Silberfischchen und seine Fühler färbten sich leicht rosé.
„Jetzt – echt, nicht wirklich, oder? Du bist doch nicht etwa verknallt?“ Vor lauter Erstaunen vergaß der Kakerlak sogar seine Sprache mit amerikanischen Vokabeln zu würzen.
Ein weiteres Seufzen des Silberfischchens und sein Verharren auf dem Fliesenboden gaben ihm Recht. „Ich fasse es nicht!“
Der Kakerlak brach in ein laut schnarrendes Gelächter aus. Er lachte so heftig, dass er auf den Rücken fiel und heftig mit seinen Fühlern in die Luft boxte. Er gluckste und kicherte: „Verliebt in einen Fuß! In love with a foot!“ …
Das Silberfischchen schien von all dem nichts mitbekommen zu haben. Es blieb eine ganze Weile wie angewurzelt auf dem Fliesenboden stehen, seine Tastfühler noch immer in Herzform verschränkt.
Von dem unbändigen Lachen angelockt schob sich mühsam und schwer schnaufend unter der Estrichleiste die Assel hervor. „Was geht ab? Was hier los? Wo? Wie? Wer?“, fragte sie und rieb sich ihren dicken Rücken. „Wer verliert einen Fuß?“ Sie drehte ihren dicken grauen Kopf neugierig hin und her. Der Kakerlak drehte sich mit einem eleganten Schwung wieder auf die Beine zurück und herrschte die Assel an: „Shut up! Du kapierst aber auch überhaupt nichts, Quasselstrippe! Silver ist verliebt in einen Fuß!“
Erschrocken trippelte die Assel auf ihren kurzen Beinchen einige Schritte zurück. „Äh, Präsident!“, stammelte sie und machte eine unbeholfene Verbeugung in Richtung des Kakerlak. Der schubste die Assel herrisch beiseite und marschierte zielstrebig Richtung Waschbecken. Er hatte da etwas entdeckt!
„Hey, wie soll das gehen? Du bist eingeschlechtlich!“, wandte sich die Assel an das Silberfischchen. Das Silberfischchen würdigte sie keines Blickes. Jeder wusste, was für eine Besserwisserin die Assel war!
Dabei hatte sie keine Ahnung! Müßig, ihr von dem eleganten Balztanz zu erzählen, den Silberfischchenmann und Silberfischchenfrau vollführten. Als sich dann auch noch die Spinne aus ihrem Eck hinter dem Badezimmerschrank an dünnem Faden elegant herabließ und süffisant bemerkte: „Du wirst schon sehen, beim nächsten Mal tritt dich dein Fuß einfach platt. Oder glaubst du etwa ernsthaft, dass er deine Gefühle erwidert?“, hatte das kleine Silberfischmädchen endgültig genug und zog sich gekränkt in seine Ritze im Badezimmerboden zurück.
Alles Banausen! Keiner von denen wusste die Besonderheit eines so vornehmen Wesens, silberglänzend und elegant, zu schätzen. Ja, der Fuß! Der hatte erkannt, was für ein Schatz sie war.
Der Kakerlak hatte inzwischen das Zuckertütchen aufgebissen und labte sich an den süßen weißen Körnchen. Der Assel lief das Wasser im Mund zusammen, aber sie traute nicht, dem Kakerlak in die Quere zu kommen. Missmutig krabbelte sie wieder zurück in ihr feuchtes Heim und beschloss, noch eine Runde zu schlafen.
Das Silberfischmädchen kam erst in seinem sicheren Versteck wieder zur Ruhe und dachte über all das nach, was ihm heute widerfahren war. Die Stelle, an der der Fuß sie gestreichelt hatte, glühte immer noch wie Feuer. Ja, sie war schon etwas ganz Besonderes! Selbstverliebt betrachtete sie ihren silbrigen Körper. Da war doch ein leichter Goldschimmer! Das Silberfischchen schaute angestrengt auf seinen Rücken. Natürlich! Es blinkte und glänzte wie kostbares Geschmeide. Sie war ein Goldfisch, ein echter Goldfisch!
Trotz aller Verliebtheit und Selbstverliebtheit stellte sich doch bei dem kleinen Fischchen nach einer Weile der Hunger ein. Richtig, das Zuckertütchen! Das hatte es ganz vergessen. Eilig schlüpfte es wieder aus seiner Bodenritze hervor und steuerte das Waschbecken an. Zu seinem großen Ärger konnte es schon von weitem die dusselige Assel mit ihren kurzen Beinchen hin und her wackeln sehen. Aber was war das? Nur noch ein paar Papierschnipsel und wenige lächerliche Krümelchen waren zu sehen!
Ha! Wütend schnellte das Fischchen nach vorne und stellte die Assel zur Rede: „Hey, du Fettwanst! Das ist mein Zuckertütchen! Ich habe es zuerst entdeckt!“ Die Assel lutschte genüsslich an einem Zuckerstückchen, drehte sich kurz um und betrachtete das Silberfischchen abschätzig: „Reg dich ab, du Strich! Der Kakerlak hat fast alles aufgefressen. Nur die paar Bröckchen sind noch übrig.“ Sie kaute seelenruhig weiter, ohne sich um das aufgeregt hin- und her rutschende Silberfischchen zu kümmern. „Pah, ich verzichte freiwillig! Ich will schließlich nicht so fett werden wie du!“, rief das Fischchen hochnäsig.
Dann rauschte es ab, nicht ohne im Vorüberhuschen sein Konterfei in der messingfarbenen Türleiste zu begutachten. Ja, ein goldener Glanz war es! Wieder zu Hause angekommen schleckte es jedoch mit Hingabe die winzigen Zuckerstückchen auf, die sich auf seinem Bauch verfangen hatten.