Er, Sie und Es. Marge PiercyЧитать онлайн книгу.
Andere Menschen irrten ihr ganzes Leben lang durch die Welt auf der Suche nach ihrem Zwilling, ihrem Geliebten, ihrem anderen Ich, das sie ergänzen und ihr tiefstes Verlangen stillen würde, doch Gadi und sie hatten einander so früh gefunden, dass sich niemand je zwischen sie schieben konnte. Dennoch war es nicht einfach, ihn so heftig zu lieben, wie sie es tat. Er war nicht einfach. Die Welt hielt sie für Kinder und weigerte sich, ihren Bund anzuerkennen – wurde er je sichtbar, waren sie in Schwierigkeiten. Nichts erlebten sie so intensiv wie die Zeiten, da sie sich bei den Händen fassten und in ihre eigene, private Welt stürzten. Sofort leuchteten die Farben. Sofort wurde die Helligkeit intensiver und die Dunkelheit lauerte finsterer und gruseliger und verlockender. Gefühle durchschauerten sie, süß und bitter wie die Pampelmusen, die jeden Winter mit dem Schiff aus South Carolina kamen.
»Komm, wir verreisen«, sagte Gadi immer zu ihr, und Shira antwortete: »Dann komm.«
Natürlich meinte er keine echten Reisen, obwohl sie vorhatten, um die ganze Welt zu fahren und unter dem Meer entlang und empor zu den Satellitenstädten. In Stimmies waren sie überall gewesen, aber Shira war eigensinnig: Was sie nicht in ihrem eigenen Körper getan hatte, das zählte nicht. In der Hinsicht war sie altmodisch, so hatte Malkah sie erzogen. Sie erkundeten nur ihre kleine Welt und gaukelten sich etwas vor.
Doch das Vorgaukeln zusammen mit Gadi war für Shira realer als die Schule oder die Stimmies oder ihre eigenen Gedanken. In der Schule wechselten sie kaum ein Wort, denn sie hatten eine Körpersprache entwickelt, rasche Zeichen und Blicke, zu schnell, als dass andere sie verstehen konnten. Seit Shira halbwegs der Kindheit entwachsen war, schützten sie ihre Freundschaft durch Heimlichkeit. Jungen hatten mit Jungen zu spielen und Mädchen mit Mädchen. Von ihr erwartete man, dass sie am engsten mit einem Geschöpf aus ihrer Klasse befreundet war, wie Hannah, die unaufhörlich kicherte, oder Zee, die alles, was sie oder ihre Freundinnen taten, haarklein ihrer Mutter erzählte, blöde Kuh. Niemand hatte je gesagt, Gadi und Shira dürften sich nicht nah sein, weil es verboten war, aber sie lernten, auf die Blicke der anderen Acht zu geben, ihre Witze, ihre Sprüche, ihre Neugier, klebrig und beschmutzend. Sogar die, die es gut meinten, taten ihren Bund als niedlich oder vorübergehend ab.
Jahrelang hatten sie nichts weiter verheimlicht, als dass sie gerne zusammen Karten spielten, Puzzles legten, sich Geschichten vorspielten von Heldentum und Rettung aus Gefahr. Es war wiederum nicht direkt verboten, fand aber auch keine Ermutigung, die verborgenen Ebenen der Stadt auszukundschaften, die alten, verlassenen Straßen, die leeren Häuser und Keller, die vergessenen Dachböden. Dort spielten sie sich ihre Dramen vor, ihre Träume, Geschichten aus den Stimmies. Jahrelang hatte Shira diesen magischen Kreis gehabt, in den beide sich einspinnen konnten, den Gadis Phantasie zum Leuchten brachte, ein Ort, an dem sie nie allein oder gelangweilt sein konnte. In dieser privaten Welt des Spiels, viel intensiver, viel wirklicher als die Wirklichkeit, war sie, was immer sie sich ersehnte. Furcht gehörte als eine Art Hintergrundgeräusch zum Heranwachsen. Beide konnten nicht in verlassenen Wohnstätten spielen, ohne daran zu denken, dass einmal viel mehr Menschen auf der Welt gewesen waren, zu viele, vor der Hungersnot, den Seuchen, den örtlich begrenzten Kriegen.
Beide hatten alte Schutzhäute, die sie in einem Schuppen verwahrten. An manchen Tagen rannten sie in die Ödnis hinaus, außerhalb der Hülle, die die tödlichen Sonnenstrahlen abhielt, um im Schutz der dünnen Schicht Hartgel unter dem Mostrichhimmel herumzulaufen. So wanderten sie oft zu der versunkenen Stadt mit ihren altmodischen hohen Gebäuden, wo die Flut durch Marmorhallen spülte und sich an zerborstenen Fahrstühlen brach und an Treppen, die hoch und höher führten. Alles Holz und Metall war schon vor Jahren geplündert worden. Ihre Streifzüge in die zerstörte Stadt waren verboten und gefährlich, denn sie wussten nie, wer oder was ihnen dort begegnen konnte: marodierende Banden, Organfledderer, denen es überhaupt nichts ausmachte, wenn der Körper, den sie fanden, sich noch bewegte. Shira liebte das Meer. Jahrelang hatten sie dort gebadet, trotz der Unterströmungen und der Haie, und nicht immer hatten sie im Wasser anstelle der Schutzhaut das Fett zum Schutz gegen die Sonnenstrahlung getragen. Sie genossen es, sich gemeinsam auszuziehen, heimlich, und dann in die warme Umarmung des Salzwassers zu gleiten. Shira schwamm gut, und die See stärkte und belebte sie. Im Wasser waren sie gleich stark. Oft erzählte sie Gadi, sie seien beide Kinder der See. Gadi gefiel die Idee, irgendjemandes Sohn zu sein, nur nicht Avrams. Gadi hatte das Gefühl, es seinem Vater nie recht machen zu können, ganz gleich, was er tat. Avram wollte einen Sohn mehr wie er selbst: einen mit der Neigung zur Wissenschaft, strebsam, gelehrsam, überragend auf einem eng begrenzten Gebiet. Je mehr Gadi er selbst war, desto mehr verzweifelte sein Vater an ihm. Gadi konnte Avram nur zufriedenstellen, indem er sich wie ein anderer verhielt, doch das ging auf Dauer nicht.
Heute, nach der Schule – sie hatten beide gerade mit der Oberschule begonnen, denn Gadi war vierzehn und Shira sieben Monate und zwei Tage jünger – erzählten sie ihre jeweiligen Ausreden. Shira sagte dem Haus, dass sie für eine Klassenarbeit in Geschichte mit Zee lernte. Bestimmt kam sie vor Malkah heim; falls jedoch nicht: Malkah, die Zees Familie nicht ausstehen konnte, würde niemals dort anrufen. Malkah arbeitete manchmal zu Hause und manchmal im Basisbüro. Die Computerbasen waren die Goldminen der Stadt, dort wurden die Systeme erschaffen, die der wichtigste Exportartikel waren. Malkah und Avram waren beide Basisaufseher, gehörten zu den geachtetsten Forschern (oder, wie Malkah lieber genannt wurde, Designern) auf ihrem Gebiet. Die Produkte und Systeme, die sie für verschiedene Multis entwickelten, waren das Fundament für die Unabhängigkeit der Stadt.
Manchmal, wenn Shira das Haus anlog, hatte sie das Gefühl, der Computer merke es. Wie die meisten Häuser hatte es eine weibliche Stimme und strahlte Wärme aus. In Shiras Vorstellung war es immer etwa zehn Jahre jünger als Malkah. Als sie klein war, noch sehr klein, hatte sie es für lebendig gehalten, und manchmal fiel es ihr immer noch schwer, das nicht zu tun, denn es wusste so viel von ihr und es äußerte unverblümt Meinungen und Urteile. Malkah hatte es über die Fähigkeiten der Hauscomputer all ihrer Bekannten hinaus erweitert. Shira wusste nicht, was Gadi seiner Mutter erzählte. Sara war bettlägerig, sie war an einem neu mutierten Virus erkrankt, der nicht behandelt werden konnte. Ihre Knochen lösten sich langsam auf. Sie lebte unter einem Medikamentenschleier, und Gadi kam bei ihr mit jeder lahmen Ausrede durch.
Avram, Gadis Vater, arbeitete im Labor und legte wie gewöhnlich einen Zwölf-Stunden-Tag ein. Weder Shira noch Gadi konnten sich erinnern, ob Avram schon so lange gearbeitet hatte, bevor seine Frau zu sterben begann, aber beides, Avrams lange Arbeitstage und Saras Krankheit, ging nun schon fünf Jahre.
Heute herrschte draußen außerhalb der Schutzhülle Sturm, die flachen Wogen der Bucht waren zu schlammigem Schaum aufgepeitscht und klatschten an den Strand. So gingen sie stattdessen an ihren Geheimplatz. Avrams Labor nahm das erste Stockwerk des Hauses ein, in dem Gadi wohnte – zusammen mit sechs anderen Familien im Erdgeschoss. Gadi sagte, das Haus sei ein Hotel gewesen, als die Stadt ein Badeort war. Es war breit, vierschrötig, aus gelben Ziegelsteinen unter einem roten Ziegeldach, das noch aus den Zeiten übrig war, als Wetter darauf herniederging. Quer über die ganze Vorderseite hatte einst eine Veranda zum Sitzen eingeladen, aber alles Holz war längst den Lumpensammlern zum Opfer gefallen, und jetzt hatte jede der zahlreichen Türen eine eigene, zusammengeschusterte Treppe zur Erde.
Sie schlichen die alte Feuertreppe hoch zum Obergeschoss mit den vielen kleinen, unbenutzten Räumen. »Stell dir die Dienstmädchen vor«, sagte Gadi. »Wie Sklaven.«
»Sie waren keine Sklaven.« Shira schaute ihn stirnrunzelnd an. Er mochte es schon immer, alles zu dramatisieren. »Sie wurden bezahlt.«
»Mit Papiergeld«, sagte Gadi streng. Er schob das Fenster hoch. Sie hatten es mit Seife eingerieben, damit es leichter aufging. Er kletterte leichtfüßig, gewandt hinein und hielt ihr die Hand hin. Gadi war in den letzten anderthalb Jahren rasch gewachsen; jetzt war er acht Zentimeter größer als Shira. Sie gab die Hoffnung auf, noch weiterzuwachsen. Sie fand sich damit ab, so klein zu bleiben wie Malkah. Malkah erzählte ihr, dass über Generationen alle größer wurden als ihre Eltern, aber jetzt nicht mehr. In Tikva aß man richtige Nahrungsmittel, aber die meisten Menschen aßen Bottichnahrung aus Algen und Hefen. Sie hatte das Zeug auf einer Schulfahrt probiert; es war abscheulich. Als sie daran würgten, hielt ihnen ihr Lehrer einen Vortrag über die zwei Milliarden Menschen, die in der Hungersnot umgekommen waren, als die Meere über die Reisfelder und