Er, Sie und Es. Marge PiercyЧитать онлайн книгу.
nicht. Du bist in unserer Familie seit vier Generationen die Erste, die heiratet. Eine schlechte Idee.«
»Ist ja gut, ich dachte, Josh braucht die Geborgenheit.«
»Und konntest du ihm Geborgenheit geben? Na egal. Komm nach Hause.«
»Ich kann mir nicht einfach freinehmen. Besonders jetzt. Ich lege Einspruch ein. Ich muss Ari zurückbekommen. Ich muss.«
»Was will Y-S?«
»Von mir? Nichts. Sie wissen kaum, dass ich existiere.«
»Als du dein Studium in Edinburgh abgeschlossen hast, warben sechs Multis um dich. Und Y-S lässt dich verschimmeln. Das stinkt.«
»Ich denke, ich leiste gute Arbeit, aber nichts passiert. Niemand hier hält große Stücke auf mich.«
Malkah schnaufte. »Komm nach Hause. Ich kann dich brauchen. Ich arbeite nicht mehr mit Avram. Ich entwerfe jetzt ganztags.«
»Ich fand das eine sonderbare Partnerschaft.«
»Was er macht, ist absolut faszinierend. Aber egal. Er ist wütend auf mich. Er ist ein sturer, arroganter alter Kacker, aber auf seinem Gebiet ist er zweifelsohne ein Genie.«
»Kybernetik hat mich nie besonders interessiert … Malkah, ich ertrage es nicht, Ari zu verlieren. Er fehlt mir schon jetzt.« Shira liefen Tränen übers Gesicht.
»Du hättest nie für diese Manipulanten mit ihren Machenschaften arbeiten dürfen, Shira. Du hast hier einen Platz. Du bist davongelaufen. Dabei ist Gadi gar nicht hier. Der ist oben in Vancouver und entwirft diese kunstvollen Scheinwelten, in denen die Leute Leben spielen, statt sich Gedanken über die Welt zu machen, die wir alle am Hals haben.«
»Ich habe viele Fehler gemacht«, sagte Shira. »Aber Ari gehört nicht dazu. Er ist kostbar, Malkah, er ist für mich das Leben selbst. Ich muss ihn zurückhaben. Er trägt mein Herz in sich.«
»Tochter meiner Seele, ich wünsche dir Kraft. Aber ein Multi hat immer seine Gründe. Du wirst vielleicht eine Weile brauchen, ehe du sie durchschaust, und wenn du es tust, wird dir das unter Umständen nicht helfen, deinen Sohn zurückzubekommen.«
»Tja, bete für mich.«
»Du weißt, ich glaube nicht an persönliche Fürbitten. Ich bete immer nur um Erkenntnis.«
Shira hatte vergessen, sich eine Mahlzeit mitzubringen. Sie aß Cracker und Datteln. Dann setzte sie sich wieder an ihr Terminal und stöpselte sich ein, indem sie die Klinke vom Terminal in die kleine Silberbuchse an ihrer Schläfe steckte, direkt unter der Haarlocke, die immer dorthin fiel. Rosario hatte keine Buchse gehabt; hier war das ein Klassenunterschied, doch in Tikva erhielt jedes Kind die Möglichkeit des direkten Zugangs und lernte, sich in das weltweite Netz zu projizieren und in die lokale Operationsbasis. Sie glitt rasch aus ihrer privaten Basis in die Y-S-Basis. Sie wurde vom Konzernlogo empfangen, weiße und schwarze Doppelblitze vor Himmelblau. Die Y-S-Bildwelt beim Betreten des Stützpunktes war die von Straßenschildern. Sie stand auf einer Kreuzung und hatte sieben Abzweigungen vor sich. Büchereizugang. Sie ging die enge weiße Straße entlang. Natürlich saß sie auf ihrem Stuhl, aber die Projektion wirkte vollkommen realistisch. Man konnte in der Projektion sterben, wenn man von Räubern überfallen wurde, Informationspiraten, die in der einen Basis plünderten und die Beute an eine andere verhökerten.
Ein Gebäude stand vor ihr, weißer Marmor mit Säulengang. Die Bibliothek. Schnell stieg sie die flachen Stufen empor. Sie hielt Ausschau nach der juristischen Abteilung. Sie hatte vor, sich die geltende Y-S-Gesetzgebung über Sorgerecht anzueignen. Deshalb hatte sie nicht einfach nur Text- oder Tonausgabe gewählt. Bei voll projiziertem Zugang, wenn sie in eine Basis eingestöpselt war, lernte es sich wesentlich schneller als in Echtzeit. Sie wollte sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Sie würde ihren Sohn zurückerobern.
Am nächsten Morgen stand sie vor der Tagesstätte. Josh kam mit Ari im Schlepptau. Sie stürzte auf Ari zu und kniete sich vor ihn. »Ich will dir nur sagen, dass ich dich heute abhole. Heute Abend bist du wieder bei mir.«
Ari hatte den Daumen im Mund und sah aus, als ob er geweint hatte. Sein Teddybär-T-Shirt war verkehrt herum. Seine Augen waren verklebt.
Josh sagte, und seine Stimme surrte wie eine Hornisse: »Ich werde Beschwerde einlegen.«
Und wirklich erschien auf ihrem Bildschirm um dreizehn Uhr eine Sicherheitsnachricht: ›Shira Shipman wird hiermit jeglicher Kontakt mit dem minderjährigen, dem Sorgerecht seines Vaters Joshua Rogovin unterstellten Ari Rogovin untersagt außer an den vorgeschriebenen Tagen innerhalb der festgesetzten Besuchszeiten. Jeder weitere Verstoß gegen diese Verfügung bewirkt den Widerruf besagter Rechte.‹
Shira schloss sich in eine Abfallbeseitigungszelle ein, bevor sie weinte.
2
ShiraDie Farbe alten Blutes
Shira war vor Malcolm auf. Es war die zweite Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, ihr Versuch, etwas Distanz zwischen sich und ihren Exmann zu bringen. Jedes Mal, wenn sie in den zwei Monaten seit dem Urteil Ari abgeholt oder zurückgebracht hatte, war sie mit Josh aneinandergeraten. Jetzt setzte sich Shira an ihr Terminal und ging die Formulierungen ihres letzten Einspruchs durch. Sie fühlte sich deprimiert, der gestrige Abend war ihr lang und bleiern vorgekommen. Während sie eine Begründung umformulierte, teilte ihr der Wohnungscomputer mit, sie habe einen Anrufer. Es war ein billiges Modell, ohne jede Persönlichkeit, aber sie hatte ihm eine weibliche Stimme gegeben, die sie an das Haus ihrer Großmutter Malkah erinnerte. Die meisten Häuser hatten weibliche Stimmen. »Stell die Verbindung nur auf Audio.«
»Shira?« Es war Gadis Stimme. »Stell auf Sicht. Ich hasse es, mit einer leeren Wand zu reden. Wenn du nicht angezogen bist – verdammt, glaubst du, ich erinnere mich nicht an deinen Körper?«
Wie immer, wenn sie seine Stimme ohne Vorwarnung hörte, fiel ihr Herz in sich zusammen wie ein zermalmtes Ei. »An meinen Körper vor zehn Jahren?« Sie versuchte schnippisch zu klingen. Sie schaute in den Spiegel, wollte sich vergewissern, dass sie sich sehen lassen konnte, wollte, es wäre ihr egal, welchen Eindruck sie auf ihn machte. Sie war noch im Morgenmantel aus durchsichtiger schimmernder Seide. Ihr Haar war zerzaust, etwas Goldflimmer von gestern Abend glitzerte im Schwarz. Sie sah etwas zu mädchenhaft aus, ein wenig wie ein verlassenes Kind, wie immer ohne Make-up, aber sie konnte sich nicht überwinden, an einem Sonntagmorgen früh um neun ihr Gesicht anzumalen. Sie sagte: »Sicht an. Guten Morgen. Wo bist du?«
»Heim in Tikva, besuche Avram. Ach, unsere täglichen Duelle, unsere erfrischenden Gefechte gegenseitiger Beleidigungen. Der neue Stimmie, an dem ich mit Tomas Raffia gearbeitet habe, ist fertig und ich habe Urlaub. Warum kommst du nicht auf einen Besuch nach Hause?« Gadi war fast wie sie gekleidet, in einen durchsichtigen Mantel aus Seide – von diesen mutierten Raupen, der letzte Schrei. Seiner war viel schöner als ihrer, in Farben, die unter ihren Blicken changierten. Sein Gesicht war hager, aber so hübsch wie immer. Er hatte sein Haar silbergrau gefärbt, seinen Augen nicht unähnlich. Nur junge Leute hatten heutzutage graues Haar. Die meisten sahen damit furchtbar aus, aber sein braun gefärbtes Gesicht wurde dadurch betont. In Tikva, wo alle in Shorts oder Hosen herumliefen, wirkte er bestimmt ein wenig bizarr. Er war eben ein Sendbote des Glamours von Vancouver, dem Zentrum der Stimmie-Branche. Er war berühmt. Man erwartete von ihm, dass er aussah wie ein auf Hochglanz poliertes Kunstprodukt. Als Designer von Atmos für Stimmies war er durchaus selbst ein Star und konnte sich unter seinen Fans bewegen wie keiner der Schauspieler, die durch ihre vernetzten und verfeinerten Sinne zu verletzlich waren.
»Wie ist er beim Publikum angekommen?«
»Warst du etwa noch nicht in meinem Stimmie?« Seine Stimme krümmte sich vor ungläubiger Verletztheit. »Er war absolut krass!«
»Gadi, ich habe mich auf die Gerichtsverhandlung vorbereitet. Ich habe mich in den letzten drei Monaten jeden zweiten Tag mit meinem Anwalt getroffen. Josh hat mir Ari weggenommen. Schick mir doch eine Kristallkopie.«