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Er, Sie und Es. Marge PiercyЧитать онлайн книгу.

Er, Sie und Es - Marge Piercy


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Bücher beschlagnahmt, viele verbrannt und der Rest durch ein enormes Lösegeld zurückgekauft. Jedes Jahr zahlen die Juden einen ›Leibzoll‹ – eine Steuer auf ihr Recht zu leben.

      Sie tragen auf ihren Mänteln, Männer und Frauen und Kinder, ein gelbes Symbol, das sie als Juden kennzeichnet. Es ist nicht der Sechsstern, der Magen David, weil dieses Symbol nur ein örtliches Emblem auf dem Banner der Prager Gemeinde ist und ungewöhnlich anmuten wird, wenn es später für einen der Menschen, denen wir bald begegnen werden, benutzt werden wird, auf seinem Grabstein. Nein, das erforderliche Mal ist einfach ein ausgeschnittenes Stück Gelb, das jeder Jude zu tragen hat, um auf den ersten Blick erkennbar zu sein. Es ist nicht immer so gewesen. Tatsächlich stehen die Dinge in diesem Augenblick für eine kleine Weile ein wenig besser für die Juden von Prag, doch es ist nur eine Atempause. Das Leben ist, seit sie zurückdenken können, merklich schlechter geworden, und es ist ein Segen für ihren ruhigen Nachtschlaf, dass sie noch keine Ahnung haben, wie schlecht es in ein paar Jahren werden wird, wenn der Dreißigjährige Krieg über sie hinwegfegen wird, hin und her und hin und her wie eine toll gewordene Sense, die Menschenköpfe erntet.

      Jahrhundertelang hatten wir eine kleine, unehrenhafte, aber notwendige Rolle eingenommen: Wir waren die Bankiers, die Pfandleiher, die Geldwechsler, die Quelle für Darlehen; das war die Arbeit, die uns erlaubt war. Doch als auch Christen Bankiers wurden, trachteten die Juden, Arbeiten zu tun wie jedermann sonst, und dies, obwohl uns die meisten Gewerbe von Seiten der Obrigkeit verboten waren. Wir mussten einem Broterwerb nachgehen, und wir konnten uns nicht einfach gegenseitig die Wäsche besorgen. Bis zur Zeit des ersten Kreuzzuges lebten die Juden meist in eigenen Vierteln, wie es Menschen eben tun, in der Nähe ihrer Verwandten, ihrer Freunde, und in einer Stadt wie Prag mochte es drei oder vier mehr oder minder jüdische Viertel geben, und wenn ein Jude woanders leben wollte, wen kümmerte es? Aber seit dem ersten Kreuzzug war die Kirche kriegerisch, sie weitete sich aus, entschlossen, zu erobern oder anderen Glauben auszumerzen. Das Vierte Laterankonzil verfügte, Juden seien in Ghettos einzusperren oder zu vertreiben.

      Im Ghetto von Prag gibt es wenige wohlhabende Juden, die weiterhin Handel in der Fremde finanzieren, deren Geschäftsunternehmungen weitreichend und wagemutig sind, und viele, viele arme Juden. Es gibt eine Handvoll wie die Löws zwischen der Hölle der ganz Armen und dem Himmel der Reichen. Aber in der Judenstadt ist jedermann, die reichen Maisls, die mittleren Löws, die Hungernden, die den Abfall um ein Stückchen Brennholz durchwühlen, alle sind sie auf kleinstem Raum zusammengepfercht und sie kennen sich bei Namen und sie alle kennen einander Handel und Wandel. Es ist ein heißer, enger Ort, Tag und Nacht lärmerfüllt, wo der Lumpensammler auch ein großer Gelehrter sein mag und der Rollkutscher ein Kantor, der singen kann, bis die Vögel in Ohnmacht fallen, oder ein Fiedler, der deine Knochen erschauern lässt. Die reichen Juden versuchen alle paar Jahre, ein Haus oder etwas Land außerhalb zu erwerben, aber sie sind zu verhasst. Niemand will an sie verkaufen. Erwägt jemand ein Angebot, so widerfährt diesem Verkäufer etwas oder aber das Haus, das Land verschwindet sofort vom Markt. So bleiben auch die Reichen eingesperrt in diese große, zänkische Familie, umgeben von Unmut und Argwohn der Armen, deren Hütten und Behausungen sich an die Mauern der vornehmen Häuser drängen und deren Gerüche und Geschrei durch jedes Fenster, jede Ritze dringen ebenso wie die Ratten, die sich in den Kellern vermehren. Rabbi Löw streitet mit den Reichen, weil er sie zur Rechenschaft zieht, er schilt sie und er besteht darauf, dass die Armen das Recht auf die gleiche Erziehung haben wie die Söhne der Wohlhabenden.

      Lass uns Judah Löw betrachten, um den sich diese Geschichte ballt wie eine Wolke, die auf den Schultern eines Berges ruht. Er wird der Maharal genannt. In jenen Tagen haben große Rabbis Spitznamen wie Sportstars oder Stimmiestars. In den Ghettofestungen sind sie Kulturhalbgötter und gleichzeitig Unterhaltungskünstler. Er wird geheißen: Judah Löw ben Bezalel, Judah der Löwe. Ein Löwe unter den Juden.

      Der Maharal ist ein gescheiter, streitbarer Mann, ein hitzköpfiger Kabbalist, durchdrungen von uralter Tradition, so dass die Tora für ihn die Welt begleitet, beseelt und bildet, dabei ist er neugierig, aufgeschlossen für die Wissenschaft und die Gedankenflüge seiner Zeit. Der Maharal ist ein griesgrämiger Heiliger von überragendem Verstand, der es liebt, die Gegner mit jeder Waffe seines Arsenals zu bekämpfen, von Vernunft und hoher Redekunst bis zu Hohn und Spott. Er ist freigebig mit seinen Schmähungen, seinen Beleidigungen. In jedem geistigen Wettkampf übermannt ihn der Wille zu siegen, und er ficht, um seinen Gegner zu vernichten. Er steht fast allein in seiner Zeit mit der Ansicht, dass jede Meinung ein Recht hat, ausgesprochen zu werden – er glaubt ganz unzeitgemäß an die Redefreiheit, nicht, weil er ein Relativist wäre. Nein, er glaubt an die Wahrheit seiner Religion. Aber er glaubt zu fest an die Heiligkeit des Denkvermögens, um es durch das Verbot jeglicher Ideen zu verkrüppeln. Er liefert sich unendliche Wortgefechte mit den berühmten Rabbis seiner Zeit. Im Dezember 1599 jedoch erhält er eine Aufforderung, öffentlich mit einem Priester zu disputieren, ein gefährlicher Wettstreit, denn als Jude hat er zu verlieren. Tut er es nicht, so hat die Kirche vielfältige Möglichkeiten, sich zu rächen, rasch oder gemächlich, ganz nach Belieben, und ohne Ende – oder mit dem üblichen Ende. Dies ist keine Zeit, da jemand, der sich den Anblick wünscht, das Schauspiel brennender Juden entbehren müsste. Aber wie kann der Maharal den Disput absichtlich verlieren? G-t würde nichts Geringeres als den Sieg anerkennen. Als Jude ist er verpflichtet, all seine Geisteskräfte einzusetzen. Der Bibeldeuter dei Rossi, dessen Gedanken der Maharal verabscheut, sagte, wenn du G-t ein Opfer bringen willst, opfere es der Wahrheit, und vielleicht ist das die einzige Äußerung von Rossi, mit der der Maharal übereinstimmt.

      Der Maharal bereitet sich auf einen öffentlichen Disput mit dem Priester Thaddeus vor, einem Dominikaner, der zuvor in den Diensten der spanischen Inquisition stand. Thaddeus wurde kürzlich nach Prag versetzt, wo unter Kaiser Rudolf ein Klima der Toleranz zu blühen scheint, dessen Fortbestand oder gar Umsichgreifen nicht erlaubt werden kann. Judah findet in seinem Herzen Zorn und Verachtung für seinen Gegner, der so viel Zerstörung, Marter und Tod in anderen Leben anrichtet und dabei die Sicherheit der eigenen Stellung genießt, doch er bemüht sich, seinen Groll zu überwinden. Er erwägt, sich auf versagende Gesundheit zu berufen, aber solche Berufungen haben selten Wirkung. Er erfreut sich bester Gesundheit, obwohl er ein alter Mann ist. Dennoch war er diesen Winter bedrückt. Er hat sich nicht erholt vom Tode seines einzigen Sohnes.

      Wenn er seinen Sohn im Geiste vor sich sieht, sieht er nicht den Fünfundfünfzigjährigen mit den grauen Strähnen im Bart, sondern vielmehr das begabte, aber oft zu empfindsame Kind mit den schwachen Augen und der zittrigen Stimme. Er denkt, dass er seinem Sohn ein schlechter Vater war und seinen Töchtern wahrscheinlich ebenfalls, obwohl er die überwiegend Perl überließ, seiner rührigen baleboßte von einer Frau. Er hegte große Erwartungen für den Sohn, auf den er so lange warten musste, den Nachfolger, den Träger seines Namens in die Zukunft. Nun hat er ihn überlebt. Das ist ein beklagenswertes Schicksal, das ich besonders fürchte. Ich habe eine vogelfreie Rechtsbrecherin großgezogen, die ihre Bahnen weit von mir entfernt zieht und auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Werde ich überhaupt von ihrem Tod erfahren? Während ich durch meine geschäftigen, gemütlichen Tage wandere, bin ich in Gedanken oft bei Riva. Wie der Maharal war ich eine schlechte Mutter und eine wunderbare Großmutter.

      Obwohl der Maharal alt ist – nicht, wie Leute mich alt nennen, und dann schaue ich überrascht in den Spiegel und sage: Wer ist dieser Sack mit den Falten und Runzeln? Wer hat meine Zähne gelockert? Wer hat meine Brüste aufgeweicht? Nein, der Maharal war alt genug, um sein Alter zu spüren. Meine Familientradition sagt, er war einundachtzig; die Bücher berichten verschiedene Geburtsdaten und somit eine Mischung von Altersangaben bis hinauf in die Neunziger. Ich werde die Familienerinnerung übernehmen. Nichtsdestoweniger ist er immer noch tätig und immer noch schöpferisch. Seine Stimme hat nichts von ihrer Kraft verloren, und sein Verstand ist so messerscharf wie eh und je. Er ist vielleicht ein wenig heftiger in seiner Sprache und ein wenig härter im Streitgespräch, als er es in mittleren Jahren war, und er fühlt, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt und viel zu tun. Sein Greisenalter ist unerbittlich und leidenschaftlich. Er erscheint nicht kleiner, sondern größer, als er in seiner Jugend stand, seine Augen sind so hell und feurig wie eh in einem immer hagereren Gesicht. Statt seine Ecken und Kanten abzuschleifen, hat das Alter sie geschärft. Er ist ein Adler.

      Judah ist vor vierzig Jahren nach Prag gezogen,


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