In Dankbarkeit und Freude. Adalbert Ludwig BallingЧитать онлайн книгу.
die zu den Feldern angrenzender Dörfer gehörigen Markiersteine (vor allem dann) zu überprüfen, wenn es zu Zwistigkeiten und Streitereien unter den Bauern gekommen war. Dieses Schieder-Team überprüfte (auf geheim gehaltene Weise, ohne Zuschauer und Zeugen) die ganze Angelegenheit, ortete notfalls die sogenannte Gerechtigkeit und suchte auf diese Weise nachzuweisen, wem von den Streithähnen Recht zugesprochen werden müsse. (Die Gerechtigkeit war ein kleiner mysteriöser Gegenstand, in bestimmtem Abstand von den Grenzsteinen versteckt, worüber nur die Schieder selber informiert waren.)
Heute, im Zeitalter der Satelliten, klingt diese Art der Ackergrenzen- und Anwesen-Überprüfung als schrecklich altmodisch – so als lebte man noch zur Zeit des Neandertalers. Aber vor 70 Jahren und mehr Jahren war der Job der Schieder in der Tat etwas Wichtiges, womit man nur Vertrauensleute beauftragte. Als wir noch Kinder waren, ahnten wir durchaus: Wenn Papa die anderen Schieder zu einem Treffen einlud, dann war damit immer etwas Geheimnisvolles verbunden. Mehr wussten wir nicht; mehr durften wir nicht wissen. Außer dem Schieder-Team war niemand eingeweiht. Die Berufung zu diesem Geheimklub – zuweilen mehr oder weniger familienvererbt – war eine Ehrensache. Mein Bruder Georg übernahm diese Aufgabe und mein Neffe Peter nach ihm – wie es auch Papas Vorfahren über Generationen hinweg getan hatten.
Weil schon in jungen Jahren, gezwungenermaßen, Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, gehörte Papa zu denen, die in den ersten Tagen des September 1939 einberufen wurden. An die Westfront, wie es hieß; zur Verteidigung des Dritten Reiches im Falle eines feindlichen Angriffes von Seiten der Franzosen bzw. Engländer. Letztere hatten bekanntlich den Polen Solidarität und militärische Hilfe versprochen, falls sie von außen bedrängt und überfallen werden würden. Hitlers Einmarsch in Schlesien (Polen), laut Goebbelsscher Kriegspropaganda als Gegenschlag getarnt, war im Grunde nichts anderes als ein Frontalangriff auf das Nachbarland.
Stationiert war Papas Artillerie-Einheit bei Prüm in der Eifel. Es ging ihm relativ gut. Weil nicht mehr der Jüngste, sondern schon über 40, hatte man ihn der Feldküche zugeteilt. Hier lernte er das Kochen und Zubereiten von Speisen. Später, und wieder zu Hause, übernahm er öfters, vor allem sonntags, die Küche. Die von ihm gekochten und zubereiteten Menüs, z. B. mit Koteletts, Möhren und Kartoffeln, schmeckten besonders gut; er sparte nie an guten Gewürzen.
Aber bei uns daheim herrschte im September 1939 eine eher traurige Stimmung. Als das Wort Krieg fiel, wusste ich sofort, dass dies etwas Schlimmes sein müsse. Mama weinte, als Papa Abschied nahm, und wir Kinder weinten mit. Zwischenzeitlich führte Onkel Georg, genannt Schorsch, Papas jüngster Bruder, unseren Hof; auch er ein leidenschaftlicher Landwirt, und damals noch ledig.
Eines Tages kam Papa auf Urlaub, im Soldatenrock. Er sah so ganz anders aus. Auf einem Familienfoto wurde es dokumentiert: Rita war schon neun Jahre alt, ich sechs, Georg vier und Irene gerade 14 Monate. Nach etwa einem Jahr beim Barras, noch ehe Hitler die westlichen Nachbarländer überfiel, wurde Papa entlassen. Fast zeitgleich wurde Onkel Schorsch eingezogen – an die Ostfront.
Nach Kriegsende (1945) kehrte Onkel Schorsch mit erfrorenen Zehen zurück, heiratete eine Kriegswitwe (mit fünf Kindern) und lebte und arbeitete fortan glücklich und zufrieden auf deren großem Bauernhof; sie hatten noch einen gemeinsamen Sohn.
Einmal im Jahr begleitete Onkel Schorsch die Ochsenfurter Wallfahrer zum Kreuzberg in der Rhön. Da er wegen seiner verstümmelten (erfrorenen) Zehen sich mit dem Laufen schwertat, fuhr er einen Traktor mit dem Reisegepäck der Wallenden. Die frommen fränkischen Pilger waren in der Regel eine Woche unterwegs: Drei Tagesmärsche hin, ein Tag auf dem heiligen Berg und wieder drei Tagesmärsche für die Rückreise.
Unser Papa war durch und durch Choleriker, zum Unterschied von Mama, die zeitlebens ein fröhliches Naturell zeigte, gespeist von einem unverwüstlichen Optimismus und Gottvertrauen. Papa war ein Macher; ein Tatmensch. Was er sich vornahm, das ging er auch zielstrebig an: Auf dem Hof, bei der Feldarbeit, bei der Aufzucht von Rindern und Schweinen. Von unseren in der Landwirtschaft angestellten Knechten und Mägden verlangte Papa sehr viel. Dabei ging er allen voran. Vielleicht forderte er von den Angestellten mitunter zu viel, vor allem, wenn diese Dienstboten noch sehr jung waren, aber deren in ärmlichen Verhältnissen lebenden Eltern sich sehr dankbar dafür zeigten, das eine oder andere ihrer Kinder auf einem Bauernhof zu wissen, wo sie eine Bleibe hatten, verköstigt wurden und dazu noch etwas verdienten.
Ich persönlich verdanke Papa meinen starken Willen und die Bereitschaft, etwas Begonnenes und als richtig Befundenes auch zu Ende zu führen. Von Mama erbte ich das Sanguinische, die Liebe zur Natur, die Freude am Leben und die Nähe zum Religiösen.
Wann genau, weiß ich nicht, auf jeden Fall war es noch vor dem Zweiten Weltkrieg, eventuell Mitte der 1930er Jahre, da versuchten besonders fanatische Nazis den Altbürgermeister unseres Dorfes, Andreas Michel, zu überreden, der Partei beizutreten. Er weigerte sich und wurde abgesetzt. Daraufhin wurde unser Papa ersucht, dieses Amt zu übernehmen; auch er lehnte ab. Ob, um sie, diese beiden erklärten Anti-Nazis, umzustimmen oder um sich an ihnen zu rächen, weiß ich nicht, auf jeden Fall wurden sie abtransportiert und für drei Wochen auf der Festung in Würzburg festgehalten. Sie weigerten sich nach wie vor, Parteigänger zu werden. Am Ende durften sie wieder ins Dorf zurückkehren. Bürgermeister wurde ein anderer Bauer; ihn hatten die Dörfler dringend gebeten, pro forma der Partei beizutreten, um zu vermeiden, dass ihnen ein Fremder vor die Nase gesetzt würde.
Vielleicht war Papas antinazistische Haltung auch ein Grund, warum er schon bei Kriegsbeginn eingezogen wurde: Wollte man ihn einfach weghaben? – Während des Krieges, als die deutschen Soldaten noch ostwärts stürmten, wurden übrigens von den zuständigen Parteibonzen (unter Führung des Gauleiters von Mainfranken) bereits lange Listen angefertigt mit den Namen derer, die den Gau verlassen müssten, um in den überrannten und besetzten Regionen Weißrusslands und der Ukraine neu angesiedelt zu werden. Zwangsweise! Den eigenen Grund und Boden hätten sie verloren; der wäre einigen wenigen Parteimitgliedern bzw. Großbauern zugesprochen worden. Stattdessen wollte man ihnen in den Ostgebieten des vermeintlich bald wesentlich vergrößerten Deutschen Reiches Neuland zukommen lassen ...
Wäre Hitler siegreich aus dem Krieg hervorgegangen und diese Umsiedlung durchgeführt worden, dann hätte mehreren Familien unseres Dorfes, unsere inbegriffen, eine total andere Zukunft bevorgestanden. Weiß Gott, was am Ende aus uns geworden wäre – irgendwo in den fruchtbareren Regionen der alten Sowjetunion, am wahrscheinlichsten in der heutigen Ukraine!
Als amerikanische Panzer ins Dorf einfuhren
Am Ostersonntag 1945 ging für uns der ganze Hitlerspuk zu Ende. Während der Nachmittagsandacht und des sich anschließenden Umgangs (feierliche Prozession, angeführt vom Ortspfarrer und den Ministranten) durch den benachbarten Friedhof fuhren die ersten amerikanischen Panzer ins Dorf ein. Deren Besatzungen waren äußerst angespannt, auf intensiver Lauer und in steter Angst vor heimtückischen Anschlägen seitens verstreuter SS-Trüppchen.
Zum Glück war unser Papa zuhause geblieben, denn wir hatten eigentlich schon am Karfreitag mit der Ankunft der amerikanischen Truppen gerechnet. Papa hängte rechtzeitig die weiße Flagge ins Giebelfensterchen unseres Wohnhauses und machte somit deutlich, dass Gaurettersheim willens sei, sich friedlich zu ergeben. Wir hatten damals, weil am Dorfeingang gelegen, noch die Hausnummer eins. Papas weiße Friedensfahne und die unseres Nachbarn Ferdinand Düchs taten ihre Wirkung: Es fielen nur ein paar Schreckschüsse. Nichts wurde beschädigt – kein Wohnhaus, keine Scheune, kein Viehstall.
Als wir von der Kirche hinunter ins Dorf kamen, standen die Panzer bereits in der Dorfmitte, neben der uralten Linde10, die seit Generationen als Versammlungsort diente. Wir Kinder, so wiesen uns die Erwachsenen an, winkten mit unseren Taschentüchern, um die Friedfertigkeit aller Dörfler zu signalisieren. Und schon warfen die ersten GIs uns Kaugummipäckchen und Schokolade zu. Chewinggum war eines der ersten englischen Worte, die wir lernten. Später begrüßten wir die Ami-Soldaten nur noch mit »Chocolate, please! – Chewinggum, please!«
Kaum hatten wir nach den ersten Süßigkeiten gegrapscht, die uns von den Panzern herab zugeworfen wurden, da zischten auch