Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart HauptmannЧитать онлайн книгу.
von Kultur und Natur aufgewachsen zu sein.
Ich glaube nicht, dass ich immer ein liebenswürdiges Kind gewesen bin. Aber inwiefern ich mir die völlige Nichtbeachtung meines Großvaters zugezogen habe, weiß ich nicht. Wenn ich ihm, wie es wohl geschah, auf dem Wege vom Dachrödenshof zur Kurinspektion begegnete, war er entweder so stolz, gleichgültig oder in sich gekehrt, dass er meinen Gruß nicht erwidern konnte und nur kalt über mich hinwegblickte. Das gleiche geschah, wenn ich etwa auf der Promenade im Grase lag.
Hatte ich also für ihn nichts Anziehendes, so ebensowenig für seine ältelnden Töchter, Tante Auguste und Tante Elisabeth, die allerdings auch für mich nicht die geringste Anziehungskraft besaßen.
Ein Raum im Küchenbau war die Büfettstube. Sie hatte ein breites Fenster nach dem Hintergarten hinaus, wo immer Völker von Hühnern, Enten, Gänsen, ja Truthähnen – Schlachtvieh für die Tafel – herumliefen. Eine Eisenstange in Handhöhe, woran nachts die Läden verfestigt wurden, diente uns Kindern als Reck, an dem wir uns leicht über die Fensterbrüstung hinaus und von außen ins Zimmer zurückschwangen. Hässliche graue Tapeten, welche Steinquadern darstellen sollten, verunstalteten den modrig feuchten, dumpfen Raum, zumal sie da und dort ihre vergilbte und zerfressene Kehrseite zeigten und als Papierfetzen herabhingen.
Dieses versteckte Gemach ist aus meiner frühen Jugend nicht fortzudenken. Wäsche- und Weinschränke standen darin. Der Lärm der Kasserollen, Pfannen und Stimmen der Küche verband sich mit dem Gekräh und Gekoller der Hähne und Truthähne, Entengeschnatter und Gänsegegack. Hier fand ich des Sommers mein bisschen Essen, wenn ich es mir, meist unbeachtet im Lärm des Betriebs, an den Küchentüren erschlichen hatte.
Hier habe ich meinen würdigen Großvater in halblautem Gespräch mit meiner Mutter zuerst genauer ins Auge gefasst. Der hochgewachsene alte Mann in einem langen, schwarzen Schoßrock hatte Zylinder und spanisches Rohr abgelegt und saß meiner Mutter am Tisch gegenüber. Sie redete flüsternd auf ihn ein, während er seinen Kaffee schlürfte.
Meine Mutter gefiel mir nicht, wenn sie so, was sich wiederholte, mit dem Alten im verborgenen verhandelte, zumal sie mich, seltsam entfremdet, als gehöre ich gar nicht zu ihr, fortschickte, wenn ich nur auftauchte.
Mein Vater – es war nach der Table d’hôte – hielt um diese Zeit seinen Mittagsschlaf, und ich hatte es im Gefühl, dass er von den hier geführten Gesprächen nichts wissen sollte.
Beklagte sich Mutter über ihn? Ähnliches muss ich vermutet haben, denn der Vorgang nahm mich gegen sie und mehr noch gegen den Alten ein. Nun erst begriff ich, dass er nicht nur mein Großvater, sondern auch zugleich der Vater meiner Mutter war. Ich erkannte, wie meine Mutter vor ihm sich demütigte und diese für mich autoritativste unter den Frauen vor ihm zum gehorsamen Kinde wurde. Gegen diese Erniedrigung meiner großen Allmutter empörte ich mich, zugleich bewegte mich Eifersucht, und endlich sah ich die Einheit von Vater und Mutter gefährdet: Gefühle, die sich, gelinde gesagt, in Abneigung gegen den Alten verwandelten. Woher hatte ich dieses instinkthafte Misstrauen?
Ein immer wiederkehrendes Wort bei ihm war: »Der Fürst, der Fürst.« Er meinte den, dem das Bad gehörte, dessen Beamter und dessen Vertreter er war. Das Substantivum »der Fürst, der Fürst« war überhaupt im ganzen Ober-Salzbrunn das meist gebrauchte, und auch bei uns verging kein Tag, wo es nicht am Familientische gefallen wäre.
Eine Zarin von Russland hatte die Heilquelle gebraucht, und mein Großvater musste der hohen Dame alltäglich morgens und abends den Brunnen kredenzen. Bei festlichen Anlässen trug er die schöne Brillantnadel, die er zum Dank dafür erhalten hatte. Ich war wohl immerhin auf ihn stolz.
So bekam zwar nicht dieser Stolz, aber mein Begriff von dem ehernen Bau der Gesellschaft einen erschütterndern Stoß, als mich der Zufall zum Zeugen eines gewissen Vorgangs machte.
Wie täglich strich ich einmal wieder in den Anlagen um das Gebäude der Kurverwaltung herum und sah meines Großvaters stattlich hohe Gestalt hinter der Bürotür verschwinden. Er war versonnen an mir vorübergeschritten, auch diesmal, ohne mich zu beachten. Der ehrfurchtgebietende Greis wurde allseitig gegrüßt, auch von den Rollknechten, die eben dabei waren, schön gehobelte Brunnenkisten versandfertig auf Frachtwagen zu verstauen. Als der Ortsgewaltige aber ihren Blicken entschwunden war, ergingen sie sich in rohen Beschimpfungen, die ich auf ihn deuten musste. Ich war noch zu klein, um mich einzumischen. Bei dem Gedanken der bloßen Möglichkeit einer solchen Gotteslästerung wäre mir das Herz stillgestanden, hier aber wurde sie auf eine rücksichtslos entehrende Art und Weise Wirklichkeit. Das Erlebte begrub ich in mir, weil mir war, die bloße Erwähnung mache mich mitschuldig.
Achtes Kapitel
Die Jahre bis zur Vollendung des zehnten sind Schöpfungsjahre in jedem Sinn, und sie enthalten Schöpfungstage. Das Kind ist in dieser Spanne Zeit sein eigener geistiger Schöpfer und Weltschöpfer. So war denn auch ich der Demiurg meiner selbst und der Welt.
Aber wie gesagt, sieben Tage genügten mir nicht, denn ich hatte deren bis zum Beginn des siebenten Jahres bereits zweitausendeinhundertneunzig nötig gehabt.
Die Sonne ging auf, und ein neuer Schöpfungstag meiner selbst und der Welt begann. Vielfach ging ich darin wie ein Künstler vor, der sich durch provisorische Formgebung dem vollendeten Ganzen annähert.
*
Die immer wiederkehrende Mahnung meines Vaters sowie meiner Mutter lautete: »Gerhart, träumere nicht!« oder: »Träume nicht!« Es betraf dies natürlich die Zeiten des Ausruhens, wenn mein Bewegungsdrang in der freien Luft nicht mehr weiterzutreiben war. In der Tat, ich versann mich bei jeder Gelegenheit, sodass man die Frage immer wieder mit Recht an mich richten konnte: »Komm zu dir! Wo bist du denn?!« Ich versann mich etwa, wenn ich vor der Zeit meines ersten Schulgangs, das Kinn in die Hände gestützt, am Fenster lag und auf den fernen Hochwald starrte, den heiligen Berg, hinter dem die Welt zu Ende war und von dessen Spitze aus man in den Himmel stieg. Dieser Berg und seine Bestimmung waren mir immer wieder anziehend. Wenn nicht ich selbst, so ist mein Geist von dort aus unzähligemal in den selbstgeschaffenen Himmel gestiegen und hat sich mit der Rätselfrage der Weltbegrenzung abgemüht.
Dabei erwog ich die menschliche und meine eigene Einsamkeit, die ich schon sehr früh erkannt habe. Die unbegreifliche Größe des Schicksals erfüllte mich, solange