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Unter Ultras. James MontagueЧитать онлайн книгу.

Unter Ultras - James  Montague


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Jahr 1968 stattete Königin Elizabeth II. dem Land einen Staatsbesuch ab. Am vorletzten Tag ihres Aufenthalts besuchte sie eine All-Star-Partie zwischen Rio und São Paolo mit Pelé in seinen Reihen. Unter der beeindruckenden Menge der 200.000 Zuschauer im Maracanã befanden sich auch, an ihren angestammten Plätzen, die torcidas von Botafago, Vasco da Gama, Fluminese und Flamengo.52 Auch Cláudio war dort. »Völlig unvermittelt ertönte ein Werbejingle für die Kekse von São Luiz, so in etwa …« Er räusperte sich und begann zu singen: »Pausenzeit, schöne Zeit, gebt uns São-Luiz-Kekse.« Die Menge griff den Jingle im Handumdrehen auf, doch mit einer entscheidenden Abwandlung. »Alle begannen zu singen …«, er räusperte sich erneut, »Pausenzeit, schöne Zeit, gebt uns den Arsch der Queen.« Eine linksgerichtete Tageszeitung berichtete später, die Queen habe, bevor sie Pelé den Siegerpokal überreichte, ihren Gastgebern versichert, wie schön die Gesänge gewesen seien. Der beschämte Dolmetscher hatte notgedrungen zu einer Lüge gegriffen und behauptet, die Menschen würden ihr zu Ehren singen.

      Raça entwickelte sich über eine reine Fangruppierung hinaus zu einem Treffpunkt der multikulturellen Jugend Rios, einer Oase, wo man frei seine Ansichten äußern konnte, auch wenn diese hin und wieder ausgesprochen anstößig waren. Immer mehr torcidas lösten sich von den Vereinen und wurden unabhängig, indessen die althergebrachten torcidas der vorherigen Generation, wie die Charanga, an Bedeutung verloren. Cláudio war mit der Entwicklung der brasilianischen torcidas und ihrer Verwicklung in das organisierte Verbrechen alles andere als einverstanden. Ihm zufolge scheffelten die Anführer haufenweise Geld durch den Fanartikelhandel und Schmiergelder der Vereine, hauptsächlich in der Form von Tickets, die weiterverkauft wurden. »Die Wertvorstellungen haben sich gewandelt«, erklärte er und machte ein unerwartetes Geständnis: »Ich zum Beispiel mag den Fußball nicht.« Er liebte Flamengo, nicht die jeweilige Mannschaft dieses Namens. Für Cláudio zählte nur Rot und Schwarz.

      Cláudio stieg 1987 aus und fing bei der Polizei an, ohne deswegen jedoch zahmer zu werden. Stolz berichtete er: »Bei der Polizei schimpfte man mich einen Kommunisten, weil ich die Streiks organisierte. Drei Mal hat man mich wegen Militanz verhaftet.« Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst zehn Jahre zuvor hatte er die Vaca Atolada erworben, wo sich die progressiven Aktivisten der Stadt trafen. Die antifaschistischen Mitglieder der torcidas aller Vereine Rios fanden sich dort ebenso ein wie Künstler und Politiker. Die 2018 ermordete Regionalpolitikerin Marielle Franco, die sich einen Namen gemacht hatte, als sie die Polizeigewalt aufgedeckt hatte, war eine Freundin Cláudios und Stammgast in der Vaca Atolada gewesen. Zwei Ex-Polizisten waren wegen des Mordes an ihr festgenommen und angeklagt worden, doch zu den Hintermännern der Tat gab es nach wie vor kaum Erkenntnisse.53 Die veränderten politischen Verhältnisse hatten Cláudio zu einer drastischen Maßnahme greifen lassen: Er war aus dem Ruhestand zurückgekehrt. Der vorherige Boss der Raça war verhaftet worden, weil er einen gegnerischen Fan umgebracht haben sollte, und die Gruppierung war wegen der Gewalt für fünf Jahre aus dem Maracanã verbannt worden. Daraufhin hatte der Vereinspräsident Cláudio gebeten, wieder einzusteigen und als eine Art beratender capo das Chaos zu beseitigen.

      Er sagte: »Nach 30 Jahren bin ich zurückgekehrt, um Raça neu zu organisieren. Ich habe ihnen gesagt: ›Wir erneuern Raça von Grund auf, misten völlig aus. Wir schmeißen die Idioten raus. Und sollten am Ende nur 20 Prozent übrigbleiben, können wir neu anfangen.‹«

      Er wollte der Gruppe eine neue Organisationsstruktur verpassen, mit einer Art Parlament und Wahlen jeweils zu Jahresbeginn, damit die Macht nicht länger in den Händen eines Einzelnen liegen würde. Außerdem strebte er eine Rückkehr der torcida in die Zeiten eines Jayme de Carvalhos an, als in den Stadien noch brasilianische Musik erklang. »Heute singen sogar die brasilianischen Fans argentinische Songs«, erklärte er sarkastisch. »In meinen Ohren ein furchtbarer Scheiß … Wir bringen die Samba zurück. Die Raça hat als erste torcida die Samba ins Stadion gebracht. Weil sie pure Lebensfreude ist.«

      Inzwischen war die Band bereit für ihren Auftritt. Während wir uns unterhalten hatten, hatte die Vaca Atolada sich zum Bersten gefüllt. Die Musiker saßen um einen großen Tisch mitten in der Bar, um sie herum drängten sich die Menschen. Cláudio musste arbeiten. Doch bevor er nach drinnen verschwand, sagte er noch: »Wer die Gesänge kontrolliert, hat die Macht.«

      Rafael wartete um Punkt neun Uhr morgens mit einem rot-schwarzen Flamengo-Trikot in der Hand vor meinem Hotel. Er reichte es mir und sagte: »Du solltest es anziehen. Es würde seltsam wirken, wenn du dort ohne auftauchst.« Rafael war ein junger Filmemacher, der mich in der Vaca Atolada eingeführt und Cláudio vorgestellt hatte. Auch er war doente por Flamengo. Es war ein Sonntag, und im Maracanã stand das Spiel gegen Chapecoense an, jenen Verein, der ein Jahr zuvor auf tragische Weise nahezu die gesamte Mannschaft bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte. Kein Verein aus Rio, also auch kein Derby, dennoch wurde mit einem ausverkauften Stadion gerechnet. Das war eine Seltenheit im brasilianischen Fußball. Seit einigen Jahren gab es zwar kaum noch Gewalt in den Stadien, doch der Weg zu den Spielen war mittlerweile derart gefährlich, dass der Zuschauerschnitt in der brasilianischen Série A bei lediglich 15.000 lag. Entgegen der herkömmlichen Fußballlogik kamen insbesondere zu den großen Derbys die wenigsten Zuschauer. Tags zuvor bei Fluminese gegen Botafogo war das Maracanã nur halb voll gewesen. Doch die Liga hatte sich eine neue Lösung einfallen lassen und den Anstoß auf 11 Uhr am Sonntagmorgen verlegt. »Ich denke, so ist es besser«, sagte Rafael auf dem Weg durch merkwürdig leere Straßen zum Maracanã. »Die Leute wollen den torcidas den schwarzen Peter zuschieben. Sie sagen, dass sie gewalttätig seien. In Brasilien haben die Leute Angst, ins Stadion zu gehen, daher der niedrige Zuschauerschnitt. Aber das Lustige ist, dass es in einem Stadion schon lange keine schlimmen Krawalle mehr gegeben hat. So etwas kommt kaum noch vor.«

      Raça war aus dem Maracanã verbannt worden, doch Rafael hoffte, dass Cláudio für eine Wende und die Aufhebung des Stadionverbots sorgen und den ursprünglichen Geist der torcida wiederbeleben würde. »Jetzt, mit Bolsonaro an der Macht, versucht Cláudio, den Leuten bewusst zu machen, wie wichtig die torcidas sind, und ihnen vor Augen zu führen, was gerade in Brasilien abläuft«, sagte Rafael. Cláudio war aufrichtig überzeugt, dass die torcida erneut zum Bollwerk gegen den Faschismus werden könne, wie einst zu seiner Zeit. Auch die torcidas anderer Vereine begannen sich zu organisieren, und zu Jahresende sollte ein antifaschistisches torcida-Treffen stattfinden.

      »Viele Polizisten unterstützen ihn [Bolsonaro]«, erklärte Rafael. »Letzten Monat wollte jemand mit einem antifaschistischen Flamengo-T-Shirt ins Maracanã. Er wurde nicht reingelassen. Im Grunde leben wir bereits wieder in einer Diktatur, vor allem, wenn man an die Polizei denkt.«

      Vor den Eingängen des Maracanã geriet der Strom der 60.000 Zuschauer ins Stocken. Eine buntgemischte Menge drängte in das ausverkaufte Stadion. Im Vorfeld der WM 2014 war ich wegen der damaligen Proteste nach Rio gekommen und hatte auf den Straßen das wahre Brasilien in all seiner Vielfalt kennengelernt. Doch die hohen Eintrittspreise bei der WM und dem vorhergehenden Confederations Cup hatten sich nur die Privilegierten leisten können. Bei den Spielen hatte man ausschließlich weiße Gesichter gesehen. Dagegen bot das bevorstehende Spiel ein weitaus getreueres Abbild von Rio. Nach Nationalhymne und Anpfiff stimmten die Zuschauer ihre Gesänge an. Rafael sagte: »Viele unserer Fans sind arm, darum haben die anderen uns immer angepöbelt: ›Ach, die Favelas, die Favelas!‹ Wir haben ihren Sprechchor übernommen und ins Gegenteil verkehrt: ›Favela, Favela, Party in der Favela‹.«

      Flamengo ging rasch mit 1:0 in Führung. Der ausgelassene Jubel der Zuschauer brachte das Stadion zum Beben. Noch vor der Pause bekam die Mannschaft einen Elfmeter zugesprochen, verschoss allerdings. Zur Halbzeit wurde das Team ausgepfiffen. Rafael meinte: »Es reicht nie. Wenn sie drei Tore machen, verlangen die Zuschauer vier.« Doch etwas fehlte: die Musikbands, die Charanga-Klänge, die Pyrotechnik und die Fahnen. Nach der Gewalt und dem anschließenden harten Durchgreifen der Polizei ließen sich der Stil und die Atmosphäre der alten torcida nicht einfach wiederbeleben. Laut Rafael hatten die Verantwortlichen es sich »leicht gemacht«. Sie hatten einfach das Vorgehen der englischen Autoritäten gegen die Hooligans kopiert und die Fangemeinde als Ganzes abgestraft, nicht etwa den einzelnen Gewalttäter.

      Flamengo


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