Der grüne Pfad hat nie ein Ende. Gerhard BöttgerЧитать онлайн книгу.
Felder und Moore der Umgebung durchstöbert habe, um insbesondere die freilebende Tierwelt zu beobachten. Auch aus dieser lang zurückliegenden Zeit erinnere ich mich an den Anblick von mehreren rußdunkel gefärbten Stücken Rehwild am Thörenwald bei Freetz und im Tister Bauernmoor.
Südostwärts über die B75 hinweg liegt der kleine Ort Königsmoor in einer wahrlich dünn besiedelten Gegend. In den baumlosen, übersichtlichen Moorbiotopen war, in den Jahrzehnten nach dem Krieg, das Birkwild noch stark vertreten, als Hinweis darauf führt noch heute die Gemeinde Königsmoor den Birkhahn im Wappen.
Die Abgeschiedenheit der Landschaft gefiel dem Boxchampion Max Schmeling, einem unserer populärsten Sportler überhaupt, sehr gut. Wem ist dieser Ausnahmesportler nicht ein Begriff, und wer hat zumindest nicht einmal von seinem Titel als Schwergewichtsboxweltmeister der Jahre 1930–1932 und seinem Sieg 1936 im „Kampf des Jahrhunderts“ gegen den „unbesiegbaren braunen Bomber“ Joe Louis gehört?
Unser Box-Idol, von Jugend an großer Naturfreund und passionierter Jäger, wurde schnell heimisch in der Runde der ortsansässigen Weidgenossen und wurde Mitpächter der Gemeindejagd von Stemmen, einem Niederwildrevier. Er lebte in Wenzendorf in der Samtgemeinde Hollenstedt in glücklicher Ehe mit der tschechischen Schauspielerin Anny Ondra beschaulich und zurückgezogen und ging von dort aus über 40 Jahre zur Jagd.
Wenn Schmeling und seine Freunde ihrer Jagdleidenschaft gefrönt hatten, kehrten sie gerne im Landhaus Stemmen oder in umliegenden Gastwirtschaften ein, um einen kräftigen und ausdauernden Skat zu dreschen und die Jagderlebnisse noch einmal Revue passieren zu lassen, wenngleich am bequemen Tisch Max’ absoluter Schwerpunkt die Karten waren und er zu stark ablenkende Gespräche nicht schätzte. Jagd ist Jagd und Skat ist Skat, das nahm er ernst!
So manchen Birkhahn erlegte Max damals noch, und ein besonderer Stolz und eine tiefe Freude des in der Natur und in der Jagd aufgehenden Mannes war ein mit der goldenen Hegenadel dekorierter üppig geperlter Fünfstangenbock, den er im Juni 1971 erlegen konnte.
Natürlich schoss auch Max Schmeling seinen schwarzen Bock, den er zum ersten Mal in Begleitung seiner Frau in Anblick hatte und deswegen noch einige Jahre schonen „musste“, weil sie das seltene Tier so sehr bewunderte. Der immer bescheiden und menschlich gebliebene Max Schmeling mit seiner ausgeprägten Liebe zur norddeutschen Landschaft fand also hier eine neue jagdliche Heimat, konnte hier vielleicht ein Stück weit den am Ende des Zweiten Weltkrieges erlittenen Verlust seines Rittergutes Ponickel in Hinterpommern, das einen guten Rotwildbestand aufwies, verschmerzen und verkraften.
In dem weiten und flachen Land ist auch heute noch rotes und schwarzes Rehwild auf den dem mageren Moorboden abgerungenen Wiesen und Weiden verbreitet und findet gute Einstände in den Feldgehölzen, natürlich ziehen die Sauen durch, und im Zuge des Verschwindens der Heidegebiete und Moore und der Aufforstungen kommt auch Damwild als Wechselwild vor.
Heutzutage jagt dort auch, gewissermaßen auf den grünen Pfaden Max Schmelings, der Weidmann Stefan Schapitz aus Holm-Seppensen bei Buchholz und betreut eine ca. 200 Hektar große Eigenjagd praktisch alleine mit einem Begehungsschein. Irgendwann rief mich Stefan zu Hause an und bat um eine Signatur für die in seinem Besitz befindlichen Bücher aus meiner Feder. Als er mich besuchte, legte er gleich alle meine bis dahin verfassten sechs Werke auf den Tisch, was ich schmunzelnd und als Autor natürlich erfreut zur Kenntnis nahm und ihm gerne den Gefallen tat. Aus dem geplanten Kurzbesuch wurde ein stundenlanges, höchst interessantes Gespräch über unsere gemeinsame Passion, und irgendwann waren wir bei dem Thema „schwarze Böcke“.
Stefan, der erst im fortgeschrittenen Alter die Möglichkeit hatte, den ersehnten Jagdschein zu machen, hatte sich gleichwohl schon eine gehörige Portion Erfahrung erworben. Kein Wunder bei dem Revier, einen schwarzen Bock hatte er auch schon – im gleichen Jahr (2017) erlegt.
Er zeigte mir gestochen scharfe Fotos von diesem dunklen Recken und ich schaute sie mir mit Begeisterung an.
Ich besuchte Stefan Ende März im ruhigen und gemütlichen, ganz im Grünen gelegenen Heim, und wir redeten über viele allgemein interessierende und politische Themen, aber natürlich auch über unsere jagdlichen Laufbahnen. Seine nette Frau Aibe hatte vor Jahren – mit besten Prüfungsergebnissen – ebenfalls den Jagdschein gemacht, wir redeten also alle eine Sprache. Wie angenehm für einen Jägersmann, wenn die Ehefrau ihn nicht komisch anguckt und von oben bis unten mustert, wenn er von dem Perückenbock berichtet, der im Bestand im Bett gesessen hat, von den Sauen, die in der Wiese gebrochen haben oder dass er zwar Kahlwild vor hatte, aber nicht den Schneider, den er gerne geschossen hätte. Wie entspannt, wenn sie Verständnis aufbringt, dass er fünf Stunden später als angesagt aus dem Revier heimkommt, weil er unter schwerster Mühe den erlegten Keiler aus dem Sumpf bergen und in die Wildkammer transportieren musste.
Zwischen zwei Stückchen Kuchen sah ich mir die Trophäenwände mit dem starken und reifen Hirsch aus dem Süsing und den beiden guten Muffelwiddern an und erfuhr auch, dass er in einem anderen Revier schon als Jungjäger einen ersten schwarzen Bock strecken konnte.
Das Kopf-Träger-Präparat des „aktuellen Schwarzen“, eines ungeraden Achters, hielt ich bewundernd in den Händen.
Ja, diese Schwarzen, schwerpunktmäßig in Norddeutschland ihre Fährte ziehend, sind als „Rußteufel“ und Seltenheit besonders begehrt, und wenn ihre Erlegung erst nach größtem Bemühen und hochaktiven Phasen der „grünen Gehirnwindungen“ gelingt, ist es eine erzählenswerte Geschichte.
Es hatte Stefan viel Zeit gekostet, dem territorialen Beherrscher eines Wiesengeländes auf die Schliche zu kommen. „Nachdem er bei vielen vergeblichen Ansitzen nicht zu mir kam, ging ich zu ihm“, griente Stefan und schilderte mir weiterhin eingehend, noch immer von diesem Erlebnis erfüllt, seine spannende Jagdausübung auf diesen Bock.
Die über einen Wassergraben gebaute Kanzel war einer seiner Lieblingssitze. Von hier aus entdeckte er im letzten Licht des Maientages den Rücken eines dunklen Stückes Rehwild, das gerade im Waldsaum untertauchte. War es der schon verschollen geglaubte Bock?!
Stefan brauchte nun nicht mehr lange zu überlegen, wo er morgens und abends ansitzen wollte. Die alte Kanzel wurde seine „zweite Heimat“, von der aus er zwar den Bock noch einige Male erspähte, aber immer stand er viel zu weit entfernt auf der riesigen, über 15 Hektar sich ausdehnenden Wiesenfläche. Nach diesen immer erfolglosen Bemühungen musste etwas passieren. Stefan ist ein Mann von Tatkraft und fasste einen Entschluss.
An einem Nachmittag, an dem er sowieso diverse Revierarbeiten erledigen wollte (Salzlecken beschicken, Malbäume mit Holzteer bestreichen, um vielleicht mal wieder einen Überläufer strecken zu können, oder auch die letzten Nistkästen reinigen und einige Sprossen an den – vielleicht noch zu Max Schmelings Zeiten gebauten? – in die Jahre gekommenen Hochsitzen und Leitern erneuern), galt seine „letzte Amtshandlung“ und Planung dem schwarzen Bock.
Eine kleine Waldzunge sprang in die Wiese hinein, und Stefan hatte beobachtet, dass der gehörnte Hausherr des Grünlandes von dort aus vielleicht mit einem weiten Schuss zu erlegen wäre. Also spannte er hier neben einer Birke mit Holunderbusch ein Tarnnetz auf und stellte den alten Küchenstuhl von der Kanzel hinter diese Sichtdeckung.
Als er am nächsten späten Nachmittag dieses lauschige Plätzchen aufsuchte, brachte er – schwer bepackt – auch noch seinen Ansitzstuhl mit Gewehrauflage sowie einen dreibeinigen Zielstock mit. Alles dabei, nun fehlte nur noch der Schwarze mit dem hellen Gehörn.
Sollte es wieder ein Abend ohne Rehwild-Anblick werden? Der Weidmann erfreute sich an dem wunderbaren Frühlingsbild rund um ihn herum, aber mit dem langsamen Nachlassen des Tageslichtes hätte er doch gern auch eine schwarze Decke irgendwo im Grün auftauchen sehen. Natürlich war der Überblick hier im Schirm nicht so gut wie von der Kanzel.
Während er im Geiste gerade mal überschlug, wie viel Ansitze er an dieser Örtlichkeit schon hinter sich hatte, war es plötzlich so weit! Sein „unbewaffnetes“ Auge erspähte weit hinten im sattgrünen Halmenmeer ein trutzig-dunkles Rehhaupt mit hellen Stangen darüber. Stefan nahm zwar das Glas hoch, aber zum Ansprechen brauchte er es nicht – natürlich stand dort der Schwarze! „Weit, aber nicht zu weit“, murmelte er in sich hinein,