Systemische Personal-, Organisations- und Kulturentwicklung. Bernd SchmidЧитать онлайн книгу.
1.4 Marktprinzipien und Besitzstandmentalität
Um einen sinnvollen Umgang mit solchen Situationen finden zu können, müssen wir uns einer besonderen kulturellen Facette widmen. In den Wachstumszeiten der Nachkriegszeit hat sich eine Versorgungsmentalität entwickelt. Bei Veränderungen wird erwartet, dass der Stand der »Versorgung« (Lohn, Vorsorge, Titel, etc.) durch die Organisation gesichert oder gar ausgebaut wird. In unserer Gesellschaft sind über die Einkommensbindung der Sozialabgaben unternehmerische Wertschöpfung und soziale Sicherung direkt aneinander gekoppelt worden. Dieses System funktioniert, wenn genügend Arbeit vorhanden ist und die dabei erzielten Einkommen tatsächlichen Wertschöpfungsbeiträgen entsprechen. Ist dies nicht mehr gegeben, leiden unternehmerische Entwicklungen an Fehlbelastung und die Sozialsysteme an Unterfinanzierung. Durch Wachstum und/oder Ausbeutung (bestimmter Bevölkerungsgruppen, anderer Länder, natürlicher Ressourcen oder künftiger Generationen) finanziert haben sich Versorgungsanspruchsdenken und Selbstbedienungsmentalitäten ohne Anbindung an wirkliche Produktivleistungen entwickelt. Beides ist mit unternehmerischer Verantwortung für nachhaltiges Wirtschaften schlecht zu vereinbaren. Die Ansprüche an Einkommen, an Flexibilität und Stimmigkeit der Arbeit sind gewachsen, wobei Risikobereitschaft und unternehmerische Verantwortung für die Leistungsentwicklung und deren »Vermarktung« nicht immer mit gewachsen sind. Hier ist ein Mentalitätswandel bei allen angesagt. Den Vorteilen individueller Marktteilnahme muss auch die damit verbundene Eigenverantwortlichkeit gegenübergestellt werden. Fragen der Passung sind ein konkreter Beitrag, die Produktivität, aber auch die Sinnstiftung von Arbeitsverhältnissen zu erhöhen und unternehmerische Verantwortung aller dafür zu stärken. Dabei werden sich Arbeitsverhältnisse wohl eher aus festen Zugehörigkeiten lösen und den Kontraktbeziehungen zwischen selbstverantwortlichen Marktteilnehmern nähern. Wird heute gekündigt, so ist dies meist noch weit davon entfernt, dass Geschäftspartner in gegenseitiger Würdigung auf die Fortsetzung ihrer Vertragsbeziehung verzichten. Verbissene finanzielle Streitereien sind oft der vergebliche Versuch, zu Würdigung zu kommen. Sie sind das unrühmliche Ende von unternehmerisch und menschlich nicht verantwortlich gestalteten Passungsprozessen von allen Seiten.
Frau Flink hat einen Mann kennen gelernt und möchte nicht mehr gerne nach Feierabend putzen. Allerdings will sie auch ihr Einkommen stabil halten. Gleichzeitig soll bei der Fa. Adrett die Betriebszeit sogar weiter in den Abend hinein verlegt werden, weil die Kunden dann wegen der veränderten Ladenschlusszeiten eher mal Zeit hätten. Ein Konkurrenzunternehmen wirbt sogar ausdrücklich damit. Mithilfe eines befreundeten Beraters kommt es zu einem ausführlichen Gespräch zwischen dem Meister und Frau Flink. Darin werden die bislang zufriedenstellende Mitarbeit von Frau Flink und ihr entgegenkommendes Wesen gewürdigt. Frau Flink würdigt, dass die Beschäftigung bei der Fa. Adrett ihr ins bezahlte Arbeitsleben und zu einem neuen Wertgefühl geholfen hat. Der Meister würdigt ihre neue Berufsidentität als Köchin und bedauert, dass sie in seinem Betrieb dafür nur wenig Resonanz finden kann. Da sie aber spürbar aus den anderen Tätigkeiten herausgewachsen sei, müsse dafür eine andere Kraft eingestellt werden. Als Köchin in dem für den Betrieb passenden Rahmen solle Frau Flink gerne halbtags arbeiten, sich für die weiteren Tätigkeits- und Einkommenswünsche nach einem anderen passenden Wirkungskreis umsehen. Nach einiger Zeit findet Frau Flink eine Teilzeittätigkeit als Köchin abends in einem Sportzentrum. Dort erhält sie für ihre Lust, Leute zu verwöhnen auch entsprechende Resonanz und braucht diese Bestätigung nicht mehr von der Fa. Adrett. Dort entspannt sich entsprechend die Situation und sie bekommt für ihre neukonfigurierte Funktion wie auch als Mensch allseits angemessene Anerkennung.
1.5 Dialogkultur bezüglich Passung
Passungsprozesse müssen zwischen unternehmerisch Verantwortlichen, den betroffenen Personen und bezogen auf die relevanten Bezugspersonen (in den Kunden-Lieferanten-Netzwerken) in vielschichtigen Dialogen (SCHMID/MESSMER 2003g) gestaltet werden. Sie zeichnen sich durch folgende Charakteristika aus:
• Komplementäre Verantwortung: Für einen gelingenden Passungsprozess müssen die Beteiligten ihre je unterschiedliche Verantwortung aufeinander bezogen wahrnehmen. Die Bedeutung für die Person und der Wert für die Organisation müssen in Bezug gesetzt und nach Möglichkeit in Übereinstimmung gebracht werden.
• Kontinuierlicher Prozess: Die Entwicklungen der Geschäftsanforderungen, aber auch innere Entwicklungsprozesse der Personen machen eine laufende Überprüfung der Passung notwendig, ohne die Passungsund Leistungsqualität kontinuierlich abnehmen.
• Dialogischer Prozess zwischen Betroffenen: Passung ist keine bloße Frage der Abstimmung von Prozess-, Funktions- und Leistungsaspekten in der Führungsbeziehung (vertikale Perspektive). Ebenso wichtig ist es, solche Fragen transparent und in Abstimmung mit anderen wichtigen Beteiligten im relevanten Prozess (horizontale Perspektive) untersuchen zu können. Die Dialogkultur, welche in dieser Art von Passungsprozessen entwickelt wird, fördert wechselseitiges Verständnis und Respekt und ist zentral für die Erhaltung der Steuerbarkeit von Organisationen im heutigen Umfeld.
1.6 HR-Dienstleistungen im Passungsprozess
Das hier beschriebene systemische Passungsverständnis erfordert eine neue Sicht auf entsprechende HR-Prozesse. Die zentrale Verantwortung für die Passung liegt beim unternehmerisch verantwortlichen Vorgesetzten (und dem betroffenen Mitarbeiter). Um diese Verantwortung optimaler wahrnehmen zu können, kann das HR (oder die Berater) für die Beteiligten wertvolle Dienstleistungen erbringen.
Abb. 3: Perspektiven im Passungssystemkreis
Wir unterscheiden hierzu folgende drei Arten von HR-Prozessen:
• funktions-, stellen- resp. arbeitgeberorientierte Prozesse: Hier geht es um eine Umfokussierung auf eine unternehmerische und systemische Funktions- und Stellensicht. Statt akribischer Detailanalysen müssen vermehrt unternehmerische Perspektiven in den Vordergrund treten. Was ist der Bezug und Beitrag der jeweiligen Funktion zu den Kernprozessen? Welche Art von Unternehmertum ist in dieser Funktion gefragt? Welche Art von Drive? Wie sollen sich die Funktion und die darin verantworteten Teilprozesse im Laufe z.B. der nächsten zwei Jahre entwickeln? Etc.
• personen- resp. arbeitnehmerorientierte Prozesse: Um in Passungsprozessen die eigene Verantwortung gut wahrnehmen zu können, wird die Auseinandersetzung mit eigenen Kernkompetenzen und den optimalen Bedingungen ihrer Verwertbarkeit wichtig. Es wird wichtig, dass Mitarbeiter bezüglich ihrer eigenen Laufbahn vermehrt unternehmerische Verantwortung übernehmen und sich »strategische« Überlegungen machen, mit der Leitfrage: Wie möchte ich mich angesichts sich verändernder Marktanforderungen und eigener Kernkompetenzen in Zukunft positionieren? Wohin möchte ich mich entwickeln?
• Passungsprozesse: Eine wesentliche Grundannahme des Passungsprozesses besteht darin, dass die Qualität einer Neubesetzung resp. Umbesetzung nicht nur in der Qualität des Kandidaten, sondern vor allem in derjenigen des Zusammenspiels zwischen Funktion, Vorgesetztem, Kandidat und relevantem Systempartner (in den Kunden-Lieferanten-Beziehungen) besteht. Es geht also im Passungsprozess darum, eigentliche »Kandidaten-System-Szenarios« bezüglich ihrer Passungspotenziale zu evaluieren.
1.6.1 Perspektiven in funktionsorientierten Prozessen
Aus Sicht der Organisation geht es darum,
• das unternehmerische und systemische Urteilsvermögen der unternehmerisch Verantwortlichen (Arbeitgeber) zu stärken,
6.2.1 Teilperspektiven des Unternehmertums
• das Verständnis und die Kompetenzen der Verantwortlichen als Regisseure und Passungsverantwortliche zu entwickeln.
1.6.2 Perspektiven in personenorientierten Prozessen
Angesicht aktueller Entwicklungen macht