Weihnachten. Karl-Heinz GöttertЧитать онлайн книгу.
als Hebdomekonta bezeichnet wird. Wir kennen sie heute besser in der lateinischen Bezeichnung als Septuaginta, die von den frühen Christen nicht nur gelesen, sondern auch im christlichen Sinne uminterpretiert wurde – so sehr, dass die Juden selbst irgendwann neue Übersetzungen anfertigten und letztlich wieder zum hebräischen Urtext zurückkehrten. Lukas zitiert jedenfalls stets aus dieser griechisch-hellenistischen Septuaginta, was nicht folgenlos blieb. Also ein guter Bibelkenner, aber auch einer mit erheblicher Voreingenommenheit. Den hebräischen Urtext kannte er wohl nicht.
Womit wir zur Abfassungszeit des Evangeliums kommen, die sich nur einigermaßen genau fixieren lässt. Die Apostelgeschichte, wenn man so will des Evangeliums zweiter Teil, datiert auf die Zeit um 90 n. Chr. In Bezug auf das Evangelium geht eine Vielzahl der Exegeten davon aus, dass Lukas bereits auf die Eroberung von Jerusalem durch die Römer unter Titus und die damit verbundene Zerstörung des Tempels im Jahr 70. n. Chr. zurückblickt. Eine vage Andeutung darauf gibt es etwa bei Lukas mit der Bemerkung: »Jerusalem wird von den Völkern zertreten werden« (Lk 21,24). Damit zeichnet sich wenigstens ein Rahmen ab.
Um zusammenzufassen: Es gab auf jeden Fall einen Lukas, der Evangelium sowie Apostelgeschichte schrieb und dabei der »Wahrheit«, wie er sie verstand, so nahe wie möglich kommen wollte. Wir wissen weiter, worin sein Problem lag. Denn Lukas wendet sich an einen Hochgebildeten, der mit Religionen und Philosophien seiner Zeit vertraut gewesen sein wird. Und dem galt es, Ungeheuerliches zu erzählen: von einem Jesus, der Gottes Sohn gewesen sein muss, da er schließlich von den Toten auferstand und in den Himmel aufgenommen wurde. Lukas ist ganz begeistert von dessen Lehren, besonders von einem Zug, den er immer, wenn sich die Gelegenheit bietet, breit ausmalt: Es kann auf dieser Welt nicht darum gehen, irdische Reichtümer anzuhäufen, es geht um mehr und Größeres. Von Lukas’ Wiedergabe der Bergpredigt als »Feldrede«, in der das erste Gebot des neuen Glaubens nichts anderes als die »Armut« bedeutet, war schon die Rede.
Aber die Sache mit Jungfrauengeburt und Auferstehung strapazierte eben die Glaubwürdigkeit. Theophilus wird, philosophisch gebildet, wie er war, aufgeklärt gewesen sein und die damaligen Erzählungen über die griechisch-römischen Götter als alberne, jedenfalls überholte Geschichten betrachtet haben. Ein Zeus als notorischer Schürzenjäger, der stets hinter Menschenfrauen her war, sich in einen Stier verwandelte, um Europa zu entführen, oder in einen Schwan, um Leda zu schwängern: Da bot das Judentum etwas anderes mit einem gnädigen und nur bei Fehlverhalten strafenden Gott, der letztlich Erlösung versprach. Und dann erst dieser christliche Gott, der angeblich noch viel weitergegangen war, mit seinem Tod die Menschen von der ererbten Sünde rettete, ihnen eine neue Vervollkommnung in Aussicht stellte. Wobei man eben an diese Göttlichkeit glauben musste, für die sein Leben so sehr sprach, besonders mit den Ereignissen nach dem Tod, aber eben auch mit der angenommenen Jungfrauengeburt. Immerhin gab es dafür teils Augenzeugen, teils die Vorausdeutungen der jüdischen Propheten und der Psalmen.
Um es auf den Punkt zu bringen: Wer einen offenbar bestens gebildeten Mann von diesem Jesus überzeugen wollte, konnte nicht mit Phantastereien aufwarten. Schon hatte überdies der Druck der Außenwelt eingesetzt, hatten die ersten Christenverfolgungen begonnen, u. a. durch Kaiser Nero, nach dem Brand von Rom im Jahr 64. Christ zu sein oder zu werden, brachte jedenfalls ein steigendes Risiko mit sich. Gerade hatten die Römer gezeigt, wie sie mit Juden umgingen, die sich ihnen widersetzten, indem der Kaiser ein Heer schickte, das Jerusalem stürmte, möglichst viele Einwohner umbrachte, den Tempel verwüstete und seine Reichtümer mitnahm, um in Rom das Kolosseum zu bauen. Es war sehr fraglich, ob es auf Dauer genügte, sich von diesen Juden abzusetzen und ihnen (und nicht dem Römer Pilatus) die Schuld an der Kreuzigung in die Schuhe zu schieben, ja einen brutalen Antijudaismus zu pflegen, wie er besonders die Evangelien von Matthäus und Johannes prägt. Wo aber lag die Garantie, dass die Römer nicht genauso Christen bekämpften, die sich weigerten, den Kaiser als Gott anzuerkennen? Da musste man sich der christlichen Lehre schon sehr sicher sein, sie sehr überzeugend darstellen. Fast könnte man auf die Idee kommen, dass Lukas es Paulus gleichtun wollte und eine Geschichte lieferte, die von gleichem Wert wie die Auferstehung war: nämlich die Geburt dieses Jesus Christus durch eine Jungfrau.
Alles musste jedenfalls stimmig sein. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie damalige Leser/Hörer auf die »Geschichten« reagierten. In viel späteren Zeiten setzte eine Art Ranking ein, mit der Einschätzung von hartem Wahrheitskern und mythischer Ausschmückung auf einer gleitenden Skala. Der wirklich harte Kern lag dann bei der Auferstehung. Wer daran nicht glaubte, war kein Christ. Aber schon Luther merkte, dass das Buch Jesaja im Alten Testament aus zwei Teilen bestand, dass es also einen Bearbeitungsprozess gegeben hatte. Im Neuen Testament hielt er den Jakobusbrief für eine »stroherne Epistel« und rückte sie ans Ende seiner Bibelübersetzung wie auf eine Strafbank. Später, in Zeiten aufklärerischer Bibelkritik, traf es gerade das Weihnachtsevangelium. Die ganze Szenerie hatte einfach zu viel Phantastisches, die Krippenseligkeit ebenso wie der Engelschor bei den Hirten, vor allem die Jungfrauengeburt. Sehr schön erzählt, aber eben erzählt – also Mythologie, nicht Wahrheit. Kann man das schon für einen Theophilus als Erstleser annehmen? War der mit einer Erfindung zu überzeugen, von der Lukas schließlich ganz genau wusste, dass es eine Erfindung war? Dafür spricht, dass Lukas einiges dafür tut, das Ganze historisch abzustützen: durch die Datierung mit Steuerschätzung und historisch verbürgte Namen wie Augustus und Quirinius zum Beispiel. Reichte das?
Oder ist dies falsch gefragt? War sich Lukas sicher, dass seine Geschichte überzeugen würde, weil es der Sinn von Geschichten ist, die Wahrheit mit Erfindung zu mischen? Und Theophilus vielleicht ein Leser/Hörer war, der die Frage nach der historischen Wahrheit der Geburt überhaupt nicht verstanden hätte, weil er gar nicht wusste, wie man sie anders hätte darstellen sollen als mit einer erfundenen Geschichte? Wie hätte man da Augenzeugen beibringen können? Aber geboren worden war dieser Jesus Christus. Warum dann nicht diese Geburt so darstellen, dass sie »zeigte«, worauf alles ankam. Natürlich nicht in irgendeiner Unsinnsgeschichte à la Zeus und Co., sondern einer wahrscheinlichen. Die auch noch auf einer Voraussage beruhte, nämlich dem Geburtsort Betlehem. Da konnte man sich doch den Rest leicht ausdenken. Wahrscheinlich war es ohnehin so gewesen, jedenfalls so ähnlich. Wie denn sonst? Lukas, der gebildete Jude im 1. Jahrhundert n. Chr., weiß, dass es eine geschichtliche Wahrheit gibt, auf die alles ankommt – und eine Erzählung dieser Wahrheit, die durch Erfundenes gestützt wird.
Was ich noch einmal unterstreichen möchte: Lukas bietet in seinem Evangelium und seiner Apostelgeschichte Grundlagen des christlichen Glaubens. Dazu erzählt er: einerseits historisch Wahres, andererseits mythologisch Wahres. Die Trennlinie, auf die es uns heute oft ankommt, zieht er nicht. Mythologisches und Historisches gehen ineinander über, wie sie (im Alten Testament) schon immer ineinander übergegangen waren. Selbst der für das Judentum so wichtige Auszug aus Ägypten hält historischer Nachprüfung nicht stand, wie der israelische Archäologe Israel Finkelstein mit seinen Ausgrabungen belegt hat: Keine einzige Scherbe im Wüstensand ließ sich finden. Die anschließend in der Bibel genannten Städte existierten erst Jahrhunderte später, die Mauer von Jericho musste nicht durch den Klang von Trompeten zerstört werden, weil Jericho überhaupt keine Mauern besaß. Die biblischen Geschichten sind in der Regel überwiegend (aber eben nicht nur, was die Sache so schwierig macht) mythologisch, was für Finkelstein ihren Wert in nichts schmälert. Denn diese Geschichten dienten dem Glauben an Jahwe und sein auserwähltes Volk. Die Bibel ist kein Geschichtsbuch, sondern enthält anhand historischer Bezüge eine Anweisung für jüdisches Leben, vor allem für das immer wieder verlorene Vertrauen in diesen Jahwe, der dann stets zur Strafe schritt.
Ob nun Lukas selbst Jude war, ob er den mythologischen Charakter der alttestamentlichen Geschichten durchschaute oder nicht: Er trägt selbst die Wahrheit in Form von Geschichten vor, auch neben schlicht Historischem wie den Reisen von Paulus mit ihren vielen Widrigkeiten oder dessen Aufenthalt in einer römischen Mietswohnung. Letztlich gibt es für ihn nur ein Ziel: Er will sagen, dass mit diesem Jesus der Erlöser erschienen ist, Gottes Sohn, dessen Leben und Taten mittlerweile mit Recht verbreitet werden. Wie aber kann man so viel Unglaubliches glauben? Eben, normalerweise überhaupt nicht. Es muss also nachgeholfen werden. Und helfen können gut erdachte Geschichten, sehr gut erdachte. Die am allerbesten erdachte ist die Weihnachtsgeschichte, Lukas’ Meistererzählung, heute vielleicht diejenige biblische Geschichte im Rahmen