Weihnachten. Karl-Heinz GöttertЧитать онлайн книгу.
Womit sich die Quiriniusgeschichte gut zehn Jahre später in Luft auflöst. Wer die Geburt von Jesus datieren will, muss sich also entweder an Matthäus mit seinem Herodes oder an Lukas mit seinem Quirinius halten – und jeweils die Konkurrenz vergessen. Wie kann man sich diesen Widerspruch erklären und vor allem auflösen?
Es ist völlig klar, dass es Lukas in erster Linie auf die Geburt in Betlehem ankam, weil »Betlehem-Efrata« nun einmal vom Propheten Micha (Mi 5,1) als die Geburtsstadt des Messias »vorausgesagt« war. Lukas spricht von Betlehem als der »Stadt Davids«, ist aber auch hier nicht ganz genau, denn die »Stadt Davids« war eigentlich Jerusalem, Betlehem nur der Ort von Davids Herkunft, wo er als Hirte lebte. Aber die Familie von Jesus stammte eben aus Nazaret, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach auch tatsächlich geboren wurde. Markus sagt es und Matthäus behauptet sogar nicht ohne Dreistigkeit (Mt 2,23), es gebe dazu eine Voraussage im Alten Testament, die er ohne nähere Namensnennung auf »die Propheten« zurückführt – unter denen sich kein einziger als Quelle gefunden hat. Jesus galt jedoch immer als »Nazarener«, für die Juden übrigens ein Grund, ihn nicht als den Messias anzuerkennen, weil der nicht aus Galiläa, sondern aus Judäa mit seiner Hauptstadt Jerusalem stammen musste. Andererseits war die Abstammung aus Nazaret schon deshalb glaubhaft, weil sie so unwahrscheinlich ist – Nazaret muss wirklich ein Kaff gewesen sein.
Es bedurfte also einer schon sehr einleuchtenden Motivation, um die lange und beschwerliche Reise über ungefähr 100 Kilometer anzutreten – mit einer Hochschwangeren. Diese Motivation leistete eben die mit der Volkszählung verbundene Steuerschätzung, die allerdings nicht nur wegen des Quirinius-Herodes-Widerspruchs schwierig ist. Denn dass »jeder in seine Stadt« gehen musste, wie es bei Lukas heißt, ist wieder schlicht unhistorisch, weil Maria und Josef im galiläischen Nazaret vom Provinzialzensus in Judäa gar nicht betroffen waren. Selbst wenn Josef in Jerusalem ein Haus besessen hätte, hätte er nur selbst hinreisen müssen, keineswegs aber Maria. Die schöne historische Fixierung von Lukas bricht also wieder einmal zusammen. Klar ist demgegenüber, dass Lukas die Ereignisse datieren will, weil die Wahrheit über den christlichen Glauben letztlich an der historischen Wahrheit dieses Lebens hängt. Die vielen kleinen Widersprüche wird niemand bemerkt haben, weil die genauen Abläufe fast drei Menschenalter später schlicht vergessen waren.
Die Geburtsgeschichte
Damit kommen wir endlich zur Geburtsgeschichte selbst (Lk 2,1–21). Lukas hat viel (wenn auch letztlich vergeblich) für die Datierung des Jahres getan, aber nichts für den genauen Tag. Die gesamte Ausmalung der Szene mit den Hirten auf den Feldern spricht für alles andere als den heutigen Feiertermin am 25. Dezember, zu dem es selbst in Palästina zu kalt ist, um sich draußen aufzuhalten. Lukas schweigt einfach und lässt stattdessen wieder einmal einen Engel auftreten, nicht Gabriel, sondern einen Ungenannten, der aber offenbar genügt, um die Hirten so sehr zu erschrecken, dass sie beruhigt werden müssen: »Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr« (Lk 2,10 f.). Worauf der Engel auch noch sagt, wo sie das Kind finden können: nämlich bei seinen Eltern, in Windeln gewickelt in einer Krippe. Daraufhin verwandelt sich die Szenerie in eine große Oper – ein himmlisches Heer tritt auf und jubiliert: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens« (Lk 2,14). Die Hirten laufen also los, finden alles wie angekündigt und berichten darüber denen, die sie anschließend treffen. Ende der Geburtsgeschichte.
Sind wenigstens in diesem Fall die Details stimmig? Ja, durchaus, es gibt keine Widersprüche. Dafür wie immer Vorbilder. Die Krippe bzw. den Futtertrog im Stall hat Lukas eingeführt, um einen größtmöglichen Gegensatz von weltlichem Herrscher und Gottessohn zu erzeugen, auch im Hinblick darauf, dass der Erlöser keine »Herberge« findet, vielmehr in der jüdischen Umgebung abgewiesen wird. Die Windeln stehen für die ganz normale Geburt, der Erlöser ist eben nicht vom Himmel gefallen oder sonst wie »geschaffen«, sondern wirklich Mensch geworden, braucht Windeln wie jedes Kind. Und die Hirten? Hirten gehörten nach der damaligen Sozialleiter auf die unterste Stufe, zählen also zu Lukas’ Lieblingen. Sie sind offenbar befähigt, das Ereignis zu verstehen – nach entsprechender Ansprache von oben. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass Lukas ein gebildeter Hellenist ist und für den vielleicht noch gebildeteren Theophilus schreibt, könnte man daran denken, dass er die Szene mit einem literarischen Kolorit ausstatten wollte, das nahelag. Als Vergil in der vierten Ekloge seiner Hirtengedichte die Geburt eines Herrschers ankündigte, der ein Goldenes Zeitalter einleiten wird, ist die Umgebung ebenfalls »bukolisch« geprägt, spielt also im Hirtenmilieu, weil Goldenes Zeitalter und Einfachheit zusammengehören – als Gegenbild zu den Zivilisationsexzessen im hochentwickelten Römischen Reich.
Andererseits bewegt sich Lukas ganz in der Tradition des Alten Testaments, wenn er den Hirten ein »Zeichen« geben lässt, wie es immer bei besonderen Anlässen der Fall war. Man kann ihm höchstens vorwerfen, dass er bei der Szenerie noch nicht an Ochs und Esel dachte, die später hinzuerfunden wurden, weil sie perfekt zu einer Vorausdeutung beim Propheten Jesaja passen: »Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht« (Jes 1,3). Lukas fährt fort mit dem, was nach einer Geburt im Judentum gesetzesgemäß notwendig ist: mit der Beschneidung und Reinigung – davon war schon die Rede. Bei dieser Schilderung wird wieder einmal deutlich, dass Lukas sich in den jüdischen Gebräuchen schlecht auskennt. So spricht er von »ihrer« Reinigung im Plural, obwohl nach dem jüdischen Recht nur die Frau dieser Reinigung nach der »unrein« machenden Geburt bedarf – im damaligen griechischen Recht sind es übrigens wirklich beide. Und auch das bei der Reinigung übliche Opfer (zwei Tauben statt des Lamms, das Reiche darzubringen hatten) scheint Lukas mit dem weiteren Opfer von fünf Schekeln durcheinanderzubringen, die dazu dienten, den Sohn bei der Darstellung »auszulösen«, weil jede männliche Erstgeburt ansonsten zum Dienst im Tempel bestimmt war.
Aber es kam Lukas offenbar bei der ganzen Prozedur ohnehin weniger auf die jüdischen Bräuche an als auf ein dabei sich vollziehendes Ereignis, das wieder einmal perfekt ausgedacht sein dürfte. Es taucht nämlich der greise und blinde Simeon auf, dem der Heilige Geist versprochen hatte, er werde vor seinem Tod den Messias sehen. Simeon erkennt das Kind trotz seiner Blindheit sofort, lobt Gott wieder in einem berühmten Lobgesang (dem Nunc dimittis, ›Nun, Herr, entlässt du mich in Frieden‹, ebenfalls einer Collage aus dem Alten Testament, speziell aus dem Propheten Jesaja) für die Erfüllung des Versprechens und kündigt der verdutzten Maria das einstige bittere Ende an. Auch die greise Prophetin Hanna, die sich täglich im Tempel aufhält, kommt hinzu und versteht, was hier vorgeht. Rembrandt hat die eindrucksvolle Szene mehrfach als Motiv gewählt, weil ihn offenbar die Darstellung des Blinden reizte.
Rembrandt van Rijn: Simeon mit dem Jesusknaben auf dem Arm, um 1661
Dann springt Lukas zu zwei Ereignissen, die schon weit von der Geburt entfernt liegen. Zuerst schildert er den spektakulären Auftritt des zwölfjährigen Jesus im Tempel, der plötzlich verschwunden ist und den die besorgten Eltern dabei wiederfinden, wie er die »Alten« belehrt – und die Eltern wegen ihrer verständlichen Sorge einigermaßen derb zurechtweist. Der nächste Abschnitt behandelt dann die Taufe durch Johannes im Jordan mit ungefähr dreißig, und zwar ganz nach Markus unter Mitwirkung des Heiligen Geistes, der aus dem sich öffnenden Himmel in Gestalt einer Taube herabkommt, wozu eine Stimme sagt: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden« – was direkt aus dem Propheten Jesaja (Jes 44,1) stammt, wo es auf Israel, den »Gottesknecht«, gemünzt ist. Diese Passage ist immer eng mit einer anderen Stelle in Verbindung gebracht worden, nämlich mit der Formulierung »Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt« aus Psalm 2,7 – möglicherweise überhaupt die ursprüngliche Version. Immerhin beginnt die Kirche nach Ausformung der Liturgie in der Spätantike die Mitternachtsmesse von Weihnachten mit diesem Psalmvers. Nicht zufällig. Denn dem Geburtsfest, das wir heute so selbstverständlich mit Weihnachten als der Geburt des Menschen Jesu verbinden, ging einmal ein ganz anderes Geburtsfest voraus, dem die Vorstellung zugrunde lag, dass die eigentliche, nämlich göttliche Geburt Jesu mit der Taufe zustande kam. Dies wird uns noch näher beschäftigen.