Tatort Nordsee. Sandra DünschedeЧитать онлайн книгу.
es dunkel um ihn.
4
August und Henrike hatten es tatsächlich noch zu dem gemeinsamen Glas Wein geschafft. Er war gut gewesen (der Wein), und am nächsten Morgen stand August gegen 6 Uhr wieder im Melkstand. Er hatte seinem Vater gesagt, er solle liegen bleiben, da es am Abend vorher sicher spät werden würde. Die Vorstellung der Heimatbühne hatte, Pause eingerechnet, bis weit nach zehn gedauert, und meistens trifft man in einer kleinen Stadt ja noch den ein oder anderen Bekannten. Augusts Eltern lagen in der Regel zwischen neun und halb zehn im Bett, jetzt im dunklen Herbst sowieso, da war ein Nachhause-Kommen kurz vor Mitternacht die absolute Ausnahme, über die man noch lange würde reden können. Er war sich dennoch sicher, dass sein Vater früher oder später auftauchen würde. Nach so vielen Jahrzehnten des Daseins als Bauer war ihm das morgendliche Melken in Fleisch und Blut übergegangen. Augusts Vater konnte nicht anders – und hätte es als bedrohliche Alterserscheinung empfunden, morgens das Melken zu versäumen. Warum auch, dachte er, sollte er sich – obwohl er noch mitanpacken konnte – hinsetzen und Däumchen drehen? August und Henrike versuchten ihm immer wieder klarzumachen, dass er sich vielleicht am Ende doch ärgern würde, wenn er immer nur gearbeitet und nicht auch noch ein wenig den Lebensabend genossen hätte. Dazu meinte der alte Saathoff, die Arbeit auf dem Hof sei »sein Leben« und nichts genösse er mehr als diese. Aber er unternahm nun gelegentlich Dinge mit seiner Frau, die er früher nie gemacht hatte, eben – wie am Abend zuvor – mal zur Heimatbühne gehen (»dat word laat, dat word laat« – seine Sorge über den langen Abend war gegen die Vorfreude auf das Theaterstück in der Stadt kaum aufzuwiegen).
Nach dem Melken wollte August zu seinem neu gepachteten Ackerland fahren. Wieder hatte ein Bauer im Polder aufgegeben – auch eine Folge der Politik, die immer noch auf zunehmend größere Einheiten setzte, wobei die Kleinen kaputtgingen, wenn sie sich nicht ganz besonders spezialisierten. Einige Biohöfe fristeten ihr Dasein, nur wenigen ging es finanziell wirklich gut. Die konnten es sich leisten, die Kühe, Schweine und Hühner frei rumlaufen zu lassen und damit zu werben – aber dementsprechend waren die Erzeugnisse für den Durchschnittsbürger auch kaum bezahlbar, wie August immer wieder betonte, wenn es sich um dieses Thema drehte. Er selbst war konventioneller Landwirt mit der festen Überzeugung, ökologischer zu sein als mancher, der sich so bezeichnete. Das war seine Meinung. Da hatte Wiard andere Ansichten. Aber diese Gedanken flogen ihm während des Melkens nur so zeitweise durch den Kopf. Wie sie eben kommen und gehen, wenn man gerade etwas ganz anderes macht. Eigentlich wollte er überlegen, was er zu seinem neuen Pachtland mitnehmen sollte, schließlich musste es für das Frühjahr so fit gemacht werden, dass er darauf aussäen konnte, und da war noch einiges vorzubereiten.
Auf dem Weg dorthin würde er kurz bei Wiard vorbeischauen, der nicht viele Leute im Polder hatte, mit denen er ernsthaft reden konnte. Und das tatsächlich besonders, seitdem er nicht mehr beim Finanzamt arbeitete. (»Da kannst mal sehen, worauf viele Leute ihre Urteile über andere gründen«, hatte er zu August gesagt. Dem war dabei ein Licht aufgegangen.) Aber Wiard hatte natürlich damals auch den Lohn- oder Einkommensteuerantrag einiger Polderbewohner auf den Tisch bekommen, was für fast alle der Anlass war, sich zwar mit ihm gut zu stellen, aber dennoch sehr zurückhaltend zu sein. Sie wussten nicht, für welche Buchstaben im Alphabet er zuständig war, und wenn er vielleicht nicht direkt ihre Anträge bekam, so kannte er ja doch die Kollegin oder den Kollegen (»Also, der Lüpkes weiß doch, dass das Zimmer, dass ich jedes Jahr als Arbeitszimmer absetze, nichts anderes ist als unsere Wäschekammer …«). Wiard hatte zwar öfter erklärt, dass er ohnehin über keinerlei Handhabe verfüge angesichts strenger Richtlinien und Maßstäbe der Finanzverwaltung (auch wenn immer wieder welche gekommen waren, etwa beim Sportfest, und Wiard einen ausgaben mit den nur wenig später folgenden Worten: »Du Wiard, du büst doch bi’t Finanzamt, kannst du neet so ’n bittje doran dreihen, dat ick neet jümmers so vööl Stüern betalen mutt, ik hebb da ’n Idee …«). Auch das hatte er schließlich aufgegeben. Den Leuten zu erklären, dass das eben doch kein Selbstbedienungsladen sei, der für die, die Beziehungen haben, mehr Kohle lockermache als für andere, dazu hatte er einfach keine Lust mehr. Gleichwohl wusste Wiard tatsächlich über die finanziellen Verhältnisse einiger Polderbewohner ganz gut Bescheid, hatte zwar Stillschweigen darüber zu bewahren, aber einige trauten ihm eben bis heute nicht. Seitdem er nun nicht mehr Amtmann war (nach den Sportfesten war er tatsächlich ein ums andere Mal voll wie ein Amtmann gewesen …), sondern freien Tätigkeiten mehr oder weniger nach Lust und Laune nachging, er außerdem besagte Hobbys weiterentwickelte, die in der Allgemeinheit des Polders und darüber hinaus eher als ›spinnert‹ abgetan wurden (»wat kann man dor mit denn anfangen?«), steckte er nun in einer Schublade. Und aus einer solchen kam er für die meisten Polderbewohner nicht mehr raus. Dazu beigetragen hatte wohl auch sein wachsendes Interesse an fernöstlichen Religionen, das wiederum auf sein Äußeres Einfluss nahm. Das kam nicht bei jedem gut an im Polder (»Kiek, Bhagwan ist weer unnerwegens …«, spottete manch einer), andere ignorierten es.
August und Henrike hatten den Kontakt nicht einschlafen lassen. Sie hatten sich mit Wiard während seiner Amtszeit gut verstanden, und das sollte sich nicht ändern – schließlich hatte jeder das Recht, sich für andere Wege zu entscheiden. Wiard war vielleicht kein Freund, aber ein guter Bekannter, der, solange er es umgekehrt genauso hielt, nicht einfach links liegen gelassen werden sollte. Außerdem hatte er immer eine Menge interessanter Dinge zu erzählen. Er war stets auf dem neuesten Stand der Politik und hatte auch sonst »viel Ahnung«, wie August betonte (»der hat ja auch die Zeit dazu, Zeitungen und Bücher zu lesen …«). Augusts Kinder mochten Wiard. Freerk meinte, der, ja, der hätte wenigstens mal Ahnung. August beeindruckte diese sich völlig von der Sichtweise vieler Polderbewohner unterscheidende Haltung seines Sohnes.
August Saathoff stieg gegen 10 Uhr auf seinen Deutz-Schlepper und startete den Motor. Er schaltete auf der gut ausgebauten Zuwegung zur Hauptstraße schnell in den dritten Straßengang, stellte das Radio an, wippte ein paar Mal in dem gefederten Sitz auf und ab und dachte: Tolle Maschine. Ihm fiel der alte Witz ein, in dem ein Autofahrer mehrfach seinen Händler aufsucht, weil sein Motor immer schon nach der ersten Fahrt kaputtgeht. Nachdem dieser ihm das dritte Auto mitgibt (»sie haben ja noch Garantie …«), will er dann doch wissen, wie der Mann denn fahre. Da erklärt der andere, dass er ganz normal anfahre, dann hoch schalte, erster, zweiter, dritter Gang. Dann in den vierten und wenn das Auto dann richtig schnell wäre, dann würde er auf ›R‹ – den Ralleygang – schalten. Mann, hatte der ’n Bart, aber August musste immer wieder darüber lachen. Auf Plattdeutsch machte er sich allerdings am besten, etwa, wenn Hannes Flesner ihn erzählte, auf einer dieser alten Platten.
Auch den Schlepper hatte August vor nicht allzu langer Zeit angeschafft. Günstige Konditionen bei der Bank, da er trotz der schon erheblichen Investitionen in den Hof und den neuen Kuhstall nebst Melkstand bereits ordentlich gezahlt hatte. Nun war er optimal ausgerüstet, und auf diesbezügliche Bemerkungen erwiderte er nur: »Und bis ans Lebensende verschuldet bis über beide Ohren …« (»Ach, macht dir doch nichts, Landwirte verdienen doch mindestens 135.000 netto«, ärgerte ihn sein Nachbar immer wieder, wenn sie im Dorf oder auch über die Hecke hinweg sprachen. Das Ganze endete meistens bei einem Bier im Garten und einem »Mit der Hälfte bräuchte ich mir schon keine Sorgen mehr machen« von August.)
Nach knapp zehn Minuten kam er an Wiard Lüpkes’ Haus vorbei. Er verlangsamte die Fahrt und hielt schließlich am Straßenrand. Das Haus verfügte über eine breite, stabile Zufahrt, aber August wollte sich nicht lange aufhalten und sparte sich ein Ein- und Ausfahrtmanöver. Kurz überlegte er sogar, ob er den Motor laufen lassen sollte, aber die Zeiten waren nun endgültig vorbei, der Klimawandel ließ grüßen, und es war auch nicht mehr notwendig, zumindest nicht aus Gründen des Nicht-wieder-Anspringens. Der Deutz lief immer an, auch bei extremen Minusgraden, wenn es die denn mal gab (»wor’t doch immer warmer bi de Treibhauseffekt …«).
Wiard hatte Augusts Ankunft bemerkt und stand schon vor der Tür, als Letzterer sie erreichte. Das kleine Landhaus war knapp 80 Jahre alt, von der Form her wie ein alter, großer friesischer Hof gebaut, aber eben in sehr kleiner Ausführung: vorne das Wohn-, hinten das Stallgebäude, roter Klinker, rote Dachziegel, weiße Fenster, »alles Thermopane, eingesetzt, als ich noch Amtmann war«, wie Wiard zu betonen pflegte. Dabei sprach er das ›Thermopane‹ wie sein verstorbener