Blackout, Bauchweh und kein' Bock. Timo NolleЧитать онлайн книгу.
für das beschriebene Problem-Erleben des Klienten entsteht eine Wahlmöglichkeit. Die Deutungshoheit liegt nicht einseitig beim Therapeuten. Nicht der Therapeut sagt, was die Ursache ist, sondern der Klient wird in den hypothesengenerierenden Erklärungsprozess miteinbezogen.
Die Interventionen in diesem Buch sind quasi interaktiv aufgebaut und auf die Stärkung der Selbstbestimmung ausgerichtet. Sie enthalten viele Elemente, in denen die Klienten entscheiden, wie es weitergeht, oder sie geben Rückmeldung zur Wirkung und nehmen damit Einfluss auf den weiteren Verlauf.
1.5.2Kompetenz- und Selbstwirksamkeits-Erleben
Die Begriffe Kompetenz- und Wirksamkeits-Erleben beschreiben das Erleben, erfolgreich bestimmte wichtige Aufgaben erfüllen zu können und wirksamen Einfluss auf die Umwelt zu nehmen; oder dass die dafür nötigen Kompetenzen in der Zukunft durch Training, Üben oder Lernen erworben werden können. Dies führt dazu, dass Menschen Herausforderungen aufsuchen, in denen sie sich und ihre Fähigkeiten erproben, entdecken und weiterentwickeln können. Kompetenz-Erleben ist eng verwandt mit dem Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung (s. S. 99) von Bandura (1977). Die Selbstwirksamkeitserwartung beschreibt, dass sich eine Person selbst etwas zutraut und dass in Anbetracht ihrer verfügbaren Kompetenz Erfolge zu erwarten sind. Davon hängt ab, ob eine Handlung überhaupt begonnen wird, wie viel Mühe investiert wird und mit welcher Ausdauer die Handlung durchgeführt wird, wenn Schwierigkeiten und Misserfolge auftreten. Sich kompetent und wirksam im Blick auf bestimmte Aufgaben zu erleben erzeugt in gewisser Weise ein Machtgefühl: Man kann etwas kontrollieren und ist nicht hilflos.
Um Kompetenz-Erleben und Selbstwirksamkeitserwartung zu fördern, ist es nützlich zu wissen, dass diese wesentlich mit der Erfahrung früherer Erfolge und der Wahrnehmung von sich selbst als Verursacher dieser Erfolge zusammenhängen. Wenn stärkende Erinnerungen an frühere Erfolge und die damit verbundenen Ressourcen präsent sind, können diese auf eine zukünftige Herausforderung übertragen werden.
Ein Beispiel: Jemand denkt an ein bevorstehendes Referat. Das damit verbundene Kompetenz-Erleben hängt mit der Erinnerung an frühere Referate in der Vergangenheit und der dabei erlebten Kompetenz zusammen. Je intensiver die eigene Kompetenz bei diesem früheren Erfolgserlebnis mental und körperlich wiedererlebt werden kann, desto intensiver wird auch das Kompetenz-Erleben bzgl. der bevorstehenden Herausforderung.
Das Mentale-Stärke-Training (s. S. 119) in PAC ist daher nur zu einem Teil mental. Die Erinnerung an frühere Kompetenzsituationen wird real, körperlich nachgespielt und demonstriert, weil Erleben nicht nur im Kopf abläuft, sondern auch eine körperliche Erfahrung ist.
1.5.3Soziale Eingebundenheit und Beziehung erleben
Das Erleben sozialer Eingebundenheit und Beziehung beschreibt nicht nur die formale Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sondern das Erleben, dass man selbst für andere Personen wichtig ist und dass andere Personen einem selbst wichtig sind. Dies führt auch zu einem Gefühl der Sicherheit, weil man nicht mehr alleine alles im Blick haben muss.
Das Gegenteil von sozialer Eingebundenheit ist nicht Alleinsein, wie oft vermutet wird, sondern Einsamkeit. Alleinsein ist eine Zustandsbeschreibung und wird von vielen Menschen als angenehm erlebt, wenn es sich mit Phasen des Zusammenseins abwechselt. Einsamkeit hingegen beschreibt das negative Gefühl des emotionalen Getrenntseins von anderen Menschen. Wer alleine einen Wanderurlaub unternimmt und tagelang keine anderen Menschen sieht, dem fehlt vielleicht irgendwann der Austausch, ein negatives Einsamkeitsgefühl entsteht deswegen aber nicht zwingend. Wer jedoch in einer Gruppe von Menschen glaubt, sich verstellen zu müssen, und Angst hat, sich zu zeigen, wer seine Fehler um jeden Preis zu verbergen versucht, erlebt Einsamkeit. Einsamkeit findet in Gruppen statt!
Evolutionär und biologisch betrachtet ist der Mensch auf andere Menschen angewiesen. Wir sind gewissermaßen Herdentiere. Die Angst vor sozialem Ausschluss ist eine Urangst, die sich sogar neurobiologisch zeigen lässt. Das Gehirn von Menschen, die soziale Exklusion erleben, reagiert auf dieses Erleben mit einem fast identischen neuronalen Reaktionsmuster wie beim Erleben von körperlichen Schmerzen (Eisenberger, Lieberman a. Kipling 2003).
Auch für Lern- und Leistungskontexte spielt das Erleben sozialer Eingebundenheit eine wichtige Rolle. In Studien konnte gezeigt werden, dass die soziale Integration von Studierenden untereinander und zu den Lehrenden mitentscheidend für den Studienerfolg ist (Tinto 1975; Heublein et al. 2017; Heublein u. Schmelzer 2018; Röwert et al. 2017).
1.6Selbstbestimmung als Ziel und Prozess
Wenn sich Menschen in ihren Entscheidungen autonom erleben, wenn sie das Gefühl haben, die anstehenden Aufgaben erfüllen zu können, wenn sie in diesen Aufgaben einen Sinn sehen und sich dabei in Beziehung mit anderen erleben, dann ist das positiv für Lern-, Leistungs- und Entwicklungsprozesse und genauso für jede Form von Beratung. Menschen, die wegen Schwierigkeiten in Lern- und Leistungssituationen Unterstützung suchen, erleben oft einen Mangel hinsichtlich einem oder sogar hinsichtlich aller drei Grundbedürfnisse (Autonomie, Kompetenz sowie soziale Eingebundenheit und Beziehung).
Ein Ziel der Beratung besteht daher darin, diese Grundbedürfnisse in den Lern- und Leistungssituationen und in anderen damit verbundenen Lebenssituationen zu stärken. Das Prüfungscoachings zielt u. a. darauf ab, die Vorstellung der belastenden Situation und zugleich das Erleben von Selbstbestimmung zu aktivieren. Die Person kann sich innerlich der Prüfung nähern und bleibt im Vollbesitz ihrer Ressourcen und Kompetenzen – sie schrumpft nicht innerlich bei dem Gedanken an die Prüfung.
Die drei psychologischen Grundbedürfnisse stellen hierfür eine Art Treppengeländer für Berater und auch Lehrpersonen dar. Sie brauchen sich davon nur führen lassen, dann geht es bergauf.
1.7Erleben verstehen
Wenn Menschen zum Prüfungscoaching kommen, befinden sie sich meist in einem speziellen Zustand des Erlebens (Angst-Erleben), den sie verändern möchten. Auf Basis der ericksonschen Hypnotherapie (Erickson u. Rossi 1993) wird davon ausgegangen, dass jedes Erleben psychophysiologisch autonom konstruiert wird und zwar durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einen Ausschnitt dessen, was war und was ist, oder eine Vorstellung dessen, was in Zukunft sein könnte. Erleben ist das Ergebnis von Aufmerksamkeitsfokussierung. Bei einer Fokussierung wird nicht nur ein Teil scharf gestellt, entscheidend ist auch, dass andere Teile unscharf gestellt werden und somit weniger wahrgenommen werden. Im Englischen gibt es den passenden Ausdruck »to pay attention«. Aufmerksamkeit ist etwas, das man vergeben und verteilen kann. Es ist ein endliches Gut. Wer viel Aufmerksamkeit auf eine Stelle konzentriert, hat weniger Aufmerksamkeit an anderer Stelle.
Die Aufmerksamkeitsfokussierung bestimmt nicht nur die aktuell erlebte Gegenwart, sondern auch das aktuell erlebte »Ich«, das aktuelle Identitäts-Erleben. Wenn jemand beschreibt, welche furchtbare Angst er vor der nächsten Prüfung hat, dass er schon beim Lernen Bauchschmerzen bekommt und nachts nicht schlafen kann und dass die Prüfung unglaublich schwer und deshalb unmöglich zu schaffen ist, dann ist diese Beschreibung des Erlebens keine naturgetreue Abbildung der Realität im Sinne von einer objektiven Wahrheit. Es ist das Ergebnis einer autonomen Auswahl an Sinneswahrnehmungen, denen eine bestimmte Bedeutung verliehen wird. Menschen erzeugen ein Erleben, in welchem sie sich so vorkommen, als seien sie den Umständen ausgeliefert (Schmidt 2016), obwohl sie selbst Urheber dieses Erlebens sind (Varela, Maturana u. Uribe 1974).
Problem-Erleben, und hier im Speziellen Prüfungsangst, ist Ausdruck einer musterhaften Vernetzung von Erlebniselementen, die sich wechselseitig bedingen, stabilisieren und verstärken. Dieses Erleben muss in der Beratung in einer stärker würdigenden Weise als die subjektive Wirklichkeit angesehen werden, denn die Studierenden erleben sich gleichsam als Teil dieser Wirklichkeit.