Schulverweigerung als Entwicklungschance?. Johanna KinigerЧитать онлайн книгу.
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Abb. 2: Prozessmodell „systemische Schleife“ (nach Königswieser/Exner 2002, S. 24)
Die Ursachen für Schulverweigerung können vielfältig sein. Die Türöffner sind konkrete Auslöser oder besondere Situationen. Sie öffnen in der zirkulären Schleife die Tür für neue Entwicklungen und Veränderungen. Sie laden zur Entscheidungsfindung und zu aktivem Handeln ein. Türöffner lösen Suchprozesse und Dynamiken aus. Das alte Muster, das zirkuläre Wirkungs- und Beziehungsgeflecht sowie die Kreisdynamik werden durch Türöffner durchbrochen und kreative und individuelle Lösungsfindungsprozesse initiiert (vgl. MACK 2016, S. 1 ff.).
Dysfunktionale Strukturen sind Teil einer Entwicklung (vgl. Bührmann 2017, S. 167 ff.). Wenn sich Lösungsversuche zu erstarrten Handlungsroutinen verfestigen, werden sie zu Lösungen erster Ordnung (vgl. Watzlawick/Weakland/Fisch 2013, S. 59 ff.) und zugleich Teil des Problems. Es entwickelt sich eine Dysfunktionalität. In dieser Wirkungsschleife bedarf es einer Verstörung (Perturbation), um Veränderungen auszulösen. Schulverweigerung kann als Störung auf diesen Gleichgewichtszustand eines Systems wirken und erforderliche Veränderungen und Prozesse auslösen, um einen neuen Gleichgewichtszustand herzustellen und neue Entwicklungs- und Veränderungsräume zu schaffen (vgl. Bührmann 2017, S. 167 ff.).
3.4 SCHULTHEORETISCHE ASPEKTE UND SCHULVERWEIGERUNG
Die Schultheorie beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Ausformungen und Fundamenten des schulischen Handelns (vgl. Winkel 1997, S. 22 ff.). Die Schule hat u. a. den gesellschaftlichen Auftrag Kenntnisse und kulturelle Werte zu vermitteln, gleichzeitig aber auch als pädagogische Einrichtung zu fungieren (vgl. Ricking/Dunkake 2017, S. 25 f.). Die schultheoretischen Ansätze befassen sich auch mit den strukturellen Problemen des Schulsystems. Der Entwicklungsstand und die Erfahrungs- bzw. Lebenswelten der Schüler*innen sind sehr unterschiedlich.
Durch Überforderungssituationen, Informations- und Reizüberflutung reagiert das Gehirn durch Distanz und Ausblenden von Dingen. Die Personen stehen „neben sich“. Dieses Phänomen nennt sich Dissoziation. Schüler*innen und Lehrpersonen treten in solchen Situationen emotional aus dem schulischen Geschehen heraus, um sich zu schützen und einen Überblick zurückzugewinnen. In diesem Trancezustand können auch die Ressourcen und Kompetenzen vorübergehend verschwinden (vgl. Herrmann, 2018, S. 120).
Ein strukturelles Grundproblem der Schule scheint zudem die fehlende oder geringe Passung zwischen den Erwartungen und Bedingungen des Schulsystems und den Bedürfnissen der Schüler*innen (vgl. Ricking/Dunkake 2017, S. 26). Die KiGGS- Studie (vgl. Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland 2018, o. S.) belegt, dass 20,2 % der unter 18-Jährigen zur Risikogruppe „psychische Auffälligkeiten“ gehört (vgl. Klipker/ Baumgarten et al. 2018, S. 37 ff.).
Für Groeben haben dauerhafte Versagenserlebnisse schädigende Auswirkungen auf die kindliche bzw. jugendliche Psyche (negatives Selbstkonzept und negative schulische Einstellung) sowie auf die Motivation. Ihrer Meinung nach ist es heutzutage von Schulen zu erwarten, dass die Kinder und Jugendlichen bedarfsgerechte und differenzierte Unterstützungsangebote erhalten, sodass jene Fach-, Sozial- und Selbstkompetenzen ausgebildet werden, die für ein selbstbestimmtes Leben und eine partizipierende Daseinsentfaltung benötigt werden (vgl. Groeben 2011, S. 14 ff.).
Voraussetzung hierfür ist die Passung als Leitziel. Bohnsack spricht von einer unzureichenden „[…] Passung von Institution und Klientel und der mangelhaften ‚Passung‘ von Lerngleichschritt und individuellen Lernmöglichkeiten, Interessen und Bedürfnissen“ (Bohnsack 2013, S. 35).
Für Bohnsack stellt die Schule in ihrer jetzigen Form eine Gefahr für Versagen dar. Die Destabilisierung eines Kindes oder Jugendlichen durch Versagen gehört aufgrund der strukturellen Gegebenheiten zur Regelschule dazu (vgl. Bohnsack 2013, S. 238).
Die Schule verliert durch fehlende Passung viele Schüler. Sie verlieren die Freude am schulischen Tun, sehen keinen Sinn im Lernen und im Erkennen die persönliche Bedeutung von Lernhandlungen nicht (vgl. Helmke 1993 S. 77 ff.).
3.5 INTERDISZIPLINÄRER FORSCHUNGSZUGANG
Die theoretische Verankerung des Themas Schulverweigerung ist in der Wissenschaft noch nicht geklärt (vgl. Wagner 2007, S. 239 ff.).
Dies hängt mit der Komplexität des Phänomens zusammen. Die Thematik tangiert die Disziplinen Sozialpädagogik, Pädagogik, Psychologie, Soziologie sowie Politikwissenschaft. Darum können die Bearbeitung und Auseinandersetzung mit dem Phänomen nur interdisziplinär erfolgen (vgl. Fahrenholz 2015, S. 17).
3.6 AKTUELLE STUDIEN
Die Anzahl der Studien weist darauf hin, dass das Interesse am Thema ab der Mitte der Neunzigerjahre stark angestiegen ist. Das Phänomen Schulverweigerung wird sowohl in der Forschung als auch in der breiteren Öffentlichkeit zunehmend verstärkt analysiert und diskutiert. Aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsmethoden können die Ergebnisse der Studien jedoch nur bedingt verglichen werden (vgl. Goethe 2015, S. 75).
3.6.1 Studien über Mehrfachschwänzer*innen (2007–2012)
Studien aus Deutschland und der Schweiz, die im Zeitraum von 2007 bis 2012 durchgeführt wurden, ergaben, dass durchschnittlich 5–20 % der befragten Schüler*innen
Mehrfachschwänzer*innen, d. h. Schüler*innen die in einem Schulhalbjahr 5 Tage oder mehr schwänzen, sind (vgl. Speck 2017, S. 11).
Abb. 3: Ausgewählte Zahlen zum Schulabsentismus (nach Speck 2017, S. 11)
3.6.2 Explorative Pilotstudie (2016) Häufigkeit und Begründungen für Fehlzeiten
In einer explorativen Pilotstudie (Juni 2016) wurde die Auftrittshäufigkeit von Schulschwänzen, der angstbedingten Schulverweigerung und der Zurückhaltung durch Eltern untersucht. An der schriftlichen Fragebogenerhebung beteiligten sich 872 Schüler*innen aus drei niedersächsischen Sekundarschulen. 75 % der Befragten räumten ein, unautorisierte Fehlzeiten im Laufe des vergangenen Schulhalbjahres aufzuweisen. 66 % sprachen von unautorisierten Fehlzeiten, die in die Kategorie Schulschwänzen fallen. Jeder Dritte gab an, gelegentlich aus Angst (Prüfungsangst, Angst vor Schülern und Lehrpersonen u. a.), die Schule zu verweigern. 40 % der Befragten bestätigten, manchmal den Unterricht zu versäumen, weil sie in der Familie eine pflegende Tätigkeit übernehmen oder die Eltern das Kind oder den Jugendlichen zurückhalten (vgl. Rogge/Koglin 2018, S. 49).
Von den 788 Befragten gab nur jeder Vierte an, einzig aus Krankheitsgründen im vergangenen Schuljahr gefehlt zu haben. 55 % der Kinder und Jugendlichen bestätigten, manchmal nicht krankheitsbedingt gefehlt zu haben. 3,2 % der Befragten gaben an, dass ihre Abwesenheit im Unterricht nie gesundheitliche Ursachen hatte. Als Gründe für die Abwesenheit im Unterricht nannten diejenigen, die zu den Verhaltensmustern der Schulschwänzer zählen, folgendes: Müdigkeit (31 %), Schulunlust (38,3 %), der Unterricht ist langweilig (34,2 %), eine Abneigung gegen Unterrichtsfächer (28,3 %), Hobbys nachgehen (18,8 %), schlechter Unterricht (18,6 %), zu geringe Beachtung von den Lehrpersonen (17,7%), häufiges Fehlen der Lehrpersonen (16,8 %), der Unterrichtsbesuch ist sinnlos (13,6 %) (vgl. Rogge/Koglin 2018, S. 55 ff.).
3.6.3 Pisa Studie (Programme for International Student Assessment) 2012: Vergleich der Studienergebnisse Europäischer Staaten
Das Wirtschaftsprogramm der Europäischen Union –