Schulverweigerung als Entwicklungschance?. Johanna KinigerЧитать онлайн книгу.
kam als mögliche Mitverursacherin hinzu. 1963 lag die erste empirische Studie aus der Pädagogik vor. Klauer untersuchte hierbei Schulpflichtverletzungen auf der motivationalen Ebene (vgl. Fahrenholz 2015, S. 14 f.).
Ab 1970 setzte ein Paradigmenwechsel in der Forschung ein und es entwickelte sich die Erkenntnis, dass Schulpflichtverletzungen multifaktorielle Ursachen zugrunde liegen (vgl. Dunkake 2007, S. 22).
„Die sachliche Struktur des Gegenstandes ist mit vier Dimensionen einzugrenzen: die theoretische Einordnung, die Untersuchungsebene, die theoretische Reichweite und die Methodik.“
(Simonis/Elbers 2011, S. 102)
3.3 THEORIEN ÜBER SCHULVERWEIGERUNG
Die Theorie ist ein System, das aufeinander bezogene Aussagen, Definitionen und Begriffe beinhaltet, Sachverhalte und Erkenntnisse ordnet, Tatbestände analysiert und erklärt sowie wissenschaftliche Prognosen trifft (vgl. Simonis/Elbers 2011, S. 103). Nachdem jede Theorie ihre Wirklichkeit anders konstruiert, ergeben sich konkurrierende Theorien, die sich entweder ergänzen oder gegenseitig in Frage stellen. Dissens und Konsens sind Faktoren, die dialektisch wirken und zu neuen Erkenntnissen führen (vgl. Zima 2004, S. 149).
3.3.1 Kontrolltheorie
Diese Forschungstheorie geht von der Annahme aus, dass die Bindung zu primären Bezugspersonen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung von abweichenden Verhalten, abweichenden Werten und Normen spielt. Ein bedeutender Kontrolltheoretiker war Hirschi. In seinem Werk „Causes of Delinquency“ (1969) entwickelte er die Annahme, dass das Ausmaß der Bindung eines Individuums an die Gesellschaft eine tragende Rolle spielt. Durch Präsenz und die indirekte Kontrolle der Eltern wirkt das „schlechte Gewissen“ im Hinterkopf des Jugendlichen. Dieses hält von abweichendem Verhalten ab (vgl. Dunkake 2010, S. 122 ff.).
Kinder und Jugendliche mit verweigerndem Verhalten brauchen eine klare Grundstruktur und klare Präsenz, auch von Seiten der Lehrpersonen (vgl. Ricking o. J., S. 13).
Michael Wagner, Imke Dunkake und Bernd Weiß führten im Jahre 2004 empirische Analysen durch, bei denen sie Hirschis Annahmen weiterentwickelten und überprüften. Sie stellten hierfür sechs Hypothesen auf. Schulverweigerung zeigt sich vermehrt, wenn:
• die emotionale Bindung zu den Eltern gering ist
• der Erziehungsstil der Eltern inkonsistent oder gewalttätig ist
• die Eltern kaum Supervision mit den Kindern durchführen
• die Eltern wenig in die Schullaufbahn investieren
• das Kind kaum an außerschulischen Aktivitäten teilnimmt
• konventionelle Normen oder Werte kaum internalisiert sind (vgl. Wagner/Dunkake/Weiß 2004, S. 460 ff.).
Die Forscher*innen orientierten sich bei der Analyse an den Ergebnissen der Schülerbefragung des Max-Planck-Instituts Freiburg vom Jahr 1999. Das Ergebnis der empirischen Analysen ergab, im Hinblick auf die Kontrolltheorie, dass Schulverweigerung durch einen defizitären elterlichen Erziehungsstil, geringe elterliche Supervision und schwache Internalisierung von Werten verstärkt wird (vgl. Wagner/ Dunkake/Weiß 2004, S. 460 ff.).
3.3.2 Anomietheorie
Die Anomietheorie geht von der Annahme aus, dass Anomie entsteht, wenn zwischen den gesellschaftlichen Regelungen und den individuellen Bedürfnissen ein Ungleichgewicht herrscht (vgl. Merton 1968, S. 216).
Die These Mertons kann auf die Schulverweigerung transferiert werden. Durch das Auseinanderklaffen von angestrebten individuellen Zielen und gegebenen gesellschaftlichen Strukturen reagieren Individuen mit verschiedenen Anpassungsformen. Diese Anpassungsformen sind die Konformität, die Innovation, der Ritualismus, die Rebellion oder der soziale Rückzug (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 26 f.)
• Konformität (gute Schüler*innen): Gute Schüler*innen sind konform. Sie haben die nötigen Mittel um ihr Ziel (Schulerfolg) zu erreichen (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 27).
• Innovation (aktive Schulverweigerer*innen): Aktive Schulverweigerer*innen streben Bildungserfolg an, aber es fehlen ihnen die legitimen Mittel. Sie bemühen sich darum, andere Wege zu finden, um den Bildungserfolg zu erreichen (z. B. zeitintensiver Nebenjob). Die Schulverweigerung ist ein Nebenprodukt der Diskrepanz zwischen Mittel und Ziel (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 27).
• Ritualismus (passive Schulverweigerer*innen): Passive Schulverweigerer*innen erkennen den Zweck eines Schulbesuchs nicht. Sie gehen aus Gewohnheit zur Schule (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 27). Oft werden passive Schulverweigerer*innen zu aktiven Schulverweigerer*innen (vgl. Schreiber-Kittl/Schöpfer 2002, S. 82).
• Rebellion (Schulverweigerer*in aus Protest). Die Schulverweigerung gilt als Protest gegenüber den Mitteln oder Zielen der Schule. Die Rebellen suchen nach alternativen Mitteln und Zielen. Schulverweigerung ist der Ausdruck von Unzufriedenheit (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 27).
• Sozialer Rückzug (totale Schulverweigerer*in): Für Merton ist totale Schulverweigerung durch sozialen Rückzug gekennzeichnet. Die totale Schulverweigerer*in befindet sich in einem Zustand der Lethargie. Es werden keine Alternativen gesucht und der soziale Rückzug kann mit Frustrationserlebnissen einhergehen (vgl. Dunkake/Wagner et al. 2015, S. 27).
3.3.3 Subjektive Theorie
Die Subjektive Theorie rekonstruiert die Innenansichten von Menschen und geht von der Annahme aus, dass die Befragten auch zur Erkenntnis fähig sind, nicht nur die Forschenden. In der ersten Phase finden Interviews statt, wobei die Befragten als Experte*innen fungieren. Dann folgt die Transkription der verbalisierten Inhalte. In der zweiten Phase werden die Inhalte zusammengefasst und miteinander logisch in Verbindung gebracht. Von der forschenden Person wird im gesamten Forschungsverlauf absolute Neutralität verlangt. Die Subjektive Theorie ist für Dunkake eine innovative Methode, mit dem Ziel strukturelle Abfolgen aus der Sicht der Befragten zu erheben. Sie eignet sich, ihrer Meinung nach, insbesondere zu Abbildung von Prozessen, verlangt aber von der forschenden sowie der befragten Person ein hohes Abstraktionsvermögen und hohe kognitive Kompetenzen (vgl. Dunkake 2017, S. 132 ff.).
Schulverweigerer*innen zeigen teilweise recht komplexe Argumentationsstrukturen, um das Fernbleiben von der Schule zu erklären (vgl. Oehme 2007). Der Einsatz dieser Methode könnte weitreichende Erkenntnisse liefern, „[…] die zu einer wichtigen Differenzierung dieses Forschungsfelder beitragen und die Vielfalt mit ihren Strukturen besser beleuchten können“ (Dunkake 2017, S. 137).
3.3.4 Systemtheorie
In der Systemtheorie wird Schulverweigerung als „Ausdruck zirkulärer Interaktionsstrukturen verschiedener sozialer und personaler autopoietischer Systeme gedeutet“ (Bührmann 2017, S. 167).
Bührmann führte 2009 qualitative Studien mit über 40 Schulverweigerer*innen und 30 Pädagogen durch, um das Phänomen empirisch zu erfassen (vgl. Bührmann 2009). Die Studien ergaben, dass die Problemkonstruktion Schulverweigerung abhängig ist vom Weltbild des Beobachters. Schulverweigerung ist Ausdruck zirkulärer Interaktionsstrukturen und Abbild des Zusammenwirkens von Elementen im autopoietischen System (vgl. Bührmann/Boehmer 2016, S. 172 ff.).
Es gibt kein „Patentrezept“ gegen Schulverweigerung. Lösungen sind nur bedingt vorhersagbar und planbar. Prozesse laufen zirkulär ab, Diagnosen und Interventionen sind Teil einer kontinuierlichen Schleife. Die „systemische Schleife“ ist ein Prozessmodell, das auf Königswieser und Exner (2002) zurückgeht und die systemische Haltung veranschaulicht (vgl. Königswieser/Exner