Requiem für den amerikanischen Traum. Noam ChomskyЧитать онлайн книгу.
auch sagen, dass Madison schon in den 1790er-Jahren bitter enttäuscht war über die Abwege, auf die das von ihm selbst geschaffene System geraten war. Börsenhändler und andere Spekulanten hatten die Regie übernommen und es zugunsten eigener Interessen zerstört.
Aristokraten und Demokraten
Es gab jedoch noch eine andere Vorstellung von Demokratie, die Jefferson, ihr führender Theoretiker, anhand der Unterscheidung zwischen »Aristokraten« und »Demokraten« ziemlich eloquent darlegte.
Siehe: Thomas Jefferson in einem Brief an William Short am 8. Januar 1825; S. 25.
Die Grundidee der Aristokratie als Staatsform sei, dass die Macht in Händen einer eigenen Klasse besonders herausragender und privilegierter Personen liegen sollte, die vernünftige Entscheidungen treffen. Die Demokraten hingegen glaubten, die Macht solle beim Volk liegen. Schließlich sei es der sicherste Träger der Macht und des vernünftigen Handelns, und ob uns seine Beschlüsse gefielen oder nicht, sollten wir dieses Modell unterstützen. Jefferson unterstützte also das demokratische Modell und nicht das aristokratische, das Madison propagiert hatte, bevor er sah, wohin sich das System entwickelte. Dieser Riss durchzieht die amerikanische Geschichte bis heute.
Weniger Ungleichheit
Siehe: Aristoteles, Politik, Buch III, Kapitel 8, Buch IV, Kapitel 4; S. 26.
Interessant dabei ist, dass diese Debatte eine lange Tradition hat und bis auf das erste Werk über politische Demokratie im klassischen Griechenland zurückgeht, die Politik von Aristoteles, die erste umfassende Untersuchung verschiedener politischer Systeme. Aristoteles kommt darin zu dem Schluss, dass die Demokratie die beste Regierungsform sei. Doch dann weist er genau auf das Problem hin, das auch Madison bemerkte. Aristoteles betrachtete nicht ein Land, sondern den Stadtstaat Athen, und man darf nicht vergessen, dass sich seine Demokratie auf freie Männer beschränkte. Doch das war auch bei Madison so – seine Überlegungen galten freien Männern, nicht Frauen, und natürlich erst recht nicht Sklaven.
Siehe: Aristoteles, Politik, Buch VI, Kapitel 5; S. 27.
Aristoteles stellte dasselbe fest wie Madison viel später. Wenn Athen eine Demokratie für freie Männer wäre, würden sich die Armen zusammenschließen und den Reichen ihren Besitz nehmen. Doch die beiden fanden entgegengesetzte Lösungen für dasselbe Dilemma. Madison kam zu dem Schluss, man müsse die Demokratie einschränken – mit anderen Worten, das System so gestalten, dass die Macht in den Händen der Reichen liege, und die Bevölkerung auf vielerlei Weise spalten, damit sie sich nicht zusammenschließen könne, um den Reichen die Macht zu entreißen. Aristoteles sah die Lösung im Gegenteil: Er schlug eine Staatsform vor, die wir heute als »Wohlfahrtsstaat« bezeichnen würden. Man müsse, so meinte er, die Ungleichheit vermindern – durch öffentliche Speisungen und andere dem Stadtstaat angemessene Maßnahmen. Kurz, ein Problem, zwei Lösungen: die Ungleichheit vermindern oder die Demokratie einschränken. Und diese beiden gegensätzlichen Bestrebungen konstituieren unser Land.
Ungleichheit hat viele Konsequenzen. Sie ist nicht nur an sich ungerecht, sondern hat ausgesprochen negative Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt, selbst auf Dinge wie die Gesundheit. Es gibt fundierte Studien – etwa von Richard Wilkinson –, die zeigen, dass es um die Gesundheit einer Gesellschaft umso schlechter bestellt ist, je mehr sie von Ungleichheit geprägt ist, egal ob diese Gesellschaft arm oder reich ist. Denn die Ungleichheit an sich hat bereits zerstörerische, schädliche Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen, das Bewusstsein, das Leben der Menschen und zieht weitere negative Folgen nach sich. All das sollte aber überwunden werden. Aristoteles hatte recht – um das Paradox der Demokratie zu überwinden, muss die Ungleichheit vermindert und nicht die Demokratie eingeschränkt werden.
Die Sünden der amerikanischen Gesellschaft
In den ersten Jahren ihres Bestehens blickten die Vereinigten Staaten in eine endlose Zukunft steigenden Wohlstands, zunehmender Freiheit, zahlloser neuer Errungenschaften und wachsender Macht – sofern man die Opfer dieser Entwicklung ausblendete. Die USA waren eine koloniale Siedlergesellschaft – die brutalste Form des Imperialismus. Man muss schon darüber hinwegsehen, dass man deshalb reicher wurde und ein immer freieres Leben führte, weil die indigene Bevölkerung dezimiert wurde – die erste schwere »Ursünde« der amerikanischen Gesellschaft; und weil ein anderer Teil der Bevölkerung aus herbeigeschafften Sklaven bestand – die zweite schwere Sünde. Wir leben bis heute mit den Folgen beider. Man muss schon die schändliche Ausbeutung der Arbeitskräfte ignorieren, die Eroberung anderer Länder und vieles mehr. Nur wenn man diese »unbedeutenden« Details außer Acht lässt, kann man sagen, dass wir unseren Idealen einigermaßen gerecht werden. Eine der wichtigsten Fragen lautet eben seit jeher: In welchem Maß sollten wir echte Demokratie zulassen?
Siehe: Somerset vs. Stewart, Court of King’s Beach, England, 14. Mai 1772, Urteilsbegründung von Lord Mansfield; S. 27.
Am Ende des 18. Jahrhunderts, kurz vor der Unterzeichnung der Verfassung der Vereinigten Staaten, gab es, wie gesagt, widersprüchliche Ansichten darüber, wie die neue Gesellschaft organisiert und aufgebaut sein sollte. Ein entscheidendes Element, das man dabei nicht vergessen darf, ist der überwältigende Einfluss der Sklavenhalterstaaten. Die Sklaverei spielte in der amerikanischen Revolution sogar eine entscheidende Rolle. Schon 1770 bewerteten britische Richter – wie Lord Mansfield im berühmten Fall des James Somerset – die Sklaverei als eine schändliche Einrichtung, die nicht toleriert werden könne. Damit waren amerikanische Sklavenbesitzer gewarnt. Sollten die Kolonien der britischen Herrschaft unterstellt bleiben, wäre die Sklaverei bald geächtet – es gibt ziemlich eindeutige Hinweise darauf, dass dies ein wichtiger Faktor für die Erhebung gegen England war, die stark von den Sklavenhalterstaaten, allen voran Virginia, geprägt wurde. Im Nordosten zeigte sich bereits Widerstand gegen die Sklaverei, aber er war gering, und die Verfassung spiegelt dies wider.
Gegensätzliche Kräfte
Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist ein ständiger Kampf zwischen diesen beiden Tendenzen: ein demokratischer, vor allem von der Bevölkerung ausgehender Druck von unten, erwies sich dabei oft als erfolgreich. So erhielten beispielsweise Frauen – die Hälfte der Bevölkerung – in den 1920er-Jahren das Wahlrecht. Ehe wir uns allzu viel darauf einbilden: Etwa zur selben Zeit wurden in Afghanistan die Frauenrechte erheblich ausgeweitet.
Die Sklaven wurden zwar nach dem amerikanischen Bürgerkrieg formell befreit, nicht jedoch wirklich. In der Praxis erkämpfte erst die Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren alle formalen Rechte und Freiheiten, und auch dann noch mit erheblichen Einschränkungen. In unserem gegenwärtigen politischen System gibt es immer noch zahlreiche Relikte der Sklaverei, aber die Koppelung des Wahlrechts und der Mitbestimmung an Grundbesitz wurde im 19. Jahrhundert immerhin gelockert. Damals bildeten sich auch die ersten ernst zu nehmenden Arbeiterorganisationen, die viele Siege errangen.
Der Kampf setzte sich also fort – Zeiten des Rückschritts wechselten mit solchen des Fortschritts. Die 1960er-Jahre beispielsweise waren eine Epoche weitgehender Demokratisierung. Teile der Bevölkerung, die zuvor passiv und geradezu apathisch gewesen waren, organisierten sich jetzt, wurden aktiv und drängten auf die Durchsetzung ihrer Forderungen, sie beteiligten sich zunehmend an der Entscheidungsfindung, gründeten Bürgerinitiativen und so fort. Es war eine Zeit zivilgesellschaftlichen Engagements – und sie wurde meines Erachtens gerade deshalb als »Zeit der Unruhen« bezeichnet. Sie veränderte in vielerlei Hinsicht das Bewusstsein der Menschen: in Sachen Minderheitenrechte, Frauenrechte, Umweltschutz, staatlicher Aggression, Solidarität mit anderen.
Siehe: Malcolm X, Demokratie ist Heuchelei, Rede im Jahr 1960; S. 28. Martin Luther King, Wo wollen wir hin?, Rede am 16. August 1967; S. 29; Gaylord Nelson, Rede zum Tag der Erde am, 22. April 1970; S. 30.
All dies sind Effekte der Zivilgesellschaft, und gerade das löste große Angst aus …
Die Heftigkeit der Gegenreaktion auf diese Gesellschaftsbewegung der 1960er-Jahre habe ich damals nicht vorausgesehen, obwohl ich