Der Mann, der aus dem Fenster sprang. Ludwig LugmeierЧитать онлайн книгу.
ihr zugesehen und war ganz ruhig. Alles war weiß. Nur das Wasser in dem Brechloch war grün. Und jetzt lief sie mit einem Knobelbecher über das Eis und zog den Schlitten ruckweise hinter sich her. Dann blieb sie stehen, zog den Knobelbecher aus und der blieb liegen auf dem Eis, bis Gusti ihn holte.
»Weil die Fischer dort Löcher ins Eis hacken«, sagte Gusti.
»Von Schlehdorf ist ein Fuhrwerk über den See gefahren«, erwiderte meine Mutter.
Meine Großmutter zerschnitt den Stiefel später mit ihrem Messer.
»Da ist der Stiefel nicht schuld dran«, sagte meine Mutter.
Meine Großmutter schob die Lederstücke in den Herd.
»Der Mantel hat mich runtergezogen«, sagte meine Mutter, »der ist ganz schwer geworden.«
»Der Tod ist unterm Eis«, sagte meine Großmutter.
»Das ist eingebrochen«, sagte Gusti, »weil die Fischer Löcher reinschlagen.«
»Wenn er dich hätte haben wollen«, sagte meine Großmutter, »wärst nicht wieder rausgekommen.«
»Er soll in die Kirche gehen und eine Kerze anzünden, damit der liebe Gott auf ihn aufpaßt«, sagte meine Mutter.
Im Frühjahr, als ich schon fast fünf war, schickte sie mich in die Kirche, es war das letzte Jahr in Kesselberg. Die Sparkasse hatte meinen Eltern einen Kredit bewilligt und die Gemeinde hatte ihnen ein Grundstück auf 99 Jahre Erbpacht überlassen. Der Ort hieß Ried und lag zehn Kilometer von Kesselberg entfernt. Er hatte 300 Einwohner und ebensoviele Kühe. Hier war mein Vater geboren und seine Eltern lebten dort noch in einem Austragshäusl mit Plumpsklo im Schuppen. Das Grundstück grenzte an den Bahndamm am Rand des Orts. Vor zehn Jahren war es noch eine Müllhalde gewesen und 100 Meter weiter wurde der Müll immer noch in die Grube gekippt, die beim Bau des Bahndamms entstanden war. Manchmal fuhr ich mit meiner Mutter hin. Dann schauten wir zu, wie mein Großvater den Keller aushob und mit einer hölzernen Schubkarre auf einer Bretterkiste Lehm nach oben schob. Er war über siebzig, hatte einen Schnauzer im Gesicht und einen Hut auf dem Kopf, unter dessen Schweißband ein Schnupftuch steckte. Er war nach dem ersten Weltkrieg in die Gegend gezogen und hatte als Schachtmeister gearbeitet, als Oskar von Miller das Walchenseekraftwerk baute. Er redete wenig, seine Hände waren so gefühllos, daß er damit Wespen zerdrückte, die Ärmel seiner kragenlosen Flanellhemden trug er zugeknöpft und darüber eine Weste. Als der Keller ausgehoben war, wuchsen Bimssteinwände hoch. Da konnte man dann schon die Zimmer sehen.
»Das wird das Wohnzimmer«, sagte meine Mutter, »das die Küche und das wird euer Zimmer. Oben drüber vermieten wir und von der Miete zahlen wir die Zinsen.«
Wir stiegen über Bretter und aus den Betonfundamenten ragte Baustahlgewebe. Wenn es Abend wurde, kam mein Vater mit der Adler den Müllfuhrenweg entlanggeknattert und setzte die Bimssteine aufeinander, die mein Großvater aufs Gerüst gestapelt hatte. Dann pfiff in Benediktbeuern der Zug. Wir fuhren zurück nach Kochel und mit dem letzten Bus nach Kesselberg. Meine Mutter nähte Vorhänge mit roten Herzchen und sagte, daß wir ein eigenes Haus haben würden. Sie erzählte es Frau Miele und Frau Zislow, Frau Hase und Fräulein Rosemarie, die jetzt ein Kind hatte und keinen Mann.
»Wenn wir das Haus haben, pflanz ich im Garten Gemüse, Salat und Kartoffeln. Und Apfelbäume und Johannisbeersträucher. Und zwischen die Beete kommt eine Wiese fürs Heu für die Hasen. Da brauchen wir nicht mehr viel einkaufen. Wir haben Gemüse frisch aus dem Garten, und am Sonntag gibt’s Hasenbraten.«
Im Schlafzimmer schnupperte sie am Parfümflakon und sagte: »Vielleicht ist es doch gut, daß ich nicht nach Wien bin.«
An einem Sonntag gab sie mir die Kerze.
»Der liebe Gott«, sagte sie, »kommt um neun ins Altenheim. Da klingelst du und fragst, ob du in die Kapelle gehen darfst. Wenn der Kaplan mit der Messe fertig ist, gibst du ihm die Kerze. Der soll sie weihen, damit du nicht im See ersäufst.«
Sie zog mir den Trachtenanzug an und setzte mir den Steirerhut mit der Adlerflaumfeder auf den Kopf. Dann drückte sie mir die Kerze in die Hand. Sie war rot und lang wie mein Arm. Als ich am See entlang lief, wurde sie weich in meiner Hand, die rote Farbe blätterte ab und sie verbog sich ein wenig. Ich versuchte sie geradezubiegen, aber da brach sie in zwei Teile, die nur noch der Docht zusammenhielt. Vor Schreck darüber stand ich lange neben der Straße und rührte mich nicht. Dann spuckte ich in die Bruchstelle und drückte sie zusammen. Aber die Spucke klebte nicht. Zum Glück war Gott nicht da, als ich bei Altenheim anlangte. Vom Klingelknopf hing ein loser Draht und als ich auf den Knopf drückte, wußte ich, daß es keine Verbindung gab. Ich drückte dreimal auf den Knopf. Aus einem Fenster blickte eine Greisin und wackelte mit dem Kopf, bis ich glaubte, daß Gott nicht da war und weiter nach Kochel ging. Von dort läuteten bereits die Glocken. Auf dem Weg zur Kirche, wo auch die Heimatbühne und das Kino waren, traf ich meine beiden Cousinen. Sie hießen Gitti und Roswitha, hatten weiße Kleider an und hielten weiße Gesangbücher in den Händen.
»Deine Kerze ist kaputt«, sagte Gitti, »die gilt nicht mehr.«
Und Roswitha sagte: »Eine kaputte Kerze bringt Unglück, weil sie mitten auseinander ist.«
Ich spuckte in die Bruchstelle und behauptete: »Jetzt hält sie wieder.«
»Kaputt ist kaputt«, sagte Gitti.
»Gott ist unsichtbar«, erklärte Rosi, »der sieht alles. Der sieht auch, daß du draufgespuckt hast.«
»Der hat ein dreieckiges Auge«, sagte Gitti, »so –«
Sie zeichnete mit der Schuhspitze ein Dreieck in den Staub.
»Da ist das Aug drin. Damit sieht er im Dunkeln.«
Der Pfarrer trug ein weißes Meßgewand mit einem goldenen Kreuz auf dem Rücken und die Ministranten klingelten mit Silberglöckchen. Ich saß in der ersten Bank, vor mir hielt der Pfarrer den Kelch hoch und zeichnete Kreuze in die Luft. Wie groß das Kirchenschiff war! Und wie fremd und wie leer über den Leuten! Lauter Luft und Licht, das durch die Fenster fiel. Der Pfarrer ruderte darin herum und verbeugte sich. Da wußte ich, daß er gar nicht da war, dieser Gott, und mich auch nicht aus dem Wasser ziehen würde, wenn das Eis einbrach. Als die Messe vorbei war, nahm ich die Kerze wieder mit.
»Jetzt hast dem lieben Gott die Kerze gestohlen«, sagte Gitti.
»Das hat er alles gesehen«, sagte Roswitha.
Aber ich hatte sie ihm gar nicht gegeben gehabt.
»Die Kerze hat keinen Taug«, sagte ich und da wurden die Cousinen still.
Ich gab sie meiner Großmutter. Sie wohnte bei ihrem Sohn und seiner Familie, in der Speisekammer der Mansardenwohnung im ersten Stock. Im Treppenhaus hingen Geweichtel und Geweihe an der Wand und vor der Tür stand zusammengelegt ihr Feldbett. Die Kammer war so schmal, daß sie mit gespreizten Armen die Wände berühren konnte. Ein Regal stand drinnen, ein Tisch, ein Schemel. An Kleiderhaken hingen ihre Kittel und der Mantel, und von der Decke baumelte eine Glühbirne. Auf dem Fensterbrett standen Büchsen mit Blumen. Auch das Zimmer nebenan war eng und am Tisch hatten wir gar nicht alle Platz. Sie kochte Gulasch und als das Essen fertig war, schöpfte sie zwei Teller voll und ich ging mit ihr in die Kammer.
Das Gulasch war scharf, aber sie sagte: »Ein richtiges Gulasch muß in der Gosche brennen, daß einer Feuer spuckt.«
Ich hockte mich auf den Boden und sie sich auf den Schemel. Das Gulasch brannte, daß mir Tränen in die Augen traten, aber ich aß den Teller leer und als sie fragte, ob es geschmeckt hätte, sagte ich: »Ja.«
»Warum heulst dann?« fragte sie und wischte mit einem Stück Brot den Teller aus. »Hast den lieben Gott gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann bist umsonst gelaufen.«
Sie lachte. Aber auf einmal wurde sie still.
»Der hilft keinem«, sagte sie, »weil er dir gar nicht helfen kann, wenn der Tod von unten kommt.«
Sie