Der Mann, der aus dem Fenster sprang. Ludwig LugmeierЧитать онлайн книгу.
Aber vielleicht hat ihn eine andere Kugel getroffen.«
»In den Kartoffelsalat schneide ich eine Gurke rein«, sagte meine Mutter.
»Das weiß heute keiner mehr genau«, sagte mein Vater.
»Da sind tausend Kugeln geflogen«, sagte meine Mutter.
Ich hockte mich unter den Tisch. Der Russengürtel hinderte das Blut daran, in die Beine zu sacken. Es schoß in den Kopf und immer wenn das Herz dreimal gepumpt hatte, sah ich ein anderes Bild. Der Russe stand in der Tür und hielt sich die Hose fest. Dann schoß mein Vater, peng! peng!, und der Russe blieb stehen, weil er nicht wußte, wer ihn totgeschossen hatte. Erst schaute er nach links, dann nach rechts. Dann fiel er, plumps – fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben –, um und war richtig tot.
»Peng! Peng!«, sagte ich.
Ich rannte zur Tür.
»Peng! Peng! Peng!«
»Du hast den Russen erschossen und ihm den Gürtel weggenommen«, sagte ich. »Peng! Peng!«
Wieder wurde seine Glatze weiß und ich setzte mich auf die Bank und sagte nichts mehr, weil ich Angst hatte, daß er mir eine schmieren und daß mir dann das Blut aus der Nase schießen würde wie Gusti, als er das Essen gemanscht hatte.
Das Hochzeitsfoto meiner Eltern hing im Schlafzimmer neben der Tür. Meine Mutter trug ein dunkles Kostüm und hielt einen Strauß rote Rosen in der Hand. Ihr Haar war schwarz und sie lächelte. Mein Vater trug einen dunklen Anzug mit breitem Revers. Sein Gesicht war hager und die Geheimratsecken hatten sich schon weit vorgefressen.
»1947 war das«, sagte meine Mutter. »Zwei Jahre später bist du gekommen. Da, in dem Bett, mitten in der Nacht. Überm Kochelsee ist gerade ein Gewitter niedergegangen.«
»Dann hast du die Möbel gekauft«, sagte ich.
»Wie ich bei den Amis war. Da war einer, der hat John geheißen, und das war ein Schwarzer und der wollte, daß ich mit ihm nach Amerika geh. Er hat mir Zigaretten gegeben. Für den Schrank hab ich zwei Schachteln gezahlt. Der ist aus Mahagoni. Und für die Betten auch. Für die Kredenz und den Tisch und die Stühle hab ich acht Schachteln gezahlt. Die hat ein Schreiner mit der Hand geschnitzt. Wie ich bei den Amis war, wollten alle Zigaretten von mir. Aber dann ist John nach Amerika gekommen. Von einem Tag auf den anderen. Er hat mir jede Woche einen Brief geschrieben und immer fünf Dollar reingelegt.«
»Darum läuft uns der Unenkel nach.«
»Weil er neidisch ist. Bei ihm stehen nur Margarinekisten. Die Kinder schlafen zu zweit im Bett und am Sonntag essen sie Linsen. Deswegen stinkt’s im Klo so. Und im Schlafzimmer hängt der Hitler an der Wand.«
Ich hatte Angst vor dem Unenkel. Wenn ich ihm begegnete, drückte ich mich an die Wand und hoffte, daß er mich nicht sah. Manchmal verfolgte er uns, wenn wir nach Kochel gingen. Er lief zwanzig Schritte hinterher und schrie »Hur! Du Hur!« und meine Mutter blieb stehen und schrie zurück. Dann holte sie einen Knüppel aus dem Unterholz, ging ihm entgegen und er lief davon. Wenn sie umdrehte, kam er wieder näher und schrie weiter.
»Komm nur«, rief sie, »komm nur her!«
Sie hielt den Knüppel in der Hand und ging ihm entgegen.
Jetzt wich er nur noch ein paar Schritte zurück.
»Ich weiß schon, was du willst!«
»Hur«, fauchte er. »Du Hur!«
Da warf sie den Knüppel weg und lachte. Sie stemmte die Hände in die Hüfte und als er näher kam, hob sie den Rock, zog die Unterhose runter und zeigte ihm den Arsch. Da rannte er, rannte, rannte, als wäre der Knüppel aus dem Sack hinter ihm her, und ich lachte. Wir zogen weiter am See entlang und die Pedale drehten sich.
»Wie er gerannt ist«, sagte sie. »Hast du gesehen, wie er gerannt ist?«
Sie zog den Finkberg hoch, ohne stehenzubleiben.
»Gerannt ist er«, sagte sie zur Frau im Konsum, »als wäre der Teufel hinter ihm her. Ich hab den Rock hochgehoben. Da ist er gelaufen«, sagte sie zur Frau in der Molkerei, »den hätten Sie sehen sollen. Der soll mir nur nahekommen.«
Unenkel hatte ein braungelbes Gesicht, die Haare waren grau und das linke Auge auch. Ich drückte mich an die Wand, als er den Flur entlang kam. Er redete mit sich selbst, wurde immer größer und verschwand dann hinter der Tür schräg gegenüber unserer, aber im Hof kam er wieder hinter der Scheune hervor. Und als ich ums Haus lief und mich unter der Tenne versteckte, da wartete er schon.
»Eine Hur ist sie«, flüsterte er. »Ich seh alles, ich hör alles. Eine Hur ist sie. Weißt, womit ich sie seh? So!«
Er drückte einen Finger ins Auge und da sprang das Auge in die Hand.
»Das sieht alles«, sagte er. »Und wenn der Hitler wieder kommt…«
Er lachte. Es war das einzige Mal, daß ich ihn lachen hörte. Es klang, als riebe man zwei Steine aufeinander. Ich sah ihn zum letzten Mal, als der Hausherr ihn über den Hof jagte. Er hatte einen Axtstiel in der Hand und Unenkel rannte von einem Baum zum anderen und zuletzt drehte er sich um den Stamm. Dann flog er ins Gras und Herr Miele prügelte auf ihn ein.
»Jetzt ist er im Irrenhaus«, meinte meine Mutter später, »da hat er schon lang hingehört.«
Ich sah den Vogel zum letzten Mal im Winter. Er war weiß und ich stand auf und ging ans Fenster. Da sah ich ihn sitzen im Geäst des Kastanienbaums. Als ich wieder im Bett lag, war er verschwunden. Ich schlief ein und am Morgen hauchte ich ein Guckloch ins Fensterglas und sah die schwarzen Äste des Baums, das verschneite Dach der Scheune, die weißen Wiesen zum See. Auf dem Weg führte eine Trampelspur zur Bootsanlegestelle. Der See war zugefroren und über das Eis fuhren ein Lieferwagen und Fuhrwerke.
Es war kalt und vielleicht krachten die Bäume wirklich. Es war so kalt, daß meine Mutter Angst hatte, die Kohlen würden nicht reichen. Sie legte Ziegelsteine ins Backrohr, wickelte sie in Handtücher und tat sie in die Betten. Aber am Morgen waren sie so kalt wie die Dielen und der Flur. Der Wasserhahn am Ende des Gangs lief und lief und wenn meine Mutter morgens den Herd anheizte, war das Wasser im Eimer gefroren. Von der Dachrinne wuchsen Eiszapfen, die immer länger und länger wurden.
Meine Mutter zog ihre Pullover unter den Mantel und zwei Paar Socken an, bevor sie in die Knobelbecher stieg. Sie setzte sich eine Mütze mit Ohrenklappen auf und wickelte uns in Decken, dann zog sie den Schlitten den Pfad hinunter zum See. Ein Fuhrwerk kam von Schlehdorf über die Eisfläche. Zwei Pferde waren vorgespannt.
»Das Eis ist dick«, sagte sie, »schaut. Die kommen von Schlehdorf.«
Manchmal hielt das Fuhrwerk an. Dann zogen die Pferde wieder. Die Luft war klar, auf dem Eis lag blau der Schatten des Jochbergs. Als ich den Eisenbeschlag des Schlittens anfaßte, klebten die Finger fest. Wir hielten uns dicht am Ufer. Der Schlitten glitt leicht, nur wo der Wind den Schnee weggeweht hatte, knirschte das Eis unter den Kufen. Sie zog und dann stellte sie sich hinter den Schlitten, schob, gab dem Schlitten einen Schubs und der glitt von ganz alleine zehn Meter weit. Als wir zur Renke kamen, zog sie wieder. Ihre Stiefel waren schwer, aus Leder, und die Sohlen mit Nägeln beschlagen. Sie stammten aus dem Krieg. Meine Großmutter hatte sie einem Soldaten abgekauft. An der Renke stand eine Fischerhütte. Dort trafen sich im Sommer Angler an der Bucht. Sie wich vom Ufer ab und nun war die Straße weit weg. Ein Traktor zog einen hölzernen Schneepflug an einer Kette hinter sich her.
»Der Schneepflug«, sagte sie. »Er fährt ins Altjoch, damit sie dort hinten rauskönnen.«
Sie zog weiter, das Eis knackste. Da blieb sie stehen und sah zum Fuhrwerk, das nun schon viel weiter war. Zwei schwere Pferde waren davor gespannt und auf dem Fuhrwerk saß ein Mann. Sie zog wieder weiter und das Eis brach unter ihr ein. Sie versank im Wasser und als sie wieder hochkam, hatte sie keine Mütze mehr auf dem Kopf. Sie schob den Schlitten ein Stück aufs Eis und versuchte auf die Scholle zu klettern, aber die Scholle brach ab. Wieder ging sie unter und als sie dann nochmals hochkam, schrie sie. Es klang ganz leise. Der Schneepflug war längst vorbeigefahren