Die ganze Geschichte. Yanis VaroufakisЧитать онлайн книгу.
Sie wäre auch eingestürzt, wenn Griechenland, der schwächste Pfeiler, entfernt und durch einen anderen Pfeiler ersetzt worden wäre.
Es stimmt, dass 2010 der öffentliche und der private Sektor in Griechenland inkompetent, korrupt, aufgebläht und verschuldet waren. Deshalb begann die Eurokrise dort. Tatsächlich hatten wir Griechen es geschafft, noch vor der formellen Gründung unseres Staats 1827 nicht tragfähige Schulden aufzuhäufen, und seit damals ist Steuerflucht halb olympische Sportart und halb patriotische Pflicht. Wir Progressiven, die wir in den 1960er- und 1970er-Jahren unsere ersten politischen Schritte unternahmen, schimpften über dieses schändliche Verhalten und die quälende Unfähigkeit der griechischen Oligarchie, die oft zu despotischem Verhalten führte. Wir demonstrierten auf den Straßen und insbesondere auf dem Syntagma-Platz. Und doch erklärt all das nicht, warum Griechenland nach 2010 so tief in die Krise geriet und warum danach Bailoutistan geschaffen wurde, eine traurige Schuldnerkolonie am Mittelmeer.
Was wäre passiert, wenn Griechenland im Jahr 2000 den Euro nicht bekommen hätte? In den ersten acht Jahren der gemeinsamen Währung hätten sich unser Staat und Privatleute kleinere Summen bei französischen und deutschen Banken geliehen, die zurückhaltend gewesen wären, einem verschuldeten Land, dessen Währung permanent an Wert verlor, größere Summen zu geben. Griechenland wäre zwischen 2000 und 2008 im Schneckentempo gewachsen und nicht explosionsartig wie bei dem schuldengetriebenen Boom, den wir erlebt haben. Und als 2008 die Kreditklemme kam, hätte Griechenland eine kleine, kurze, unbedeutende Rezession erlebt ähnlich wie Rumänien oder Bulgarien. Korrupt und ineffizient wie eh und je wäre Griechenland einfach weitergetrottet wie in den 1950er- und 1960er-Jahren, ohne die humanitäre Krise, in der es jetzt steckt. Die Progressiven, erschöpft von den Missständen in unserem Land und ihrer überdrüssig, würden weiter auf dem Syntagma-Platz demonstrieren, ohne dass der Rest der Menschheit davon Notiz nehmen würde, und es gäbe keine Schlagzeilen wie »Neue griechische Tragödie«, »Griechenland bedroht das Weltfinanzsystem« und ähnliche. Und natürlich wäre auch dieses Buch nie geschrieben worden.
Irren ist menschlich, wie man so schön sagt, aber für spektakuläre Fehler mit unfassbaren menschlichen Kosten brauchten wir anscheinend erst Europas größtes wirtschaftliches Projekt, den Euro. Griechenland war der Kanarienvogel in der europäischen Kohlemine, dessen Hinscheiden vor den tödlichen finanziellen Gasen hätte warnen sollen, die durch Europas Währungssystem waberten. Stattdessen wurde 2010 das kleine, zerbrechliche, verschwenderische Griechenland zum Sündenbock für Europa und seine Banken. Nicht genug damit, dass die Griechen unvorstellbare Kredite der französischen und deutschen Banken schultern mussten, dass sie zu einem Leben in einem postmodernen Armenhaus verdammt wurden, damit die ausländischen Parlamente weiterhin getäuscht werden konnten, man erwartete auch noch, dass die Griechen die Schuld dafür auf sich nehmen würden. Doch in den langen, großartigen Nächten auf dem Syntagma-Platz verlor die europäische Elite die Kontrolle über das Schwarzer-Peter-Spiel. Die junge Frau, die aufrecht dort stand und ihr Recht in Anspruch nahm, mit dem wunderbaren Satz »Wer muss ich denn noch sein?« die Autorität infrage zu stellen, symbolisierte den Wendepunkt. Ja, in unserer Gesellschaft gab es viel Schlechtes, doch nein, unsere grausame und unübliche Bestrafung war nicht gerechtfertigt. Und wir würden sie nicht einfach so hinnehmen.
Katharina die Große hat einmal gesagt, wer kein gutes Beispiel sein könne, müsse eben eine schreckliche Warnung sein. Griechenlands Warnung an alle, die in Europa hinterherhinkten, war in der Tat furchtbar: Wer gegen die Finanzregeln verstieß, deren Einhaltung die Krise unmöglich machte, den erwartete ein eiserner Käfig aus Schulden und Austerität. Doch die junge Frau auf dem Syntagma-Platz, der obdachlose Dolmetscher Lambros und Millionen andere, die freudig bereit waren, Opfer zu bringen, aber nicht erleben wollten, in den bodenlosen Abgrund der griechischen Schulden geworfen zu werden, schienen entschlossen, dem Rest Europas zu zeigen, dass es humane Alternativen gab, dass Europas Notlage zwar schlimm war, aber nicht tragisch sein musste, dass unser Schicksal immer noch in unserer Hand lag.
Nach der brutalen Vertreibung der Besetzer des Syntagma-Platzes forderte die griechische Sommerhitze ihren Tribut: Die Besetzer kehrten nicht zurück. Stattdessen sickerten sie in die griechische Gesellschaft ein, wo sie ihre Botschaft verbreiteten, während sie auf die nächste Zuspitzung der Krise warteten. Dann sollte der Geist des Syntagma-Platzes zu einer unaufhaltsamen politischen Bewegung werden, die über die Wahlurne eine neue Regierung installierte. Deren einzige Aufgabe war es, die Wände des Schuldgefängnisses einzureißen und Bailoutistan zu stürzen. Aber um dorthin zu gelangen, waren erst vier Jahre mühsamer Vorarbeiten nötig.
KAPITEL 3
Von Zungen und Bogen
Er kam früh am Sonntagmorgen zurück. Danae und ich waren müde gewesen und schon zu Bett gegangen, hatten aber erst einschlafen können, als wir das beruhigende Klacken der Tür hörten, die ins Schloss fiel. Danaes siebzehnjähriger Sohn war gerade flügge geworden und tat, was jeder Athener Teenager an einem Samstagabend tut: Er ging mit Freunden aus, gemeinsam diskutierten sie bis spät in die Nacht über alles und jedes, meistens in Cafés in Psirri, einem Stadtviertel einen Steinwurf von der antiken Agora entfernt. Athen ist eine sehr sichere Stadt, und Psirri ist besonders sicher, aber wie alle Eltern lauschten wir auf das Klacken der Wohnungstür.
In jener Nacht läutete das Telefon, kaum dass ich eingeschlafen war. Weil Anrufe nach Mitternacht in der Regel bedeuten, dass jemand in der Familie krank geworden ist, sprang ich aus dem Bett und lief ins Wohnzimmer zum Telefon.
Eine auf unheimliche Weise sanft klingende männliche Stimme fragte: »Herr Varoufakis?«
Schlaftrunken antwortete ich: »Ja, wer spricht da?«
»Wir freuen uns sehr, dass Ihr Junge gut nach Hause gekommen ist. Er scheint einen großartigen Abend in Psirri verbracht zu haben. Dann ist er über die Metropolis-Straße nach Hause gegangen mit einem Umweg durch die Hadrian-Straße und über die Byron-Straße.«
Mir lief ein Schauer den Rücken herunter. Ich schrie ins Telefon: »Wer zum Teufel sind Sie? Was wollen Sie?«
Seine Antwort war eiskalt: »Herr Varoufakis, es war ein Fehler, dass Sie bestimmte Banken ins Visier genommen und in Ihren Artikeln erwähnt haben. Wenn Sie wollen, dass Ihr Junge auch in Zukunft jeden Tag, jeden Samstag gut nach Hause kommt, müssen Sie damit aufhören. Es gibt bessere Themen, mit denen Sie sich beschäftigen können. Schöne Träume noch.«
Was ich am meisten gefürchtet hatte, war eingetreten.
Es war November 2011, und das zweite Rettungspaket zeigte bereits Wirkung. Die erste Rettungsvereinbarung hatte dazu gedient, die schwächeren Europäer (hauptsächlich griechische Rentner und Arbeiter mit kleinen Einkommen) für ausländische Banken (hauptsächlich französische und deutsche) bezahlen zu lassen. Das zweite Rettungspaket zielte auf die griechischen Banken: Während der Haircut sie bis zu 32,8 Milliarden Euro kostete, würden sie über 41 Milliarden als Entschädigung bekommen, die sich die griechischen Steuerzahler bei den übrigen Steuerzahlern Europas liehen. Die griechischen Banker hatten allergrößtes Interesse, dass dieses spezielle Geschäft zustande kam.
Sie hatten zwei Befürchtungen. Erstens war das Parlament so erniedrigt, und die Abgeordneten waren so demoralisiert, dass die Banker fürchteten, der politische Prozess könnte ins Stocken geraten, bevor sie ihr Geld erhielten. Zweitens hatte die Europäische Zentralbank langsam genug von den Faxen der Banker und wollte demonstrieren, dass sie bereit war, hart durchzugreifen. Deshalb forderte sie, bevor die Banken mehr Geld aus öffentlichen Kassen bekamen, sollten sie erst einmal selbst Geld auftreiben. Aber woher sollten die griechischen Banken neues Kapital nehmen, da sie wie der Staat schlichtweg bankrott waren? Kein vernünftiger Investor würde einer Bank, die tief im Schlamassel steckte, Geld geben.
Zwei Männer und ein Whiskeyfass
Um eine Vorstellung zu bekommen, wie clever zwei griechische Banker dieses Problem lösten, hilft ein Witz, den ich in einem Pub in Dublin gehört habe. Es geht darin um zwei einfallsreiche Trunkenbolde.
Art und Conn haben beschlossen, dass sie etwas unternehmen