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Stumme Schreie. Martin FleschЧитать онлайн книгу.

Stumme Schreie - Martin Flesch


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mit der Einhaltung von Menschenrechten in Einklang stehen.

      Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft an der rettenden Küste steht vielen Flüchtlingen noch ein beschwerlicher Landweg bevor, den viele zu Fuß fortsetzen. Kaum aushaltbare Strapazen begleiten ihren Weg. Wieder beginnt der Circulus vitiosus von vorne, begleitet von Ängsten, Drangsalierungen, Gewalt und Ungewissheit ob des Erwartbaren.

      Ist das ersehnte Zielland schließlich erreicht, stürzen neue Ungewissheiten und Unsicherheiten über die Lebenssituation der Betroffenen herein. Die Erstaufnahmeeinrichtung fordert den Migranten ein hohes Maß an Flexibilität ab, viele sind auf engstem Raum mit Angehörigen verschiedenster Nationalitäten in einem minimalen Wohnraum zusammengedrängt. Ethnische Konflikte sind vorprogrammiert und müssen ertragen werden.

      Mit der Formulierung des Asylantrages beginnt eine für viele unerträgliche Zeit des Wartens und der Sicherstellung ausreichender Lebensverhältnisse, insbesondere für die mitgereisten Familienmitglieder und die vielen Kinder und Minderjährigen. Es beginnt der Kampf um die Arbeitserlaubnis, um die Berechtigung, die Erstaufnahmeeinrichtung verlassen zu dürfen und eine eigene Unterkunft (Wohnung) beziehen zu können.

      Eine ganz erhebliche Zahl von Asylsuchenden erhält jedoch nur eine Duldung, welche den vorübergehenden Aufenthalt abdeckt. Das lange ungewisse Warten setzt sich fort, viele Betroffene erkranken, nicht nur körperlich, psychosomatisch, sondern gerade auch psychisch. Die Erlebnisse der zurückliegenden Jahre haben ihre Ressourcen aufgebraucht. Viele Betroffene fühlen sich ohnmächtig gegenüber dem System, gegenüber dem Zielstaat, gegenüber ihrer Familie, gegenüber ihrer Lebenssituation.

      Häufig beginnt nunmehr der Kampf mit den psychischen Leiden, die Sorge um adäquate ärztliche Behandlung. Sprachbarrieren verhindern Psychotherapien.

      Nicht wenige Migranten suchen den rechtlichen Weg, klagen gegen Verzweiflung, Missverständnisse, Fehleinschätzungen und mangelnde Berücksichtigung ihres Lebens- und Fluchtweges. Wenige haben Erfolg.

      Die „Ausreisepflichtigen“ befinden sich in einer quälenden und ausweglosen Gesamtsituation, werden mitunter suizidal, haben Selbstmordfantasien. Dann kommt der Tag der unfreiwilligen Rückreise. Der Rückflug beendet eine oft jahrelange Odyssee und den Beginn einer neuen ungewissen und kaum hoffnungsvolleren Zukunft. Wir befinden uns wieder am Anfang, der „Stunde Null“ im Leben eines Flüchtlings.

      Das oft größte Geschenk, welches Asylsuchende in diesen verzweifelten und ausweglosen Situationen bekommen können, ist das Signal, dass sie verstanden werden, dass sich jemand für sie tatsächlich interessiert, als Einzelschicksale mit ihrer Vorgeschichte, den Ursachen und Folgen der Flucht, mit ihrer Traumatisierung, ihrem Lebenselend, ihrer Perspektivlosigkeit.

      In den letzten sechs Jahren habe ich als Psychiater in der akutpsychiatrischen Sprechstunde über 500 Migranten aus über 30 Herkunftsstaaten zugehört.

      Viele sind polytraumatisiert, das heißt, sie haben auf einer oder mehreren Wegstrecken ihrer Fluchtrouten oder aber im Zielland Belastungen von katastrophenartigem Ausmaß erfahren. Viele habe nicht nur ein Trauma, sondern gleich mehrere Traumatisierungen.

      Da sind beispielweise Ahmad aus Afghanistan, dem die Taliban mit einer Tellermine den rechten Unterschenkel abrissen, Abdul aus dem Irak, der Folterspuren aufweist, Ibrima aus Somalia, die mehrfach vergewaltigt wurde, Yussuf aus Syrien, der im Gefängnis gefoltert wurde, Amadou aus dem Iran, der drei Jahre in Isolationshaft saß, Alik aus der Ukraine, der seine Angehörigen im Ukrainekrieg verlor, Amen aus Armenien, der auch in Folterhaft war, Eymag aus Nigeria, der in Libyen gefoltert und versklavt wurde, Abdulmonir aus Afghanistan, dem eine Extremität abgetrennt wurde, und auch Maryan, Marusya, Natali und Hrachia, die es in einem Schlauchboot über das Mittelmeer schafften, deren Angehörige jedoch dabei ertranken …

      StellvertreterInnen für viele ähnliche Schicksale …, wie auch die vielen Kriegswaisen, Kindersoldaten und Missbrauchsopfer.

      Ihre Geschichten werden hier sprechen.

      Nichts sonst.

       Im Sinkflug (Alik & Nure)

       Ukraine

       II.Kasuistik 1: Im Sinkflug (Alik & Nure) – Ukraine

       „Das gebeugte Knie und die hingehaltenen Hände sind die beiden Urgebärden des freien Menschen!“

       Alfred Delp 6

      Über Kiew erhob sich ein strahlender, eisiger Februarmorgen. Die Maschine aus München befand sich im Sinkflug, der Himmel bescherte keine Wolke, die Sicht auf die Stadt blieb tadellos.

      Alik saß an einem Fenster einer Maschine aus Deutschland und sah voller Verzweiflung auf die näher rückenden Gebäude, neben ihm seine Ehefrau Nure, auf der anderen Seite des Ganges die zwei Kinder. In wenigen Minuten wird die Maschine auf der Landebahn aufsetzen, die Familie wird nach neun Jahren wieder ukrainischen Boden unter ihren Füßen verspüren. In Kiew wird sie niemand erwarten, niemand abholen und niemand wird die vierköpfige Familie in seine Arme schließen. Alik blickt in diesen für ihn und seine Ehefrau fürchterlichen Augenblicken der völligen Ungewissheit in eine für ihn dunkle Zukunft. Die Familie befindet sich nicht freiwillig in dieser Maschine. Es handelt sich um einen Abschiebeflug aus Deutschland, in diesem Winter.

      Hinter Alik und seiner Familie liegen neun Jahre Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, Jahre der Hoffnung, der Ablehnung, des Kampfes, der Verzweiflung, der Auflehnung, wiederum der Hoffnung und schließlich der Resignation.

      Bis zur endgültigen Landung und dem Ausstieg bleiben ihm noch wenige Minuten eines mehrstündigen Zwischenlebens, eines Lebens zwischen Deutschland und der Ukraine, die letztlich sämtliche Hoffnungen, Träume und Pläne zunichte machen werden …

      Die Ehe zwischen Alik und Nure entspringt einer jahrelangen Jugendliebe. Beide entstammen sie mit ihren Herkunftsfamilien dem Volk der Kurden und gehören der Glaubensgemeinschaft der Jesiden an. Diese Glaubensgemeinschaft kennt verschiedene Kasten, Alik gehört der Kaste der Muriden an, Nure jedoch einer anderen Kaste. Eine Heirat zwischen verschiedenen Kasten ist nach den Vorschriften der Jesiden nicht zulässig. Die Liebe war stärker, geheiratet haben sie im Jahr 2011 dennoch. Er ist zu diesem Zeitpunkt 19, Nure 18 Jahre alt.

      Nachdem Alik den Wehrdienst aus gesundheitlichen Gründen nicht ableisten musste, fand er – noch ohne abgeschlossene Berufsausbildung – Arbeit als Schreiner, in der Nähe von Slaviansk, denn die Probleme in ihren Heimatdörfern waren im Grunde vorgezeichnet. Konkrete Übergriffe gab es nicht, aber Drohungen wegen der unerlaubten Eheschließung.

      Alik wird später – im Jahr 2014 erst – dem ihn untersuchenden Psychiater berichten, dass er als junger Ehemann die Angst kennengelernt habe. Seit der Eheschließung habe sich die beständige Angst wie eine Geschwulst in seinen Körper gefressen. Die junge Ehe ist schon bedroht, bevor sie überhaupt erst begonnen hat. Das Heimatdorf der Ehefrau haben sie zwischenzeitlich verlassen. Zurück lässt Alik seine Eltern, einen noch minderjährigen Bruder und mehrere Verwandte mütterlicherseits.

      Nure erklärt später in der ärztlichen Sprechstunde, dass mögliche Übergriffe ihrer Familie stets im Raum gestanden hätten. Es sei durchaus nichts Ungewöhnliches, dass Frauen in einer aus religiösen Gründen unerlaubt geschlossenen Ehe von Mitgliedern ihrer eigenen Familie oder aber von Mitgliedern der jesidischen Gemeinde getötet würden.

      Die erste Zeit des Zusammenlebens funktioniert leidlich. Auch in der Nähe von Slaviansk ist die Bedrohung noch greifbar. Dennoch schauen beide in die Zukunft, gründen eine Familie. 2013 wird der älteste Sohn Timur geboren. Bis zum Frühjahr 2014 kann sich die junge Familie über Wasser halten. Weitere Kinder sind geplant. Zu diesem Zeitpunkt nimmt der einigermaßen stabile Verlauf des Lebens ein jähes Ende.

      In der Ostukraine herrscht seit dem Frühjahr 2014 in den Oblasten Donezk und Luhansk


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