Stumme Schreie. Martin FleschЧитать онлайн книгу.
der Wohnung herausgeholt worden und befinde sich nunmehr auf dem Weg zum Flughafen. Es gebe keine Hoffnung mehr, man werde jetzt abgeschoben, er sende einen Hilferuf, er wolle nicht mehr leben, alles sei sinnlos geworden. Dann legt er auf. Wenig später meldet sich Nure, weint, schreit und berichtet den gleichen Sachverhalt, sie sendet einen Hilferuf. Dann bricht der Kontakt ab …
Ursprünglich hatte die Asylbehörde bereits im Jahr 2016 festgestellt, dass bei Alik, Nure und den beiden Kindern keine Abschiebungsverbote vorlägen. Eine Abschiebung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG sei dann unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergebe. In Betracht komme dabei in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK8 und damit die Prüfung, ob im Fall einer Abschiebung der Betroffene tatsächlich Gefahr liefe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
Dem Antragsteller Alik drohe in der Ukraine keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die Abschiebung – trotz schlechter humanitärer Verhältnisse – könne demnach nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein. Die gegenwärtigen humanitären Bedingungen in der Ukraine führten jedoch nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Antragsteller eine Verletzung des Art. 3 EMRK8 vorliege. Die hierfür vom EGMR8 geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Antragsteller sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Es drohe den Antragstellern auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe.
Bei strahlendem Sonnenschein im kalten Februar 2020 berührt die Maschine aus Deutschland gerade die Landebahn des Flughafens von Kiew …
III.Plattform – Seelentröstung
„Der Weg entsteht unter deinen Füßen …
Luise Reddemann 9
Ich schreibe diese Zeilen zwischen März 2020 und Januar 2021, während der durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Krise, in Deutschland, in Europa, weltweit.
Derzeit gilt unsere beständige Sorge den Möglichkeiten zur Eindämmung der schwankenden Infektionskurven. Wir suchen fieberhaft und mit Nachdruck nach einem Impfstoff. In unserem Land stand das öffentliche Leben wiederholt weitgehend still, wir wissen nicht, wie lange uns diese Situation der Ungewissheit in ihren Bann schlägt. Wir leben auch nach epidemiologischen, hygienischen und weiteren vorgegebenen Grundregeln, um das Virus nicht selbst zu verbreiten und um uns selbst und Dritte zu schützen. Unsere Bewunderung, unsere Anerkennung und unsere Beifallskundgebungen gelten in diesen Tagen den bis an die Grenzen beanspruchten und darüber hinaus belasteten Angehörigen der medizinischen Berufe in Ambulanzen, Krankenhäusern und vor allem auf den Intensivstationen. Für uns in Deutschland und Europa lebende Bürgerinnen und Bürger scheint es nahezu selbstverständlich, in Krisenzeiten auf ein gut ausgerüstetes und aufgestelltes Gesundheitssystem zurückgreifen zu können, welches in der Lage ist, rasch, akut und zielführend einzugreifen, zu therapieren und Menschenleben zu erhalten.
Ich selbst bin Arzt, genauer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 25 Jahren widme ich mich hauptsächlich psychisch belasteten und psychisch schwer erkrankten Menschen, die im Zusammenhang mit ihrer psychischen Störung erst verhaltensauffällig und dann später straffällig werden. Ich vertrete ihre psychiatrische Ebene bei Gericht, beurteile ihre Schuldfähigkeit und befasse mich in diesem Zusammenhang mit prognostischen Gesichtspunkten und den Fragen, wie man schwere, überdauernde psychische Störungen so behandeln kann, dass bei meinen Patienten auch die daraus resultierende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit abnimmt und sie schließlich wieder in die Gesellschaft integriert werden können. Dabei nimmt die Reintegration für mich einen sehr hohen Stellenwert ein.
Diese Tätigkeit füllte mein ärztliches Handeln und mein ärztliches Berufsleben bis zum Jahr 2014 überwiegend vollständig aus, bis eine weltweite andere Krise – die schon lange vor dem Auftreten der COVID-19-Pandemie in unsere gesellschaftlichen Strukturen buchstäblich eingewandert war – uns seit spätestens diesem Zeitpunkt im Rahmen politischer Konfliktherde und ihren eskalierenden desaströsen Auswirkungen wiederholt und anhaltend beschäftigt und seit dem Jahr 2011 auch in Europa zunehmend in den gesellschaftlichen Fokus geriet: DIE FLÜCHTLINGSKRISE.
In Anbetracht der uns in Europa seit dem Beginn der 10er-Jahre unseres Jahrtausends beschäftigenden Fragen und Probleme, die ein zunehmend dichter werdender Flüchtlingsstrom aufwarf, fasste ich im November des Jahres 2014 einen ärztlichen Entschluss:
Ich beschloss, über meine Praxistätigkeit hinaus wöchentlich – auf ehrenamtlicher Basis – in einer örtlichen Gemeinschaftsunterkunft für Migranten eine psychiatrische Sprechstunde anzubieten, um die akutpsychiatrische Versorgung von geflüchteten und entwurzelten Patienten sicherstellen zu können. Was im November 2014 als gewöhnliche psychiatrische Sprechstunde begann, weitete sich sehr rasch zu einer Sozialpsychiatrischen Migrationsambulanz aus, welche ich mittlerweile, gemeinsam mit Koordinatoren, Fachkrankenschwestern des Missionärztlichen Instituts und weiteren ehrenamtlich tätigen ÄrztInnen und Helfern organisiere und umsetze.
Die Sehnsucht vieler in unser Land geflüchteter Menschen nach psychotherapeutischer und psychiatrischer Begleitung sowie nach Zuwendung und haltgebenden Strukturen ist gegenwärtig gewaltig. In den zurückliegenden sechs Jahren behandelte und betreute unser psychiatrisches Team über 500 Migranten aus über 30 Ländern. Die meisten Patienten kamen aus Armenien, Afghanistan, Albanien, Algerien, Bosnien-Herzegowina, China, Eritrea, Georgien, Irak, Iran, Kosovo, Marokko, Mazedonien, Montenegro, Nigeria, Pakistan, Russische Föderation, Serbien, Somalia, Syrien, Tunesien sowie aus der Türkei.
Häufig sind unsere Patienten traumatisierte Kriegs- und Folteropfer, aber auch Geflüchtete aus unerträglichen humanen, hygienischen und existenziellen Verhältnissen ihrer Herkunftsländer.
Entwurzelung, Gewalteinwirkung, Verlust der nächsten Angehörigen, Vertreibung, Versklavung, Folter und Hunger belasten die menschliche Seele schwer. Viele Patienten sind anhaltend depressiv, andere vergraben sich in ihrer Angst, wiederum andere sind auf Dauer psychisch erheblich traumatisiert oder leiden unter chronischen psychosomatischen Beschwerden.
Neben den chronischen depressiven und Angststörungen sehen wir im Behandlungsteam vor allem immer wieder die nachfolgend beschriebenen drei psychischen Hauptstörungsbilder bei geflüchteten und traumatisierten Menschen:
Die akute Belastungsreaktion10 beschreibt eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Copingstrategien) spielen bei dem Auftreten und dem Schweregrad des Störungsbildes eine große Rolle. Die Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und wechselndes Bild, beginnend mit einer Art von „Betäubung“, mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und mit Desorientiertheit. Diesem Zustand folgt häufig ein Sichzurückziehen oder aber ein Unruhezustand mit Überaktivität und Fluchtreaktion. Häufige Symptome sind panische Angst, Schwitzen und Erröten.
Die Posttraumatische Belastungsstörung10 entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, Albträume vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen