Physikalische Chemie. Peter W. AtkinsЧитать онлайн книгу.
Phasendiagramme sind wichtige Werkzeuge, die es uns ermöglichen, sowohl das Verhalten reiner Substanzen als auch das Verhalten von Mischungen zu verstehen.
Schlüsselideen
Eine reine Substanz zeigt die Tendenz, die Phase mit dem niedrigsten chemischen Potenzial anzunehmen.
Voraussetzungen
Die Tatsache, dass die Freie Enthalpie eine Aussage über die Freiwilligkeit einer Umwandlung bei konstantem Druck und konstanter Temperatur ermöglicht (Abschn. 3.4), bildet die Grundlage der Diskussion in diesem Abschnitt.
Die physikalischen Zustandsänderungen einer Substanz lassen sich besonders knapp und übersichtlich in einem Phasendiagramm darstellen. Die folgenden Erläuterungen sind die Grundlage der Diskussion von Mischungen in Fokus 5.
4.1.1 Die Stabilität von Phasen
Die Thermodynamik gibt uns sehr mächtige Begriffe an die Hand, um die Stabilitäten von Phasen und ihre Umwandlungen zu beschreiben und zu verstehen, aber um sie sinnvoll einsetzen zu können, müssen wir die Begriffe zuerst sorgfältig definieren. Insbesondere ist es nötig, die Begriffe „Phase“, „Komponente“ und „Freiheitsgrad“ zu verstehen.
(a) Die Zahl der Phasen
Materie mit homogener chemischer Zusammensetzung und räumlich konstantem physikalischem Zustand nennt man eine Phase des betreffenden Stoffs. Es gibt feste (Symbol „s“), flüssige (Symbol „l“) und gasförmige Phasen (Symbol „g“); für einen Stoff können auch verschiedene feste Phasen existieren, etwa das weiße und das schwarze Allotrop von Phosphor oder die Polymorphe Calcit und Aragonit bei Calciumcarbonat.
Hinweis Als Allotrop bezeichnen wir eine bestimmte Molekülform eines Elements (wie z. B. Sauerstoff, O2, und Ozon, O3); dabei kann es sich um einen Feststoff, eine Flüssigkeit oder ein Gas handeln. Ein Polymorph ist eine bestimmte feste Phase eines Elements oder einer Verbindung.
Die Anzahl der Phasen in einem System bezeichnen wir mit P. Ein Gas oder eine Gasmischung besteht aus einer einzigen Phase (P = 1), auch ein Kristall oder zwei vollständig mischbare Flüssigkeiten bilden eine Phase.
Illustration 4.1
Eine Lösung von Natriumchlorid in Wasser bildet eine einzige Phase (P = 1). Eis ist eine Phase (P = 1), auch wenn es in kleine Splitter zerteilt ist. Schneematsch allerdings ist ein Gemisch aus fein verteilten Eisstückchen und Wasser; dieses System besteht aus zwei Phasen (P = 2), auch wenn man die Phasengrenzfläche nicht auf den ersten Blick erkennt. Calciumcarbonat kann sich entsprechend CaCO3 (s) → CaO (s) + CO2 (g) thermisch zersetzen; ein System, in dem dieser Vorgang abläuft, besteht aus zwei festen (Calciumcarbonat und Calciumoxid) und einer gasförmigen Phase (Kohlendioxid); also ist P = 3.
Eine Legierung zweier Metalle ist ein Zweiphasensystem (P = 2), wenn sich die Metalle nicht miteinander mischen; sind sie jedoch vollständig mischbar, liegt nur eine Phase (P = 1) vor. Dieses Beispiel zeigt, dass die Entscheidung, aus wie vielen Phasen ein System besteht, nicht immer ganz einfach zu treffen ist. Eine Lösung (eine homogene Mischung) zweier fester Stoffe A und B ist auch auf mikroskopischer Ebene räumlich homogen: Atome von A sind jeweils von Atomen A und B umgeben, und jede noch so kleine entnommene Menge spiegelt genau die Zusammensetzung der gesamten Probe wider. Es handelt sich daher um eine einzige Phase.
Eine Dispersion ist – makroskopisch gesehen – ebenfalls ein homogenes System; sieht man auf mikroskopischer Ebene jedoch genauer hin, stellt man fest, dass in Wirklichkeit Körnchen oder Tropfen der einen Substanz eingebettet in eine Matrix der anderen Substanz vorliegen. Wenn man nun eine sehr kleine Probe entnimmt, kann diese zufällig nur kleine Tröpfchen von A enthalten; die Zusammensetzung des Gesamtsystems wird nicht korrekt wiedergegeben (Abb. 4.1). Solche Dispersionen bestehen daher aus zwei Phasen.
Abb. 4.1 Die Unterscheidung zwischen (a) einer einphasigen Lösung, deren Zusammensetzung auch auf mikroskopischer Ebene homogen ist, und (b) einer Dispersion, bei der Teilchen einer Phase in eine Matrix der anderen Phase eingebettet sind.
(b) Phasenübergänge
Ein Phasenübergang ist die spontane Umwandlung einer Phase in eine andere; er findet bei gegebenem Druck bei einer charakteristischen Temperatur, der Phasenübergangstemperatur TTrans, statt. Am Punkt der Phasenübergangstemperatur befinden sich beide Phasen im Gleichgewicht und die Freie Enthalpie erreicht beim gegebenen Druck ein Minimum.
Illustration 4.2
Bei einem Druck von 1 atm ist Eis die stabile Phase von Wasser unterhalb von 0 °C, aber oberhalb von 0 °C ist flüssiges Wasser stabiler. Dies zeigt, dass die Freie Enthalpie beim Phasenübergang von flüssigem Wasser zu Eis unterhalb von 0 °C abnimmt, wohingegen oberhalb von 0 °C die Freie Enthalpie abnimmt, wenn Eis zu flüssigem Wasser schmilzt. Die entsprechenden Werte für die Freie Enthalpie dieses Phasenübergangs finden Sie in Illustration 4.3.
Die Erkennung eines Phasenübergangs ist nicht immer so einfach wie bei einem Topf mit kochendem Wasser; hierfür wurden spezielle Methoden entwickelt. Eine davon ist die thermische Analyse, die sich die bei jedem Phasenübergang aufgenommene oder abgegebene Wärme zunutze macht. Ist der Phasenübergang exotherm, verrät er sich dadurch, dass die Temperatur einer Probe sich an einem bestimmten Punkt nicht verringert, obwohl der Probe Wärme entnommen wird (Abb. 4.2). Wenn der Phasenübergang hingegen endotherm ist, beobachtet man bei der Übergangstemperatur, dass sich die Temperatur der Probe trotz kontinuierlich zugeführter Wärme vorübergehend nicht mehr erhöht. Auch die dynamische Differenzialkalorimetrie (Abschn. 2.3) wird zur Erkennung von Phasenübergängen eingesetzt. Thermische Untersuchungsmethoden sind vor allem für fest/fest‐Übergänge wichtig, bei denen man allein durch Beobachtung der Probe nicht viel erkennen kann. Auch die Röntgenbeugung (Abschn. 15.2) kann häufig einen fest/fest‐Übergang verraten, da die beiden Phasen unterschiedliche Strukturen besitzen.
Abb. 4.2 Eine Abkühlungskurve bei konstantem Druck. Das Plateau entspricht der Zeit, während der das System sich nicht weiter abkühlt, weil ein exothermer Phasenübergang erster Ordnung (Erstarren) stattfindet. Anhand dieses Plateaus kann man TSm identifizieren, auch wenn der Übergang visuell nicht beobachtbar ist.
Wie immer müssen wir auch bei der Diskussion von Phasenübergängen sorgfältig zwischen der Thermodynamik und der Kinetik (der Geschwindigkeit) von Prozessen unterscheiden: Ein Übergang, der thermodynamisch freiwillig verlaufen sollte, kann sehr langsam vonstatten gehen und daher keine praktische Bedeutung besitzen. So ist bei normaler Temperatur und normalem Druck die molare Freie Enthalpie von Graphit niedriger als die von Diamant